Ein Deutscher, ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.
Theodor W. Adorno
Es wird am Wahlabend, wenn nichts Gravierendes dazwischen kommt, natürlich viel Entsetzen über das Abschneiden der AfD geben, und ich vermute, dass das Entsetzen nicht auf Seiten von Frau Weidel und Herrn Gauland sein wird. Wie es immer so ist, wird man die Fehler bei jenen suchen, die sich falsch entschieden haben, und es ist anzunehmen, dass man mit abweichenden Meinungen im Lager der Kommentatoren wenig gnädig verfahren wird. Speziell, wenn sie auch noch darauf hinweisen, dass es nicht zu wenig Kampf gegen die AfD gegeben hat, sondern vor allem einen falschen Kampf mit den grundfalschen Argumenten. Ich bin nicht nur der höflichste, sondern auch der konfliktscheueste Mensch von der Welt, und als solcher möchte ich hier – zumal noch Zeit für Einsicht und Strategieänderung bleibt – einen in meinen Augen besonders gravierenden Fehler verdeutlichen: Der ständige Vorwurf, die AfD wollte zurück in die 50er Jahre.
Wer dieses Jahrzehnt wirklich im ganzen Umfang bewusst als Erwachsener erlebt hat, wurde um 1930 herum geboren und nähert sich dem 90. Geburtstag. Was die 50er Jahre wirklich waren, wissen die meisten Deutschen nur aus dem Geschichtsbuch, oder Erzählungen, die angesichts der harten Kriegszeiten davor gar nicht so schlecht sind, wie viele heute im Wohlstand meinen. Natürlich kann man in einem Soziologieseminar nicht offen darüber reden, wie der eigene Uropa in der fernen Provinz unter Adenauer den finanziellen Grundstock legte, auf dem man heute die Benachteiligung von Frauen und Migranten studiert. Aber die Zeiten von 1914 bis zur Währungsreform mit der DM waren mit ihren Krisen und Kriegsgräueln für die meisten Menschen alles andere als schön. Danach wurde es sehr schnell sehr viel besser, und zwar für breite Schichten der Bevölkerung – ganz gleich, ob in der BRD, England, Frankreich, Italien oder Österreich. In Deutschland schüttete man mit Aufstieg und Konsum die Erinnerung an Krieg und Völkermord zu. Das sorgt für den schlechten Ruf der Dekade. In anderen europäischen Ländern ist die Phase bis Mitte der 60er Jahre bis heute ein Goldenes Zeitalter geblieben.
Und selbst bei uns gibt es da zwei Arten der Geschichtsschreibung: Das eine ist die durch die 68er definierte, offizielle Haltung, die Adenauer, Globke, den deutschen Schlager, die Wiederbewaffnung, die hemmungslose Motorisierung, den Konsumwahn oder den Fortschrittsaberglauben mit seinen zubetonieren Flüssen und AKWs ablehnt. Diese Vorstellung der Epoche ist weitgehend negativ aufgeladen, und hin und wieder wird man daran erinnert, etwa, wenn die Opfer der Schwulenparagraphen rehabilitiert werden. Oder wenn von Bischof Mixa bis zu den Regensburger Domspatzen die Verfehlungen und Vertuschungen der Kirche offensichtlich werden. Oder wenn Zeitzeugen erzählen, wie sich Gastwirte der Gefahr aussetzen, wegen Kuppelei die Lizenz zu verlieren, wenn sie Männer und Frauen zusammen ein Zimmer nehmen ließen. Was uns heute beim Betrachten von 50er-Jahre-Filmen wie verklemmte Sexualität vorkommt, war damals frivolstes Kokettieren am Rande des gesellschaftlich Zumutbaren. Ich wäre höchst überrascht, nähmen AfD-Anhänger nicht auch ab und zu jene Dienste in Anspruch, die im Internet heute ganz anderes Filmmaterial auf den Rechner bringen – aber übel und bigott und sexfeindlich waren nun mal diese 50er Jahre, die man mit der AfD in Verbindung bringen will.
Das sind übrigens auch die 50er Jahre, von denen ich selbst immer erzähle, wenn ich mit anderen im Altmühltal unterwegs bin, in jener romantischen Juralandschaft, die ideal geeignet ist, um mit Kindern Rad- und Paddelbootausflüge zu machen, und Burgen zu erwandern. Die 50er Jahre haben hier wie in vielen ländlichen Regionen erst in den 80er Jahren aufgehört, und ich fühle mich verpflichtet, den hässlichen Kontext der Schönheit zu liefern: Hier steht nur noch so viel Altes, weil man sehr lange zu arm für Neues war. Hier sind die Kirchen so prächtig, weil die Bischöfe das Land ausplünderten. Die Dienstmädchen bei meiner Familie waren die unehelichen Töchter der hiesigen Bauern. In den Gaststätten hingen nicht wie heute Artefakte des bäuerlichen Lebens, sondern die Bilder all jener Männer, die in den Kriegen von 1870 bis 1945 “auf dem Feld der Ehre” geblieben sind, und darunter maulten die Veteranen und Reservisten, weil man 41 nicht nach Moskau kam. Ich erzähle das alles. Und komme nicht gegen das an, was die Menschen hier sehen.
Eine Welt mit fetten Sossen, riesigen Portionen und ausgewählten Zutaten, eine Welt, die wie die gute alte Zeit wirkt, aber damit nichts zu tun hat. Die “gute, alte Zeit” hier war gleichbedeutend mit fragwürdigem Kesselfleisch nach der Schlachtung, Fett am Schweinsbraten, Maggi am Tisch, stinkenden Zigarillos, und als besonderer Attraktion, gegenüber von einem der heute besten Lokale im ganzen Tal: Ein unhygienischer Pommes-Frites-Automat, der für ein Fuchzgerl Fettkartoffelstreifen auswarf. Und genauso, wie sich die Feinschmeckerei hier mit frischem Salat und Schnittlauchstreussel neu erfindet, mit ihren Prälatentellern und dem Ochsen am Spiess im Schloss für 40 Personen – so hat sich die ganze Region neu erfunden.
Das Altmühltal hat kein Meer und keine Berge, sondern nur die scheinbare Unschuld der 50er Jahre Romantik. Es ist hier so, wie es noch war, als Grossonkel Wilfried und Tante Gerda und Pudel Willy mit dem Opel Kadett ihre Nichte Marika abholten, weil das Faltboot ein Leck hatte. Ich merke das an mir selbst: Ich weiss, wie es früher gewesen ist. Es war schlimm. Es war überall schlimm, auch im Donaumoos, in der Holledau und überall, wo man sich heute als biologische und nachhaltige Alternative zum Urlaub in der muslimischen Welt anbietet. Der Bartelmarkt in Oberstimm war ein elender Treffepunkt für das ganze Gschleaf aus Bayern, aber heute gilt er als bundesweiter Geheimtip für echte Volksfeste.
Da möchte man die AfD hinein pferchen und sie in einem Gatter mit dem Schlimmen jener Tage halten. Das ist aber so eine elitäre Einstellung, die man sich eben leistet, wenn man aus der akademischen Oberschicht stammt. Da ist die Ablehnung jener Epoche ein Konsens, der aber auch nur dort gilt: Auf dem Land waren die 50er Jahre prima, man bekam damals Strom, Wasser, das Dieselross und Teer. Man hat sich das unter Strauss nicht schlecht machen lassen, und will von den negativen Aspekten nichts mehr hören.
Man hat die Geldspielautomaten, an denen sich die Landjugend mangels Alternativen ruinierte, in den Gaststätten entfernt, und hängt wieder Geweihe auf. Man hat die Saufrituale der Region mit kristallklaren Schnäpsen aus hier wachsenden Schlehen, Wacholder, Marillen und Zwetschgen ersetzt. Früher bekam man hier zum Datschi die Dose mit der Sprühsahne auf den Tisch gestellt. Heute ist der Datschi eine teuer gehandelte Delikatesse, und wird mit einem kleinen Klecks frischer Sahne veredelt. Es hat nichts mit der gar nicht so guten, alten Zeit zu tun -aber es wird so erlebt. Und natürlich ist der junge Schwarzafrikaner im Garten des Bischofs ein eifriger Gaststudent mit Stipendium, und nicht vergleichbar mit dem, was man im Görlitzer Park erlebt.
Ein schönes Beispiel für die unterschiedliche Auffassung ist die hiesige Jesuitenkirche: Kein wirklich aufgeklärter Mensch kann sich vorstellen, an einem Ort zu heiraten, an dem armen Bauern vorgegaukelt wurde, Schutzengel würden dauernd über ihrem Leben schweben. Zumal, wenn man weiss, dass die Jesuiten für eine brutale Durchsetzung des Glaubens mit religiöser Säuberung standen. Damals war die Grenze zwischen Bistum und evangelischen Reichsrittern auch die Grenze jeder zwischenmenschlichen Verbindung. Das hält aber nach meinem Wissen niemand davon ab, all die Schutzengel putzig und das Ambiente eindrucksvoll zu finden, nachdem die Kirche – in meiner Jugend noch ein finsteres Loch – jetzt nach der Restaurierung im neuen Glanz erstrahlt. Die Geschichte dahinter ist nicht schön, aber die Kirche ist das, was die Heiratswilligen darin sehen wollen. Das Altmühltal war bitterarm, aber es hat sich heute als die gute, alte Zeit herausgeputzt, die wir gerne im Urlaub sehen wollen.
Und mein Eindruck ist, dass die Rückwärtsgewandtheit der AfD ganz ähnlich funktioniert. Man sagt ihren Anhängern, die Partei sei 50er Jahre und daher im Sinne von Horkheimer und Adorno abzulehnen. Aber ihre Anhänger sehen da etwas wie das Altmühltal mit sauberen Strassen, geordneten Verhältnissen und gute Zeiten für jene, die gute Leistung bringen. Man gibt sich alle Mühe, die AfD in einen Schweinestall mit allen stinkenden Tieren der Vergangenheit zu pressen, aber die Anhänger der Partei sehen sich eher im schmucken Fachwerkhaus mit Blumen vor den Fenstern und Fahnen, wenn der Festzug zum Volksfest vorbei zieht. Für Akademiker, die ihre Legitimation aus dem Anspruch ziehen, eine bessere Welt zu erschaffen, sind die 50er Jahre eine negativ geprägte Epoche, über die man nicht mehr reden muss: Ihre Geschichtsschreibung hat das Urteil bereits gefällt, es ist die Übergangsphase zwischen Nazi und Licht der Frankfurter Schule, und nur als Kampfzeit gegen das Alte und Überkommene positiv zu betrachten.
Der AfD-Wähler dagegen lenkt seinen Diesel Kombi entlang der Biegungen des Flusses, freut sich an der Welt, die nie so heil war, wie sie heute zu sein scheint, und versteht nicht, warum man an diesem Zustand etwas ändern sollte, und ihn mit Fremden und Migration anreichern: Er hat zwei Kinder und seinen Teil dafür getan, damit in seiner Welt alles so bleibt. Das Nachwuchsverweigerungs- und Rentenproblem der Deutschen ist nun mal eher akademisch, feministisch, metropolitan, nicht in der Produktion tätig, und ärgert sich im 50 Wochenstunden dauernden Teilzeitjob einer Werbeagentur, wenn andere es gern idyllisch, romantisch, homogen und in letzter Konsequenz potemkin-dörflich haben, wie in einer Heimatfilmkulisse. Man kann ihnen fundiert vorwerfen, dass sie die Vergangenheit unangemessen idealisieren und negative Folgen ausblenden. Aber dafür müssten sie den Kündern der anderen Wahrheit zuhören wollen.
Wahlkampf mit der Geschichte ist immer problematisch, denn da werden Fässer wieder aufgemacht, die man vielleicht besser geschlossen gehalten hätte. Man erlebt eventuell, dass der totale Sieg im Feuilleton noch lang keinen Sieg auf dem flachen Land nach sich zieht, und sich die offizielle Geschichtsschreibung nur teilweise mit der mündlichen Weitergabe des Märchenhaften deckt- wäre es anders, gäbe es auch schon lange nicht mehr die Nachfolgepartei der SED. Man unterschätzt leicht die perfide Fähigkeit weniger studierter, aber nicht ungeschickter Bevölkerungsgruppen, die Vergangenheit so aufzuhübschen, dass man am Ende völlig aneinander vorbei redet, und dem anderen etwas als Verdammung entgegen schleudert, was der als Kompliment wertet. Es ist noch nicht einmal gelungen, eine Partei wegen ihrer Rolle in der der DDR unwählbar zu machen. Warum sollte es mit den 50er Jahren der BRD bei der AfD besser funktionieren?
Auch das ist, wenn man so will, eine Dialektik der Aufklärung, und der Wahlausgang wird uns da meines Erachtens noch höchst adornisieren.