“Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern von der Schale zu unterscheiden wie beim Christentum.”
Arthur Schopenhauer
Heute ist das einigermaßen unvorstellbar, aber es gab einmal eine Zeit, da war die Kirche in Sachen zeitgenössischer Kunst und Architektur ganz vorne mit dabei. Da wurde sich gegenseitig überboten in Sachen Größe und Machbarkeit, und für die Innenraumgestaltung wurden Künstler der allerobersten Liga angestellt. Man kann nicht abstreiten, daß dabei einige ganz wundervolle Bauwerke entstanden sind. Der Dom von Siena beispielsweise.
Das ist ein riesiger steingewordener Horror Vacui. Die Fassade allein ist schon ein fiigranes, pastelliges Zuckerwerk. Dann ein schwarz-weiß gestreifter Innenraum, die Gewölbe mit einem Sternenhimmel ausgemalt, die Gewölberippen konstrastierend bunt, über der Vierung eine oktogonale Kuppel mit goldglänzenden Sternen. Man kann sich kaum vorstellen, welche Wirkung ein solcher Bau damals auf die Menschen hatte. Mein heutiger Blick jedenfalls ist ein kunsthistorischer: Ich sehe Form, ich erfreue mich an der Form, aber mir sagt der Inhalt nichts. Er ist ein Dechiffrierspiel um mythologische Kenntnisse.
Den Rest kann man nachlesen: Ungefähr vierzig Künstler haben zweihundert Jahre lang an den 56 Bodenmosaiken gearbeitet. Teilweise wurden die Linien gebohrt und mit schwarz gefärbtem Mörtel gefüllt, teils als Einlegearbeit ausgeführt. Einige sind schwarz-weiß, bei anderen sind kontrastierende Elemente in farbigem Marmor eingesetzt. Die Mosaiken sind, auch nach modernen Maßstäben, unfassbar gut: Gut gezeichnet, gut komponiert, sauber ausgeführt. Gezeigt werden biblische Motive, und die Darstellung läßt es, wo nötig, auch nicht an Drastik fehlen.
Eine Drastik, die heute kaum denkbar wäre. Kirche und Kunst haben sich nach einer langen Beziehung entfremdet wie ein Paar, das sich nichts mehr zu sagen hat. In den Gemeindezentren Deutschlands hängen Naturbildchen mit Sprüchlein darunter und Mundgeklöppeltes aus Schwellenländern. In den Kirchen hängt, was übrig ist. Was neu dazukommt, ist meistens Deformiertes aus Bronze, das formensprachlich irgendwo in den Fünfzigerjahren herumlaviert. Nein, moderne Kirchenästhetik ist kein schöner Anblick. Das äußert sich auch im modernen Sakralbau: Wenn Kirchen nicht alt sind, sind sie allermeistens häßlich – in mehr Stadtvierteln als einem lieb ist stehen diese skelettierten Ungetüme und sind so hoch, daß man sie nicht einmal übersehen kann. Wie kommt es zu solchen Klötzen? Warum geht das meistens so entsetzlich schief? Kann man sich in so einem Ding überhaupt einigermaßen wohlfühlen? Können Menschen dort allen Ernstes zur Ruhe kommen, anstatt zu schreien angesichts des puren Betonbrutalismus? Einer Bauweise, die sich darauf verläßt, daß es der Glauben schon irgendwie alles richtet und selbst nichts beizutragen hat?
Darauf haben sich die alten Kirchen nie verlassen, jeder Quadratzentimeter war Überzeugungsarbeit. Bilder und Putten, Statuen und Strahlenkränze, Inschriften und Goldglanz: Man zeigt, was man hat, und was jeder zu erwarten hat, der sich darauf einläßt. Und was die erwartet, die sich abwenden, das zeigt man auch, man war da nicht zimperlich und pflegte ein Wechselspiel aus Verführung und Strafe. Die alten Kirchen sind aber trotz aller Kunstschätze kein Museum, sie sind auch belebt, Generation für Generation von Gläubigen hinterläßt ihre Spuren und fügt Zeittypisches hinzu. Es ist Platz für Persönliches, es gibt Nischen und Ecken, in denen Bilder hängen, Dankesgaben, Geschichten. Und so hängt der Motorradhelm eines dankbaren Geretteten gleich neben Meilensteinen der Kunstgeschichte.
Es ist das Leben von heute neben der Kunst von gestern, das diesen geradezu rührenden Gegensatz ergibt. Rührend, weil die Vergangenheit so riesig und die Gegenwart so klein scheint. Aber eigentlich warte ich darauf, daß mich die Kirche wieder einmal mit etwas Schönem überrascht, so wie in Siena. Daß sie mich fordert und herausfordert mit etwas, womit keiner gerechnet hat. Das Domfenster von Gerhard Richter war ja schon ein Anfang.