Lakaien befolgen Gesetze, Könige sehen Zusammenhänge.
Gabriel Lorca
Da ist also dieser aufgeplatzte, blaue Sack auf dem Boden, voll mit Bauschutt, und er liegt schon etwas länger hier. Ratten und Mäusen gefällt das.
Und ich stehe davor, schaue in den bleigrauen Berliner Himmel, aus dem es tröpfelt, und denke daran, dass oben in Bayern, bei mir vor dem Haus, dieser Regen als Schnee herab kommen wird. Ich muss schneller als der Wind sein, denn wenn der Regen erst bei uns ist und gefriert, muss ich, wie jeder Hausbesitzer, das Eis vom Trottoir kratzen und den Schnee räumen. Das macht man halt, meine Vorfahren haben es gemacht, ich mache es auch. Hausbesitz bedeutet einfach, dass man beim Schneefall dort sein und die Verantwortung übernehmen muss. Aber hier in Berlin hat einfach jemand einen blauen Sack mit Bauschutt abgelegt. Weiter vorn steht eine Autotürverkleidung.
Mit Kleidungsstück. In Grün. Das hat jemand hier gelassen, und keiner will es. Ich will es beseitigen, das ist so in mir drin, denn wenn auf meinem Bürgersteig vor dem Haus etwas ist, räume ich es weg. Ich kann mich einen ganzen Tag lang über Zigarettenpackungen ärgern, ich fege nicht den Weg, sondern Leute an, wenn sie Zigarettenkippen vor meinen Augen wegwerfen: So ist nun mal meine Natur. Und wenn es schneit; zieht mich meine Natur eben nach Hause an die Schaufel und den Eishacker. Wie alle anderen auch. So sind wir nun mal. Selbst wenn die Gemälde drinnen mal wieder abgestaubt werden könnten. Aber die Strasse ist frei.
Das hier sind ein paar traurige Radreste – wer in Berlin Ersatzteile braucht, kauft eher nicht bei Ebay, sondern montiert wohl einfach etwas ab. Bei uns bekommen Schrotträder orange, datierte Aufkleber, um feststellen zu können, ob sie noch bewegt werden. Ist das nicht der Fall, bekommen sie einen Zettel, dass sie in zwei Wochen entfernt sein müssen. Sind sie dann nicht entfernt, werden sie abgeholt. So ist das bei uns. So sind wir. Wir können nicht anders. Wir können das alles gar nicht sehen.
Wir sehen es, verdrehen die Augen, richten sie zum Himmel und denken uns: Warum. Weil, es ist doch so: Das sieht hier überall so aus. Gleichzeitig aber, und das haben wir beim Verdrehen der Augen gen Himmel auch gesehen, beschmieren sie nicht nur ihre Häuser, sie bemalen sie auch. Zum Beispiel mit einer bukolischen Landschaft mit Hügeln, kugelrunden Figuren, zartrosa Himmel und einem netten, kleinen Einzelhaus, ganz anders als die riesigen Blöcke der Gründerzeit.
Niemand malt in dieses Bild einen blauen Müllsack, geplatzt wie die Karriere einer Modebloggerin, eine ausgerissene Türverkleidung wie ein seiner Heimat entflohener Schwabe, und Räder, funktionsunfähig wie der grüne Wohnungsankauf, in diese arkadische Landschaft. Was auf der Strasse ist, ist hier auf der Strasse, und was die Wunschvorstellung ist, ist an der Wand. Zumindest 1 Mensch hier denkt an eine Welt, die so heil ist wie ein Tourismusprospekt, und Tausende. Zehntausende sehen das. Diese Menschen hier haben blaue Müllsäcke, aber auch eine Vorstellung davon, dass es so nicht sein muss. Der hungrige Steinzeitmensch saß auf den Essensresten, malte fleischige Bisons in Höhlen und schnitzte rundliche Frauen aus Bein, hier malen sie eine grüne Landschaft und runde, zufriedene Figuren mit Lächeln, während sie bei Mülltüten sitzen. Das nennen Optimisten den menschlichen Fortschritt, aber: Das ist nicht alles.
Denn natürlich quetschen sie hier gebrauchte Kinderwägen und unbequeme 90er-Jahre Stühle der Postmoderne zwischen die Zugangswege der Baustellen. Das ist kein Zufall, das ist Absicht, sie wollen damit den Arbeitern, die hier die Gebäude sanieren, erschweren. Nicht jeder ist einverstanden mit den steigenden Mieten und der Aufwertung des Viertels. Manche kleben auch klassenkämpferische Zettel im Rot der Revolution an die Wände. Sie laden zu Kiezversammlungen ein, die so gut besucht wie die Wahlkampfstände der SPD sind, und halten sich dann wie die SPD berechtigt, für das Volk zu sprechen. Sie wollen ihren Kiez so, wie er früher war, so wie bei mir daheim auch viele in die gute, alte Zeit zurück wollen, als hier nicht nur Schnee geräumt, sondern auch jeden Sonntag morgen ordentlich gefegt wurde, egal ob am nächsten Morgen die Stadtreinigung noch einmal fegte oder nicht. So war das nämlich früher, am Sonntag um 11 fegte der Bürger und am Montag um 6 Uhr kam der Reinigungswagen und hatte nichts zu tun. Sauberkeit, fast so sinnlos wie Vandalismus.
Sie wollen also ihren alten, modrigen, braunkohlegeheizten Kiez behalten, und die Extremen rammen dafür alte Kinderwägen in Einfahrten, sie werfen auch mal Steine durch die Fenster und zünden hin und wieder Autos an, und die Bevölkerung meint oft, das gehört irgendwie dazu gehört. Sie kleben Gedichte von Brecht und Aufrufe zur Revolution an Säulen, und sie schrecken auch nicht vor, wie ich Single finde, schlimmsten Taten bei der Wohnungskäufervergraulung zurück, wie dem Eltern-Kind-Trommeln.
Aber ich habe ja den Traum an der Wand gesehen, und deshalb noch etwas genauer hingeschaut, und wir wissen ja, jede Kultur trägt den Keim ihres eigenen Verderbens in sich. Und während einen zerschlagene Kaugummiautomaten aus leeren Augenhöhlen anstarren, während Sticker noch von Revolution und Aufbegehren künden, ist daneben eine saubere Schaufensterscheibe.
Der Berliner wird das nicht beachten, er denkt sich halt, dass wieder eine junge Frau versucht, aus ihrem Schneiderhobby einen Beruf zu machen. Irgendwas mit Mode. Stoff kreativ aneinander fügen. Teil der Do-it-yourself-Bewegung, kleines Kiezhandwerk, gegen Globalisierung, bio, was man halt damit so verbindet. Aber so einfach ist das nicht, denn Nähen ist eine relativ komplexe Arbeit. Nähen erfordert eine hohe Präzision und Vorausdenken, Struktur und Hingabe. Schlecht angezogene Menschen gehen vorbei und denken an das Rattern einer Nähmaschine. Aber ich gehe vorbei, sehe die bis in die Kanten saubere Scheibe und weiß, dass bei uns früher die Frauen um so begehrter waren, je besser sie nähen konnten. Nähen ist ein Handwerk, das den Menschen formt. Näherinnen müssen wissen, wo welche Knöpfe sind, wie viel Stoff sie vorrätig haben, wann etwas fertig sein muss und wie man mit Kunden über längere Zeit ernsthaft kommuniziert. Näherinnen sind, wenn sie wirtschaftlich überleben wollen, alles, nur nicht Berlin.
Und natürlich hat hier niemand etwas gegen Erscheinungen, die Näherinnen bei uns in Miesbach kennen: Dass ein wahrhaft dickes Auto vorfährt und eine Frau aussteigt und erklärt, zu welchem Anlass sie welches Kleid ohne Rücksicht auf die Kosten braucht. Das bedeutet aber, dass das Auto dort nicht zerkratzt werden sollte, das bedeutet einen sauberen Weg und ein sauberes Fenster, und tatsächlich liegt hier kein zertretenes Rad und kein blauer Müllsack herum. Nähen ist ein Geschäft der guten und dauerhaften Kundenbeziehung, ganz anders als Ausverkauf im Ramsch ein graues Stück Kleidung, das man gerne mal auf einer Türverkleidung liegen lässt. Es gibt hier in dieser Ecke etliche Näherinnen. Sie müssen versuchen, sich zu erhalten. Sie können es sich gar nicht leisten, wie Berlin zu sein. Die Herzen der Konsumkritik fliegen ihnen zu, aber ein Herz für den Schlendrian können sie sich nicht abrechnen. Eher linke Projekte tun das übrigens auch nicht:
Und das ist nicht das einzige Beispiel für Verbotskultur, weiter vorne mahnt ein Schild, man sollte doch bitte nach 22 Uhr Rücksicht auf die Anwohner nehmen – darunter auch die Mutterkindtrommelterroristen, die in der Nacht zu Ruhespiessern werden – und leise sein. Schön leise. Und keine Motorräder mehr starten. Vermutlich leben hier Leute, die nach 22 Uhr die Motorräder geschoben sehen wollen.
Das ist schon eine ganz andere Welt als jene, die nebenan im Plakat hochgehalten wird.
So geht das hier immer weiter, Dreck, Schmierereien und dazwischen dann wieder die neue Berliner Verbotskultur der kurzen Kreuzberger Nächte mit Ruhe ab 22 Uhr – bei uns am Tegernsee fängt man da erst langsam an, auf den Biertischen zu tanzen zu “ich bin die Antonia aus Tyrolia” und “Sweet little Rehlein”. Es sind Hinweise auf eine Liberalität mit Grenzen. So fing das vor 12 Jahren auch im beliebten LSD-Viertel in Mitte an, und ein Club nach dem anderen musste wegen des Lärms schließen. Bei uns in Bayern wird man nicht glücklich, wenn man gegen die Glocken von Kühen und Kirchen prozessiert, aber hier geht das noch, der Tanzpalast von gestern ist die Lärmbelästigung von heute.
Die Ruppigkeit im Umgang macht keine Ausnahme für Subkultur. Irgendwann beschweren sie sich bei der Hausverwaltung, wenn der Schnee im Winter vor dem Haus liegen bleibt, denn wenn sie einmal mit einer Forderung durchkommen, legen sie sofort die nächste Beschwerde auf den Tisch. Weil sie können. In Bayern wird die Anspruchshaltung durch die Eigenverantwortlichkeit gedämpft. Hier wird erwartet, dass andere das erbringen, was man für wünschenswert hält. Verspiesserung ist nur eine Wandlung der Ansprüche an andere, aber nicht eine Anpassung der Methoden zur Durchsetzung. Die Miete soll nicht mehr als 5 Euro pro Quadratmeter kosten, aber die Leute, die das Mieterparadies für ihr gutes Leben ausnutzen, sollen beim sturzbetrunkenen Fall aus der Kneipe nach 22 Uhr ihren Oberschenkelhalsbruch still erdulden; und für das Blut die Müllsäcke verwenden.
Die werden sich noch wundern, wie kurz die Kreuzberger Nächte noch werden, denke ich mir, als ich zu meinem Auto gehe. Die Anfänge für den Kulturkampf sind gemacht, es werden sicher noch Näherinnen pleite gehen und Autos zerkratzt. Aber draußen am Autobahnring kosten kleine Wohnungen auch schon 480 Euro pro Monat und damit doppelt so viel, wie meine 75m² hier 2004 in einer anderen Gentrifizierungslage gekostet haben. Wer jetzt hier ist, wird kaum mehr umziehen, sondern vom Mieterschutz profitieren, altern, und neue Ansprüche entwickeln. Es wird alles teurer, aber nicht besser, und nie so wie auf dem bunten, arkadischen Wandgemälde. Ich lasse das Auto an, und sollte ich jemand aus dem Mittagsschlaf gerissen haben, weil mein Verbrennungsmotor etwas laut ist, so mag man mir das hier verzeihen:
Schon im Thüringer Wald bedeckte der Schnee alles Leben, und ich hatte es wirklich eilig, nach Hause zu meiner Schneeschaufel zu kommen.