Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte
Sie kennen das vermutlich von der Werbung, die Ihnen im Netz aufgezwungen wird: Sie haben Interesse an einem Sachverhalt, und irgendein Programm sucht dazu eine Botschaft aus, die zum Kaufe anregen soll. Das nennt man normalerweise kontextsensitiv oder auch kontextidiotisch, so wie mir heute Messer aus Solingen empfohlen wurden, als ich wegen einer Messerstecherei recherchierte: Einserseits habe ich schon Besteck aus drei Jahrhunderten im Übefluss, andererseits pflege ich damit auch nicht lebende Wesen zu malträtieren – ich bin Vegetarier, und um am Ufer des Tegernsees Bärlauch zu zupfen, reichen meine Hände aus.
Solche absurden Momente jedoch bietet die Werbung, die gemeinhin auf Massengeschmäcker zugeschnitten ist, auch im realen Leben, wenn sie auf nicht alltägliche Situationen trifft, und man kann das ja offen zugeben, dass eine Region wie der Tegernsee nur dann normal ist, wenn man dort lebt. Gemessen an den durchschnittlichen Zuständen in diesem Land sind die hiesigen Umstände ein gelebter Ausnahmezustand. Wir hatten gestern etwa Hausbesitzerverammlung, und dort wurde wegen einiger Zigarettenkippen debattiert. Lesen Sie bitte zum Realitätsabgleich Katrin Rönicke, dann verstehen Sie die Unterschiede. Aber wie es nun mal so ist: Unsere eigene Vorstellung der hiesigen Zustände und derjenigen, die man sich dank Werbung imaginiert, ist nochmal weitaus grösser als der Abstand von Berlin zum Leeberg. Nämlich so:
Die meisten Plakatwände haben wir im Tal ausgerottet und ich vermute, dass auch diese Tafel dereinst fallen wird, denn sie ist einer famosen Aussicht im Weg. Was wir darauf sehen, scheint bei der grossen Allgemeinheit zu wirken, denn tatsächlich versenken viele wider Wissenschaft und besseren Wissens ihre Groschen im Glücksspiel. Mit System. Nun. Was wir hier sehen, ist vermutlich eine Photomontage eines barocken Prunksaales mit Kronleuchtern, in dem jemand Golf spielt. Wer selbst mit Denkmalschutz zu tun hat, lernt mitunter die Leute kennen, die wirklich mit solchen Immobilien geschlagen sind. Aus dieser Erfahrung heraus weiss ich, dass sie schlichtweg nur froh sind, wenn dann erst mal alles sauber restauriert und frisch vergoldet ist, und sie ihren Besitz wegen geplünderter Konten nicht an die Chinesen und Russen verkaufen müssen. So etwas baute man früher, als die Mehrheit des Volkes noch tributpflichtig war und ein Zimmermädchen weniger als eine Tasse Schokolade kostete. Heute sind schon weitaus kleinere Objekte so teuer, dass sich die Besitzer mit Hochzeiten, Hotelflügeln und Restaurants herumschlagen müssen.
Und niemand – ich sage das aus der Erfahrung eines Menschen, der schon einige Kronleuchter gerettet und zu neuem Glanz gebracht hat – würde in so einem Raum einen Golfschläger in die Hand nehmen. Man bekommt bei kleineren venezianischen Lüstern schon einen Herzkaschperl, wenn Kinder sich darunter Stoffpuppen zuwerfen. Kein Mensch tut so etwas mit einem Golfschläger. Kein Mensch könnte sich so etwas bei uns leisten, ohne den Respekt seiner Mitmenschen zu verlieren. Man lernt im gehobenen Wohnumfeld sehr schnell, wie man sich zu verhalten hat, und zwar schon als Kind. Ich könnte nun in eine Debatte abdriften, warum zum Teufel Eltern heute meinen, dass eine Wohnung kindgerecht zu sein hat, wo wir doch an unseren Platz an der Sonne kamen, indem wir jedes Kind zur Schadensvermeidung wohnungsgerecht gezüchtet haben und zum Spielen halt in den Schlossgraben zu den anderen Schweinen schickten – Ludwig XIV. hat das ja auch nicht geschadet. Aber das heben wir uns für den Tag auf, da wir mal wieder über androkozotische – schreibt man das so? – Kindergärten und Eltern reden. Ich würde nun gern auf den Kontext zu sprechen kommen, in dem solche Phantasien gezeigt werden.
Das ist eines der teuersten Fleckerl dieses Landes, der Leeberg am Malerwinkel zwischen Tegernsee und Rottach. Die Menschen, die sich eventuell so ein Verhalten leisten könnten: Die leben hier. Manchmal. Die meisten leben nicht dauernd hier, das ist nur ein möglicher Wohnsitz unter mehreren. Man mag das vielleicht ungerecht finden, dass wenigen so Vieles und vielen gar nichts ausser eben Lotto vorbehalten ist, aber ich denke, dass der Vergleich zwischen der gelebten Realität und der Werbung doch einiges aussagt: Darüber, wie sich Reichtum äussert, und was die Gewinner im Lotto bestenfalls erwarten würde. Die Werbung lügt, das ist nicht neu, aber in diesem Fall diffamiert sie auch. Es gibt auch hier am See krasse Formen von Verschwendung, es gibt Fettabsauger und Kurpfuscher und ganzheitliche Medizin, es gibt Leute, die Falten hintertackern und andere, die das Elend dann teuer einkleiden. Aber das alles spielt sich letztlich hinter holzverkleideten Wänden und kleinen Fenstern mit grünen Läden ab, die Decken sind oft niedrig und für die Grandezza trifft man sich im Barocksaal des Schlosses, das nebenan steht. Ohne Golfschläger.
Nun wissen wir natürlich, dass die anderen niemals, egal wie viel sie im Lotto gewinnen, aus praktischen Erwägungen nie mit einem Schläger in den Saal kommen, sondern sich bestenfalls von einem Makler in Dubai leimen lassen könnten. Wir wissen, dass Luxus bedeutet, gesund genau hier zu sein und keinen Zwang zu empfinden, etwas tun zu müssen, Herr über die eigene Zeit zu sein und die Aussicht zu haben, dass es genau so bleiben wird. Sol lucet omnibus, sofern sie da sind und das geniessen können. Aber was mich hier in dieser ansonsten elysischen Empfindsamkeit durchaus stört, ist der Gedanke, dass andere wirklich solche schlägerschwingenden Vorstellungen haben könnten: „Wenn ich mal genug Kohle habe, dresche ich Bälle durchs barocke Anwesen, dass es nur so kracht.“ Es könnte doch sein, dass die wirklich so denken und nicht mit dem bescheidenen Ausblick zufrieden sind, den man an dieser Stelle still und demütig geniessen darf.
Ob deren Frauen dann, wenn man sie einlädt, auch aufpassen, dass sie ihre Pfennigabsätze nicht rücksichtslos in den Seidenteppich treiben, sondern bitte daneben stehen und dann bewegungslos auch die Abnutzung des Parketts verzichten? Weiss man, ob das Nymphenburger Porzellan, das man ihnen serviert, nicht schleunigst entsorgt werden würde, um mit spülmaschinenfester Gebrauchskeramik ersetzt zu werden? Wir haben es hier mit einer Gesellschaft zu tun, die das alte Herkommen und die Verantwortung vor der Geschichte nicht zu würdigen weiss: Über was redet man mit denen? Die eigene Familiengeschichte wird man ihnen wohl kaum anvertrauen wollen.
Früher unter Metternich hätte man den Armen schlichtweg keine derartigen Hoffnungen gemacht. Wer konnte schon wissen, ob er den nächsten Winter mit Typhus überlebt? Da hatten die Armen noch ganz andere Sorgen. Heute kommen sie hierher. Sie sehen in alten Villen ein Konzept von Reichtum, das es gibt und das sich als nachhaltig erwiesen hat, und eines, das einen auch mit Lottomillionen von Federn auf Stroh bringen wird. Das eine ist die Realität, in der sie keinen Platz haben, und das andere das, was sie finanzieren. Man muss sich das auch mal so vorstellen: Auf diesem Plakat wird der Nichtvermögende als Parvenü präsentiert. Es gäbe vermutlich einen Aufschrei, wenn unsereins diese Leute hier so diffamieren würde, es gäbe einen Brennpunkt, würden wir Geld für eine Plakataktion sammeln, die solche Vorurteile bundesweit perpetuiert.
Die Lottogesellschaft macht das einfach so mit dem Geld der Nichtbesitzenden, denen doch klar sein müsste, dass ihr Geld an vielen Orten landet – sie aber ganz sicher nicht als Kulturschädling mit Golfschläger in der Barockgalerie. So sind sie nur in unseren Vorurteilen, und kommen auch selbst dafür auf, dass sie darin genau so bleiben. Wir wollten hier nur brav und still in der Sonne liegen, und gar nicht an sie denken. Die haben angefangen. Wir sollten mal über Sondersteuern für Lottospieler reden.