Das ist ein Ernstfall. Das ist keine Übung.
200 Euro. Das sind 400 Mark. Das ist das, was ein Bekannter, nennen wir ihn Paul, an einem Tag ausgegeben hat. 80 Euro für den Eintritt in das Spassbad für die vierköpfige Familie, 80 Euro für Essen, Trinken und Eis, 30 Euro für Wellness und zehn Euro für den Parkplatz. Paul tut etwas für seine Familie, aber will er, wie die Kinder das gern hätten, einmal pro Woche ins Spassbad gehen, wird das teuer. Aber so ist das bei Leuten, die keinen Tegernsee in Laufnähe haben. Sie müssen erst fünf Tage arbeiten und dann ins Spassbad mit all den schönen, aufregenden Wasserrutschen. Und dann wieder arbeiten, um das alles zu bezahlen. Armer Paul.
Das Spassbad gab es auch in meiner Kindheit schon. Es nannte sich Alpamare, lag in Bad Tölz, einem grausligen Ort, der sich zum nebenan liegenden Tegernsee verhält wie die Amadeu Antonio Stiftung unter der Ex-Stasi-IM Kahane zu einem echten Rechtsstaat, und war Deutschlands erstes Erlebnisbad mit Wellen und Rutschen nach amerikanischem Vorbild. Da sind wir auch ab und zu hingefahren. Das galt als etwas Besonderes. Eine Sensation. Inzwischen gibt es solche Bäder überall, und das Alpamare wird rückgebaut wie ein Atomreaktor. Aber damals hatte es eine Wellenmaschine. Das war bis dahin unbekannt und aufregend und obendrein auch teuer. Ausserdem fuhr man von der Donau aus zwei Stunden, was mit unzufriedenen, gelangweilten Sindwirbalddahaaa-Kindern in der Epoche vor dem mobilen Gewaltfilmabspielgerät sehr lang und ungemütlich werden konnte.
Ausserdem hatten weder wir noch irgendwelche anderen Familien der Stadt einen “Geldscheisser“, wie man das in Bayern so schön umschreibt, und die Eltern meinten auch nicht, dass sie sich zuerst “as Mei ans Diescheck“ hauen und später von “Federn auf Stroh“ kommen sollten, weil die Kinder überzogene Erwartungen an Wasserrutschen im fernen Bad Tölz hatten. Die schlechteren Kreise der Stadt setzten damals – es gab nur drei TV-Programme und auch die nicht den ganzen Tag – den Nachwuchs vor die Tür und wiesen ihm den Weg zu den Dreckbergen. Dreckberg, so hiess das damals, weil vom schlammigen Aushub für neue Häuser ein Berg geblieben war. Der Dreckberg kostete gar nichts. Wir dagegen, die Jeunesse Doree der Stadt, die Kinder der lokalen Plutokratie, wir mussten natürlich nicht allein auf dem Dreckberg spielen. Wir durften rutschen. Unter elterlicher Aufsicht. In Hütting im Wellheimer Trockental.
Das Wellheimer Trockental verdankt seine erdgeschichtlich sehr junge Entstehung der Urdonau, die hier früher ein Tal ausräumte, und es sich dann in ihrem jetzigen Bett weiter südlich bequem machte. So blieb eine Tallandschaft ohne Bach übrig, an deren Rändern sich Formationen aus dem Erdzeitalter des Jura erheben. Das weiche Erdreich hat die Urdonau weggeschwemmt, die verkalkten Riffe aus der Dinosaurierzeit, als hier eine tropische Bucht eines Urmeers lag, blieben stehen. Natürlich ist so ein Trockental der schlechtest denkbare Ort für eine Wasserrutsche, aber dafür war es leicht und günstig erreichbar. Diese Bilder habe ich letztes Wochenende gemacht – ich bin dorthin geradelt. 70 Kilometer hin und zurück, das geht, im Vergleich zu den 300, die eine Reise nach Bad Tölz bedeutet.
Es gibt dort auch heute keine Wasserrutsche, aber links, auf dem Felsen, erkennt man eine Burgruine. Das ist die Burg Hütting. Sie ist geschichtlich völlig bedeutungslos und wurde im 15. Jahrhundert bei einem der endlosen Kriege der bayerischen Teilherzogtümer nicht gegen eine Wasserrutsche oder ein Erlebnisbad oder einer Avort Ayräd Arianism Ajvar(?)massage eingetauscht, sondern niedergebrannt. Das ist schon immer eine recht raue Gegend gewesen, und gehört zum Landkreis Neuburg an der Donau, was sich zu meiner Heimatstadt verhalt wie Heiko Maas zu einem Mann von Ehre. Also wie auch immer, die Burg ist eine Ruine, und auch ein ganzes Schock Kinder der besseren Kreise kann dort oben nichts mehr kaputt machen.
Solange es um die historische Bausubstanz geht.
Aber rechts und links von der Burg sind auch noch Wiesen.
Sehr steile Wiesen.
Genau genommen sind sie so steil, dass man hier sehr schön einen Kleinen Uhu der Marke Graupner mit Zeitschaltuhr fliegen lassen könnte. Aber das hat die Mädchen nicht interessiert. Meiner Schwester wurde das von meinen fortschrittlichen Eltern angeboten, aber sie wollte Barbiepuppen und ein Pferd. Da ist man also oben an der Burg an einem steilen Hang, unten im Trockental funkeln der hellblaue BMW, die dunkelgrüne S-Klasse, der zitronengelbe 911er Targa und das nagelneue Audi Coupe in Silber um die Wette. Und es muss für alle Kinder lustig sein.
Sie, liebe Leser, haben nun die Gelegenheit, den Browser zu schliessen und sich den Teil zu ersparen, der heute den Jugendschutz auf den Plan rufen würde.
Da stehen also Eltern mit ihren Kindern an einem Steilhang. Und sie haben etwas mitgebracht. Linoleum. Schnödes, billiges Linoleum, das bei Bauarbeiten übrig geblieben war. Legt man das Linoleum auf die Wiese, passiert gar nichts. Setzt man sich drauf, passiert auch nichts.
Aber wenn man drauf sitzt – am besten zu zweit, denn dann ist die kritische Masse grösser – und ein Erwachsener schiebt von hinten richtig fest an, überwindet das Linoleum die Reibungsgrenze des Grases. Das geht nur bei wirklich sehr steilen Hängen, aber wenn die Fuhre erst einmal in Bewegung ist, lässt die Reibung schlagartig nach, und die Erdbeschleunigung setzt ein. Die Faust Gottes packt einen und wirft das schreiende, grölende Kinderlinoleumpaket in die Tiefe.
Die Bauernhöfe, die unvermittelt am Ende des Abhangs stehen, standen auch schon früher dort. Ich vermute, dass man mit Händen und Füssen kontrolliert bremsen kann, aber das wäre ja langweilig. Wir warfen uns kurz vor dem Einschlag einfach auf die Seite, überschlugen uns ein paar mal und blieben lachend liegen. Dann packten wir das Linoleum, rannten nach oben und so ging das weiter, bis doch mal jemand in einen Stall krachte und heulte. Dann ging es zur Gaststätte “Zur alten Burg“, die es heute noch gibt, und es gab Johannesbeersaft und Pommes. Es gab keine Liste möglicherweise allergener Stoffe auf der Speisekarte– wir sind trotzdem nicht gestorben. Normalerweise waren wir gedrillt, uns vor dem Essen die Hände zu wachen, aber wenn man zehn, zwanzig mal den steilen Burgberg hinunter gepurzelt ist, ist das auch egal.
Es gab natürlich keine Helme, keine Knieschützer, keine Handschuhe und unten keine Strohballen vor den Mauern. Es gab nur Gras, Linoleum. Schwerkraft und einen kräftigen Schubs. Die besseren Kreise waren der Ansicht, dass es ein Guter aushält und um einen Schlechten ist es nicht schade. Und die Behandlungsmethode für Schrammen, Blutergüsse und grüne, blaue und später violett schimmernde Flecken wurden mit den Zauberworten “Es ist von selber gekommen, es wird von selber gehen“ fachgerecht verbunden, desinfiziert und ansonsten für bedeutungslos erklärt. Es war eine Mordsgaudi, es war brandgefährlich, heute käme der Jugendschutz, aber wir waren jederzeit bereit, das Linoleum aus dem Keller zu zerren und uns ins Auto zu setzen. Und unsere Eltern gaben uns auf dem Weg hinunter die Überzeugung mit, dass es keinen falschen Zeitpunkt gibt, um das Leben in die eigene Hand und auf den erdverschmierten Hosenboden zu nehmen. Manche modernen Eltern zögern, ihre Kinder aus der Hand zu geben. Unsere gaben uns einen Schubs. Nachkriegsgeneration halt. Männer aus einer Epoche ohne Tempolimit und vielen Löchern im Auspuff der Sachs oder Norton. Frauen, die sich emanzipiert hatten und dachten, dass 100 gesparte Mark die paar blauen Flecke aufwogen, die ohnehin keiner spürte. Hauptsache schnell.
Wie dann der Heimweg mit den teilweise bergrennerprobten Vätern am Steuer war, das wollen Sie gar nicht wissen, wenn Sie ein paar schöne Illusionen der besseren Kreise und ihrer gesitteten Ethik und Würde behalten wollen. Kavaliere der Strasse. Aber Raubritter der Landstrasse. Über den Umstand, dass die drohende Gurtpflicht Teufelszeug war, waren sich ohnehin alle einig. Wer seine Kinder den Schlossberg hinunter schubst, braucht doch keinen Gurt. Nur etwas Gottvertrauen.
So war das bei uns. Lustig, schnell, gefährlich und kostenlos. Mit den blauen Flecken konnte man in der Schule prima angeben, denn wir hatten sie immer aus Hütting und nicht wie die anderen Schichten von Schlägen. Das waren Edelflecke. Heute würde man da vermutlich die Hand nicht umdrehen, als schlimm gälte beides, und vor einiger Zeit gab es mal bei einer Sommerrodelbahn beim Tegernsee einen Unfall mit ein paar Kratzern. Das war wochenlang Thema, da kam der TÜV und die Versicherung und alle waren bestürzt, wie so etwas passieren kann. Kann da auch nichts passieren, fragen Mütter heute zaghaft, wenn die mit Sicherheitsbügeln ausgestatteten Wägen langsam zu Tale rutschen. Was übrigens auch nicht ganz billig ist – ob man nun wasserrutscht oder sommerrodelt, macht finanzdesaströs keinen Unterschied.
So ist das heute für all die Pauls und ihre vierköpfigen Familien. Kein Rad ohne Helm, kein Sonnentag ohne Mütze, und alle zehn Minuten trinken und desinfizieren. So entstehen dann Kinder, die sich erst bewegen, wenn es Pokemon Go und GS-zertifizierte Rutschen gibt. Und Trampoline mit Sicherheitsnetz und Eltern, die später beim Studium die Wohnung nur nieten können, statt sie zu kaufen, wie das bei uns üblich war. Es ist eine neue Welt, und sie wird nicht auf Linoleum und Gras errichtet, sondern in Spassbädern, während die Mutter dieses Ayudingsda macht. Dafür gibt es auch keine blauen Flecken und keine peinlichen Momente in der Sprechstunde, wenn der Verdacht aufkommt, ein Kind könnte nicht sorgsam genug geschützt worden sein. Solche Kinder brauchen dann später einen Therapeuten und werden nach dem Studium von Gender und Philosophie Mitarbeiter von Jugendschutz-NGOs, die darauf achten, dass es nirgendwo Verletzungen gibt, die man sehen könnte.
Hütting jedoch sieht immer noch so aus wie früher, es hat die schönsten Gartenzwergburgen erhalten, und der Burgberg wird für immer von unserem Mut und dem Schneid unserer Vorfahren künden.
Epilog:
Fazmann, wos schreibstn du heid, fragte mich mein türkischer Lebensmittelhändler. Wie wir mit Linoleum und unseren Eltern in Hütting den Berg runtergerast sind und was für Miesmuscheln moderne Eltern sein können, sagte ich. Seine Augen leuchteten: Dös homma mia ah imma gmochd, dös woa subba! Und wir lachten und und prahlten immer noch mit den blauen Flecken der schönen Jugend.