People have a nasty habit of getting dead around you.
Lieutenant Donnelly
Das Wort “lebenslang” hat nicht immer einen guten Beigeschmack: Lebenslang kann man im Gefängnis sitzen, lebenslang hat man es mit unerquicklichen schwarzen Familienschafen wie mir zu tun, lebenslang muss man sich mit den Begehrlichkeiten des Staates auseinandersetzen, der einen und seinen Besitz auch nach dem Tode noch besteuern will. Unangenehme Erscheinungen haben die unangenehme Eigenschaft, sehr langlebig zu sein, und sollten die Grünen da demnächst eine Ausnahme machen, gibt es genug andere Parteien, die die allgemeine Restlaufzeit mit neuen Gesetzesvorhaben auch nicht schöner gestalten. Gelegenheiten zum Aussterben vermeiden unangenehme Dinge mit einem phänomenalen Gespür für Anpassung. Würden sie das nicht tun, würden sie fraglos untergehen, und man könnte sie vergessen. Statt dessen muss man lebenslang an ihnen lernen, und wie das ist, das können Sie an Ihren bislang nicht ans Netz angeschlossenen Verwandten sehen, die nunmehr gezwungen werden sollen, ihren Beitrag zum Sehrunangenehm-, Perfide- und Gemeinwesen anderer mittels Internet, Computer und Finanzamtprogrammen festzustellen.
Es gibt, das gebe ich gern zu, einige Kritikpunkte am Umstand, dass manche sehr viel und andere sehr viele weniger besitzen. Ich finde da auch nicht alles gerecht, wenn es um Leute geht, die so reich sind, dass ich nie in die Gefahr komme, ihnen ähnlich zu werden. Der normale Mensch denkt vermutlich, das würde sich dann in grossen Wohnflächen und Optionen zur Freizeitgestaltung äussern, in legalen und illegalen Rauschmitteln und dem, was ihm Folgen von Derrick und Tatort so erzählen. Manches mag stimmen, manches ist überzeichnet, und manches kommt gar nicht vor, obwohl Reichtum fraglos eine wichtige Rolle bei der Nichtbewältigung von Veränderung spielt: Wer Vermögen hat, kann auf das lebenslange Lernen weitgehend verzichten.
Nehmen wir beispielsweise die Kunst. Wenn Sie über ein fundiertes Wissen über die europäische Kultur verfügen, und es ab und an durch Museumsbesuche an hübschen Orten auffrischen, und danach bei Tee und Torte im Museumscafe verdauen, sind Sie für alle Belange des Daseins gerüstet. Das Wissen darf im Laufe des 20. Jahrhunderts gern abflachen. Niemand wird einen schräg anschauen, wenn man die Karten für Alban Bergs Wozzeck verfallen lässt, der in immer neuen Inszenierungen auch so ein lebenslanges 12-Ton-Übel des erstarrten Opernrepertoires ist, wie so ein atonal blubberndes Schwefelloch am Fusse eines erloschenen Vulkans. Es ist nicht nur legitim, sondern sogar eine gewisse innere Haltung, nichttoten Kunsterschaffern und nochnichtsolangtoten Revolutionären mit einer gewissen Reserviertheit entgegen zu treten. Man hat im 20. Jahrhundert genug Leute gesehen, die meinten, man müsste Internetkunst oder Kunst auf Videobändern oder Kollagetechniken lernen: Die Erfahrung lehrt nun einmal, dass man bei Dürer die Vermögenden, bei Pollock deren das Falsche studierende Kinder und bei Hirst und seinen Pillenschränken sogar nur Russen und Chinesen erlebt. Also wirklich.
Mindestens so divers wie die Kultur ist auch jener Teil der Gesellschaft geworden, den man heute nicht mehr öffentlich als arm, sondern als sozial benachteiligt bezeichnen sollte – Armut ist ein Zustand, soziale Benachteiligung dagegen etwas, das anderen angetan wird, weshalb man auf die sozial Bevorzugten losgehen und sie diskriminieren darf. Das bleibt nicht bei Worten, wie ich von Medizinern und Anwälten erfahre: Früher war arm halt arm, vielleicht mitunter auch grob, aber gemeinhin duldsam gegen die Götter in Kittel und Robe. Früher hatte man nichts, wenn man arm war, heute ist Armut immerhin so konsumfähig, dass sie sich verschiedene Rollen der Armut heraussuchen kann, und viele davon sind nicht eben angenehmer Umgang. Manche lernen das offensichtlich aus Gangstervideos, andere aus Realityserien, oder sie lesen feministische Interviews bei Zeit Online: Heraus kommt nicht mehr eine Unterschicht, sondern viele, die unzufrieden sind und jeweils eine eigene Anspruchshaltung entwickeln, die der Staat allein mit mehr Zuwendungen nicht befriedigen kann.
Ich bekomme das nur am Rande mit, wenn gewisse Leute in der Disco die Strasse runter keinen Einlass bekommen, was manche vielleicht als Racial Profiling bezeichnen werden – es ist jedenfalls so, dass sie mittlerweile der Meinung sind, das Gitter an meinem Weinstock sei so eine Bar für selbstgepanschte Alkoholika, und sie hätten ein Recht, sich hier in der Nähe der anderen, die zum Rauchen draußen sind, zu berauschen. Es gibt Forderungen nach Quoten und Teilhabe, ein Wort, das nicht ganz zufällig aus dem Bereich der körperlichen Behinderung auf andere Gruppen – und zwar durchaus freiwillig – ausgeweitet wurde. Geht der Versuch an Teilhabe jenseits gesetzlich erwünschter Möglichkeiten in Streit über, müssen das dann die Notärzte ausbaden. Von denen kenne ich zwei Typen: Die einen wollen Kinder, damit die Welt nicht den anderen überlassen wird, die anderen wollen keine, weil sie diese erlebte Welt für unzumutbar halten. Von ihnen, aber auch von Kindergärtnerinnen, Lehrern, Krankenschwestern und Betreuern erwartet man, dass sie in der Lage sind, sich auf das einzustellen, was in Zeiten aufgeweichter sozialer Normen so entstanden ist. Aber die Benutzeroberfläche, die Vermögende zum Steuern des Rests präsentiert bekommen, vom Sanitärreiniger und Abgeordneten über das Kurpersonal und Bedienung bis zum Vermögensberater, ist dagegen immer noch so, wie das früher auch schon war. An den Umgangsformen, die ich als Kind erlernte, hat sich in meinem Lebensumfeld nicht das Geringste geändert, und die Nummer für die Lösung des Alkoholproblems mit Tätlichkeiten auf der Strasse ist immer noch 110.
Obwohl wir uns alle einig sind, dass unter und jenseits der uns bekannten Kontaktzone trotz Bereicherung und Umverteilung vieles unschön und schwierig geworden ist, werden wir nicht ebenfalls mit erleichterten Sozialvorschriften belohnt. Es wird bei unsereins immer mit dem Wort “Verantwortungsethik” geschaut, ob wir, die Verantwortlichen, auch wirklich ethisch sind. Das Amüsante an der Sache ist jedoch, dass Verantwortungslosigkeitsethik technisch gar nicht mehr möglich ist: Jeder Trachtenschneider zahlt übertariflich, kein Stromanbieter liefert noch 100% reines Atom, kein Metzger hat noch Fleisch aus der Slowakei im Angebot. Sogar die miesesten und zynischsten Multis tun etwas für den Regenwald und Arme in Afrika und die Verbesserung der Welt. Man müsste schon wirklich sehr weit abseits des für Vermögende zumutbaren Lebensumfeldes aktiv werden, um Firmen zu finden, die einem kein gutes Gefühl geben und ihre Schattenseiten verschweigen wollen.
Ich mein, ernsthaft, versuchen Sie mal, heute wie Ihre Vorfahren noch eine neue Silberkanne aus Material zu bekommen, das Sklaven abbauen mussten. Früher war das gar nicht anders möglich, heute müssen sie dafür alte Exemplare kaufen. Oder geschliffenen Marmor, für den sich wirklich ein Arbeiter tothustete: Das geht in dem Segment, in dem wir uns bewegen, gar nicht mehr. Wir dürfen unsere Verantwortungsethik nicht mehr mit dem Ochsenziemer gegenüber Knechten ausleben und wir können es auch nicht indirekt tun, weil es unschicklich ist. Spätestens seit der weitgehenden Vernichtung des Perserteppichgeschäfts wegen der bei uns verrufenen Kinderarbeit hat alles ein weissgebleichtes Gewissen. Nur Kinder ärmerer Leute müssen nicht wissen, was die ökologischen Folgen von Chicken Wings und Fischstäbchen zeitigen. Uns wird die regionale, nachhaltige Küche fast schon aufgezwungen. Für Vermögende gibt es längst eine Art Autopilot zum richtigen Verhalten. Vorgestern etwa wurde ich beim Blumenkauf nachgerade in Richtung heimisch und saisonal statt importiert und eingeflogen gedrückt, mit dem Hinweis, dass die Beschenkte das sicher so möchte. Was sie übrigens auch tat. Ich verschwende nur dann Gedanken an die Ethik, wenn es mir dazu dient, andere nicht so Ethische zu diskriminieren und vorzuführen – der Rest geschieht automatisch, weil es heute eben so verpflichtend ist, wie das Tragen eines Hutes vor 100 Jahren oder die Rolle der Frau in Afghanistan.
Man denkt da nicht drüber nach, man macht es einfach. Man lernt natürlich nicht dazu, denn würde man lernen, würde man die abscheulichen Industrieböden und Laminate verbieten und jeden, der es sich halbwegs leisten kann, zu Perserteppichen verdammen, um Fluchtursachen und Armut zu bekämpfen. Bei den hier noch nicht so lange Lebenden würde man Intarsienarbeiten und Majolika in Auftrag geben, und Billyregale und Pressglas verbieten, aber es ist halt, wie es ist, und ich brauche nichts mehr, meine Ingwertöpfe sind leider schon da, und auch etwas älter aus chinesischer Sklavenarbeit der Ming-Epoche. Ich sage, wie es ist: Die Zeiten ändern sich, aber das heisst nicht, dass alle gleich viel lernen müssen. Der Nachfahr des chinesischem Sklaven baut heute, solange seine Finger noch mitkommen, das technische Gerät, das jene überfordert, die beim Bildungswettlauf versagen. Frauen haben Berufe erlernt und müssen jetzt lernen, gegen Männer zu bestehen. Manche denken, das Erlernen von Vorschulmandarin durch Kinder ist gut, um gegen die Nachfahren der Vasenmaler zu bestehen.
Aber ich sage Ihnen: Reich geboren werden ist besser. Wirklich. Das sagt jeder, der es schon einmal gemacht hat, und es erleichtert die Sache ungemein. Das muss man nicht lernen, das verteht man von selbst.