My milkshake brings all the boys to the Yard and they’re like, it’s better than yours
Kelis, Milkshake
In meinem langen Leben habe ich viele interessante Gesprächspartner her erleben dürfen, vom polnischen Partisanen bis zum artifiziellen Hagestolz, der tanzend und singend einen Mordaufruf gegen einen Kanzler verbreitete, und es Kunst nannte – Ironie des Schicksals: Der Kanzler hat ihn überlebt. Weit, sehr weit oben in der Rangliste dieser interessanten Menschen steht eine Frau, die sexuelle Wünsche anderer Leute mit der Erfüllung ihrer eigenen finanziellen Wünsche verbindet, und aus diesem nicht ganz undelikaten Grunde auch berichten kann, welche Wünsche da bis ins hohe Alter vorgetragen werden. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber es erscheint mir als gegeben, dass angesichts der Bereitschaft, hohe Preise für besondere Leidenschaften zu bezahlen, der Sex des Alters zuallererst einmal Sex ist, in diversen Spielformen. Und danach erst Essen. Oder was immer andere denken, es könnte der Sex der Alters sein.
Wie auch immer, alt ist man vermutlich, wenn man wie ich ein Stück Marillenkuchen als Bild ins Internet stellt, und darauf warten kann, dass jemand darin einen Ausdruck von “Sex des Alters” erkennt. Das ist ein schönes Beispiel für den Niedergang der Sitten, denn in den Zeiten, da ich erzogen wurde -”erzogen” ist das Gegenteil von dem, was heute in Kitas und Berliner Schulen an Kindern verbrochen wird – in diesen Zeiten wäre niemand auf die Idee gekommen, andere auf ihre sexuellen Vorlieben anzusprechen. Vor allem nicht ältere Menschen, denen man mit Respekt begegnete. Ich beispielsweise kenne auch viele junge Frauen im Internet, die den Nutzer exzessiv mit ihren Yogaerlebnissen oder der Befürwortung von “Fett in Leggins” konfrontieren, ohne sich je über Geschlechtspartner zu äussern. Ich käme nie auf die Idee zu sagen, Yoga und Fett in Leggins seien halt der Sex der jungen Frauen, noch nicht einmal nach dem Zuckervollrausch von 4 Stück Torte im Cafe Prenn zu Sterzing. Wie ich übrigens feststellen musste, hat Prenn gerade Betriebsurlaub – ich käme also nicht nur nie auf die Idee, so etwas zu tun, sondern sogar nie nicht!
Auch sagt niemand zu jungen Menschen, die küssend auf der Parkbank sitzen, das sei wohl das Essen der Jugend. Und niemand macht sich Gedanken, dass Jugend etwas sehr Relatives ist – hat man die Restlaufzeit eines Menschen im Auge, kann es durchaus sein, dass schlecht gelaunte und prekär ernährte junge Frauen, die für alte, weisse Männer stets nur Spott übrig haben, schneller als dieselben ins Grab sinken. Diese Relation ist der Jugend nicht wirklich eingängig, aber wenn man älter wird, kennt man neben dem Wert der Gesundheit auch den Schatz des Überlebens und die lebensverkürzenden Statistiktücken der Sterbetabellen. Jung sein kann jeder, im hohen Alter dagegen darüber reden können, welche Form von Sex man bevorzugt – dazu muss man schon die ein oder andere Klippe des Daseins umschifft haben, und respektlose Sprüche sind da noch das kleinste Problem.
Die Frage nach dem Sex des Alters ist, das wurde mir am Wochenende bewusst, einfach eine Frage der sich ausweitenden Interessen. Denn am letzten Wochenende war das Wetter am Nordrand der Alpen katastrophal: Es gab einen Temperatursturz und Regen, der den am Tag zuvor befahrenen Pass fast in einen reissenden Fluss verwandelte. Ausserdem drohte am Tegernsee eine Invasion der Triathleten, die sich zu echten Radsportfreunden verhalten wie Yogamatten und Gewichtsakzeptanz in Leggins zu echtem Sex. Eigentlich war ein Sturm auf den Gipfel des Reutbergs geplant, der sich majestätisch 15 Meter über dem Moor bei Sachsenkam erhebt und eine grandiose Bayerisch-Cremetorte hat, aber so wurde das natürlich undenkbar. Ich fand mich also am Telephon wieder, und unterbreitete Männern, die noch viele zu überleben gedenken, den Vorschlag, die finanziellen Möglichkeiten des Alters mit der Abtötung des Fleisches zu verbinden: Mit dem Auto über den Brenner, nach Kloster Neustift bei Brixen, und dort auf einen der exzellent ausgebauten Radwege, die man bei Spiegel Online offensichtlich nicht kennt, weshalb man dort von vielen Italienerinnen und keinerlei Hamburger Kolleginnen ausgehen kann.
Und so kam es, dass wir zu dritt mit drei Rädern in den Kofferräumen von zwei Autos – eines davon ein Diesel von einer durch einen Skandal bekannten Marke – mit hoher Geschwindigkeit und Verbrauch über den Achenpass auf die Ellbögenstrecke gelangten, und dort von den obigen Herren in Rot aufgehalten wurden. Die Herren hatten Gewehre dabei, schossen in die Luft, und der Kommandant meldete dem Pfarrer, die Gebirgsschützenkompanie Ellbögen sei mit 50 Mann angetreten. Weiter unten standen die Frauen in Tracht und mit einem Fass voller Schnaps, Hochwürden spendete seinen Segen, weisse Federn wogten im Wind, die Blaskapelle spielte Tiroler Märsche, Bumm, Bumm, Bumbububumm Tätärä. Am Ende gingen alle ins Gasthaus, und der Weg nach Süden war frei.
Am Brenner war der Himmel noch grau, in Sterzing öffneten sich erste blaue Löcher, und hinter Franzensfeste zeigte sich zwar nicht gerade unsere ökologische Gesinnung, aber doch der knallblaue Himmel Südtirols über den heiligen Hallen des Klosters Neustift. Niemand sagt, der Sex des Alters sei die Fähigkeit, einfach einen Tag südlich der Alpen zu verschwinden, Schlutzkrapfen zu bestellen und dann mit dem Rad auf dem Radweg nach Klausen fahren – das ist schon deutlich zu gross für eine ironische Unternote. Ausserdem stimmt es nicht, es ist etwas anderes: Ein geschenkter Tag im Licht, während andere im Dunkeln und Regen und auf der Yogamatte und möglicherweise, ich will ja niemandem etwas unterstellen, auch ohne Sex verharren. Es ist einfach eine andere Lebensweise: Sex macht das Leben auf eine bestimmte Art schön, ein Tag in Südtirol auf eine andere Art.
Was den Sport angeht, ist die Fahrt nach Klausen und darüber hinaus bis zu den Eisackschnellen übrigens kaum erwähnenswert. 70 Höhenmeter geht es mit Gegenwind – heisse italienische Luft stürmt gegen deutsches Tiefdruckgebiet an – hinunter, und auf dem Rückweg mit Rückenwind wieder hinauf. Man radelt durch Parks, entlang von Eisenbahnen und oft mit ausreichendem Abstand zur Strasse, ohne je von Autos bedroht zu sein. Der Weg führt direkt durch die für Autos gesperrte Innenstadt von Klausen, wo drei noch lange leben wollende Herren auf der Hügelkuppe eine kleine Bergwertung ersprinteten, als wären sie wieder 20. Es gibt phantastische Bilder vor Bergkulissen, die einen erheblich sportlicheren Eindruck als die Realität vermitteln. Wasserfälle! Berge! Kurven! Reissende Flüsse! Burgen! Es sieht mächtig aus, es atmet Leistungsbereitschaft und auf dem Rückweg habe ich gefragt, ob sie in Klausen nicht ins Cafe wie hunderte andere Radler wollten.
Sie wollten weiter. Echte Helden! Weiter hinauf an der Eisack entlang nach Brixen, wo wir mit grösster Lässigkeit die edlen italienischen und einen französischen Renner an den Blumenrabatten rebellisch beim Rad-abstellen-verboten-Schild abstellten, und die Eiskarte plünderten. Ganz ehrlich, ich bin nicht gerade ein Freund von Eis, ich bevorzuge fast immer Tee, aber nach 60 Kilometern entlang der reissenden Eisack und all unseren Bergwertungen war so ein Erdbeer-Milchshake wirklich fast so gut wie Sex. Aber es ist eben nicht der Sex des Alltags. Es ist Teil einer Freiheit, die man als junger Mensch schon in meiner Jugend nicht dauernd kannte, und mit dem achtstufigen Gymnasium und dem verschulten Studium und all den Praktika noch weniger kennen lernen wird. Wie auch die Italienerinnen, die wir sahen. Es waren wirklich viele. Es war sehr hübsch. Aber man muss es sich eben leisten können. Wenn etwas der Sex des Alters ist, dann ist es nicht das Essen und der schmutzige, schweisstriefende Sex des Radelns.
Es ist der Umstand, dass die Lebenssituation solche Entscheidungen erlaubt, ohne jede negative Konsequenz. Man muss nicht überlegen. Das einzige echte Hindernis sind zwei, drei Stunden Anfahrt, aber die sind in der schönsten Landschaft Mitteleuropas. Man kann unterwegs Vorräte auffüllen, Geschenke kaufen und ein Hotel mit eigenem Park und Pool und Gemäldegalerie buchen, das vor einem das halbe Haus Habsburg beehrte. Natürlich kann man danach auch in den Kutscherhof gehen und dort vorzüglich essen. Es ist der Umstand, dass man nicht im Regen bleiben muss, sondern diese kleine Wette mit der Wetterscheide Alpenhauptkamm eingehen und gewinnen kann. Es ist noch kein Sex, aber es macht das Alter sexier, als junge Menschen sich das vorstellen können, wenn sie abfällige Kolumnen über alte, weisse Männer schreiben.
Die einen verlieren einen Tag im Regen, die anderen gewinnen einen Tag in der Sonne. Die einen sind schlecht gelaunt und die anderen sehen großzügig darüber hinweg. Möglicherweise wurden auch mehr Kalorien zugeführt, als beim Radeln abgebaut werden: Ein Gedanke, der einen schlagartig zu quälen aufhört, wenn man am nächsten Morgen die winzigen Marillenkrapfen sieht, von denen man zwei nimmt, und später noch mal zwei. Die Luft ist warm, die Gespräche drehen sich um Zweitwohnsitze jenseits der Alpen und die nächste Etappe, die man unter die Räder nehmen möchte. In Hamburg werfen die Jungen ihre Leiber, kaum dass sie aus feuchten Zelten und von quietschenden Luftmatratzen kommen, gegen die Körper der Polizisten, und wir werfen unsere irdischen Gefängnisse gegen Berge, bis die Muskeln hervor bersten: Der Zeit ihren Sex. Dem Sex seine Freiheit. Und die ist nun mal mehr als nur Essen im Alter, Alter. Echt jetzt, ey.
Wenn mir jemand also so respektlos mit dem “Sex des Alters” begegnet, lächle ich, und denke an meine Bekannte mit all den Erfahrungen und Südtirol mit all den Freuden, die Jüngeren vermutlich eher fremd sind. Die lernen das schon noch – sollten sie noch so alt werden und nicht aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit von der nächsten Generation im Neuesten Deutschland als alte, weisse Menschen jenen missmutigen Begehrlichkeiten im Wege stehen, die unsereins noch über 4 Stück Torte hinweg als bedeutungslos abtun konnte.