Chronisches Aufschieben im Studium, wer kennt das nicht? Doch was, wenn die Hängepartie zur Qual wird? An der Universität Münster hilft die Prokrastinationsambulanz. Gespräch mit einem Therapeuten.
F.A.Z.: Herr Förster, wann und warum hat die Uni Münster ihre Prokrastinationsambulanz ins Leben gerufen?
Stephan Förster: Im Jahr 2006 wurden bei uns die ersten Beratungen durchgeführt. Geforscht wurde an der Universität Münster zu diesem Thema aber bereits seit 2004. Der Hintergrund dafür war, dass in unserer universitären Psychotherapie-Ambulanz immer wieder Patienten vorstellig wurden, die sich in die bestehenden Störungsbilder nicht richtig einordnen ließen. Gleichzeitig hatten die Betroffenen durch das Aufschiebeverhalten, von dem sie berichteten, einen erheblichen Leidensdruck. Oftmals waren es Studierende – damit war der Anstoß gegeben, das Phänomen sowohl wissenschaftlich genau zu betrachten, als auch die Entwicklung von entsprechenden Behandlungsmodellen voranzutreiben.
Sind Sie die einzige Ambulanz deutschlandweit oder gibt es noch andere?
Es war zumindest die erste Ambulanz dieser Art und ist immer noch Vorreiter, was die Versorgung angeht. Das liegt auch daran, dass die Ergebnisse der Arbeitseinheit publiziert wurden und ein Behandlungsmanual herausgegeben wurde, das die Therapie und Beratung bei Prokrastination beschreibt. Dies hat dazu geführt, dass auch andere, oftmals universitäre Beratungseinrichtungen, mit unserem Programm arbeiten. In Berlin wurde ein ähnliches Projekt ins Leben gerufen und andere Forschungseinheiten beschäftigen sich mittlerweile ebenfalls mit diesem Thema.
Wie verbreitet ist Prokrastination in der Bevölkerung und wie verbreitet ist sie unter Studenten, von denen es ja heißt, dass sie besonders oft darunter litten.
Es gibt ganz unterschiedliche Angaben hierzu. Oftmals heißt es in der Literatur, dass bis zu 20 Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind, aber dort werden meist weniger harte Kriterien für Prokrastination angesetzt als bei uns. Wir haben bisher unter Studierenden in unseren Untersuchungen um die 10 Prozent festgestellt, und halten diese Zahl auch in der Gesamtbevölkerung für realistisch.
Was sind die typischen Risikomerkmale dafür, Dinge aufzuschieben und ab wann stellen Sie fest, ob jemand ernsthaft unter Prokrastination leidet?
Da müssen wir unterscheiden. Die Risikomerkmale sind unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel ein erhöhtes Risiko bei einigen anderen diagnostizierfähigen Störungen, wie zum Beispiel ADHS oder der Depression, aber auch der posttraumatischen Belastungsstörung. Bei diesen ist es recht wahrscheinlich, dass die Betroffenen auch die Kriterien für Prokrastination erfüllen.
Es gibt auch Studien, die darauf hinweisen, dass Menschen mit sehr freien und lang anhaltenden Tätigkeiten, die oft keine klare Deadline haben, besonders gefährdet sind. Diese Tätigkeiten bieten einfach mehr Möglichkeiten aufzuschieben, und vom Aufschieben ist dann der Schritt zur Prokrastination möglich, obwohl wir hier eine wichtige Unterscheidung sehen. Das alltägliche Aufschieben kennt jeder von uns. Das ist ganz normal und nicht problematisch. Schwierig wird es erst dann, wenn es zu negativen Konsequenzen führt. Ab da muss dann genau diagnostiziert werden, um herauszufinden, ob es sich wirklich um pathologisches Aufschieben und damit Prokrastination handelt.
Ab wann genau ist dieses Aufschieben krankhaft?
Normalerweise verwenden wir den Begriff krankhaft nicht, weil es etwas Stigmatisierendes hat und Betroffene bereits so schon genügend Scham für ihr Verhalten empfinden, dass es nicht noch den Stempel „krankhaft“ benötigt. Man muss auch sagen, dass die Prokrastination noch kein anerkanntes Störungsbild ist, obwohl wir dafür sind, dass genau dies geschieht, da wir festgestellt haben, dass die Patienten bei uns oft nicht in die gängigen Diagnosen passen.
Auch wenn es sich also noch nicht um eine offiziell in den ICD-Katalog aufgenommene Krankheit handelt, haben wir in Münster vorläufige Diagnosekriterien entwickelt, die das pathologische vom alltäglichen Aufschieben unterscheiden. Allgemein kann man sagen, dass man Prokrastination daran erkennt, dass man wirklich ernsthafte Probleme durch das Aufschieben bekommt und dieses Verhalten trotzdem beibehält. Die Betroffenen halten an diesem Verhalten fest – obwohl es ihnen bewusst ist, und sie unter negativen Konsequenzen wie innerer Unruhe, Angst- und Druckgefühlen, Schlafstörungen, Verdauungsproblemen und Ähnlichem leiden. Hinzu kommen auch Zeitkriterien. Es reicht eben nicht, wenn sie mal eine Woche aufgeschoben und sich mit Serienschauen bei Netflix abgelenkt haben. Das bedeutet noch nicht, dass Sie wirklich unter Prokrastination leiden. Extremes Aufschieben muss über einen längeren Zeitraum bestehen, sodass wir davon ausgehen können, dass es zu einem erheblichen subjektiven Leiden, aber auch zu objektiv negativen Konsequenzen gekommen ist. Erst dann sprechen wir von Prokrastination.
Oftmals heißt es ja im Volksmund „Du bist zu faul“ oder „Du bist nicht willensstark genug, reiß dich doch mal zusammen!“, wenn jemand prokrastiniert. Hängt denn Prokrastination damit zusammen?
Wenn man sich Prokrastination genau anschaut, ist es eigentlich das Gegenteil von Faulheit – es ist ein sehr aktiver Prozess. Wenn wir Faulheit definieren, würden wir sagen „Wir liegen faul in der Gegend herum und tun gar nichts“. Die Prokrastinatoren sind jedoch sehr aktiv in der Prokrastinationsphase. Während sie nicht die Aufgabe erledigen, die sie wollen und sollen, beschäftigen sie sich aktiv mit anderen, in Relation dazu angenehmer wirkenden Aufgaben.
Der Klassiker: Als Student muss ich meine Hausarbeit fertigstellen, dafür gibt es eine Deadline. Ich weiß, dass es nötig ist, vielleicht interessiert mich das Thema sogar. Und dennoch schaffe ich es nicht, mich hinzusetzen und lenke mich stattdessen damit ab, dass ich meine WG zum dritten Mal putze. Das ist ein sehr aktiver Prozess. Faulheit passt deshalb nicht.
Was genau sind dann die Ursachen für Prokrastination? Gibt es Menschen, die eher dazu neigen?
Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass Prokrastination ein erlerntes Verhalten ist. Das heißt auf der einen Seite, dass es theoretisch jeder bekommen kann. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber auch, dass die Betroffenen das Verhalten wieder verlernen können. Die Ursachen für Prokrastination sind recht breit gefächert und schwer zu bestimmen. Es gibt Hinweise darauf, dass es an der zu erledigenden Aufgabe selbst liegen kann. Wir haben festgestellt, dass Studierende in weniger verschulten Fächern eher an Prokrastination leiden.
Also ein Phänomen der Geisteswissenschaften?
Tendenziell ist es tatsächlich eher ein Phänomen in den Geisteswissenschaften, in denen ich viele Hausarbeiten schreiben muss, die oft keine klare Deadline haben. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch in naturwissenschaftlichen Fächern vorkommt. Dort spüre ich aber schneller gravierende negative Konsequenzen, da alles verschulter organisiert ist. Das Studium ist dann oftmals bereits zwangsläufig beendet nach drei Semestern exzessiven Aufschiebens, weil ich meine Pflichtklausuren nicht bestanden habe und damit gar nicht weiterstudieren darf. Wenn ich niemanden habe, der mir klar sagt „Gib das am 31.03. ab“, dann wird es allerdings wahrscheinlicher, dass ich prokrastiniere. Wir haben das aber nicht nur unter Studierenden festgestellt, auch bestimmte Berufsgruppen sind häufiger betroffen. Gerade selbständige Berufe – zum Beispiel Anwälte, aber auch Journalisten – neigen eher dazu, Zeichen von Prokrastination zu zeigen.
Ansonsten ist es recht schwer, klare Ursachen zu nennen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass der Erziehungsstil der Eltern eine Rolle spielt. In den Domänen, in denen ich sehr restriktiv erzogen wurde, laufe ich Gefahr, im Erwachsenenalter vermehrt zu prokrastinieren. Wenn ich also immer dazu verdonnert wurde, jeden Abend den Abwasch zu machen, dann ist es wahrscheinlich, dass ich im Bereich „Haushalt“ mehr aufschiebe. Natürlich muss man bei solchen Studien immer ein wenig vorsichtig sein, da es sich hier um nachträglich erfragte Angaben handelt. Erinnerungen können natürlich gefärbt sein, besonders dann, wenn man im Nachhinein Erklärungen für sein Verhalten sucht.
Es gibt auch Hinweise dafür, dass Prokrastination genetisch vererbt sein könnte. Eine Studie hat festgestellt, dass 46 Prozent des Prokrastinationsverhaltens vererbt sein könnten. Doch auch diese Studie hat ihre Tücken, da man sich eigentlich mehr die Impulsivität angesehen hat als das Prokrastinationsverhalten.
Wie behandelt man Menschen, die unter Prokrastination leiden? Welche Maßnahmen bieten Sie genau an?
Grundsätzlich eignen sich die Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie am besten. In diesem Rahmen bieten wir zum Beispiel Kurzberatungen an. Das ist dann ein Trainingsprogramm von fünf Sitzungen, entweder einzeln oder in Gruppen. Wir haben zum Beispiel ein Modul für das pünktliche Beginnen entwickelt, unter anderem mit Ritualtechniken, die es einfacher machen, den Startzeitpunkt für eine Aufgabe herzustellen. Wenn solche Techniken über fünf Wochen hinweg angewandt werden, entwickelt sich eine neue Routine gegen die alte Routine des Aufschiebens.
Ein anderes Modul umfasst Planungstechniken. Wichtig sind auch konkrete Zielsetzungen, denn in der Regel nehmen wir uns alle zu viel vor.
Die letzte und sehr wirksame Technik ist die sogenannte Arbeitszeitrestriktion. Hier arbeiten wir mit einer paradoxen Intervention, praktisch mit „umgekehrter Psychologie“. Wir gehen davon aus, dass Patienten, die zu uns kommen, sagen „Ich müsste eigentlich soundso viele Stunden am Tag arbeiten, um damit fertig zu werden“ und damit ein völlig unrealistisches und im Vorhinein schon belastendes Pensum vor sich sehen, das sie dann sehr wahrscheinlich aufschieben werden, um es zu vermeiden. Wir beschränken das dann auf ein bestimmtes verknapptes und damit realistisch zu bewältigendes Arbeitsfenster. Das kann bedeuten, dass wir mit zwei Mal 20 Minuten am Tag beginnen. Mehr machen ist eine Woche lang streng verboten!
Dies führt meistens dazu, dass die Betroffenen sagen „Das reicht doch nie, da komme ich gar nicht weiter, ich muss schon mehr machen dürfen.“ Und plötzlich verändert sich die Valenz: Der Betroffene kämpft praktisch dafür, mehr Arbeitszeit zu bekommen. Als psychologischer Mechanismus ist das eigentlich ganz gut: Ich kämpfe nicht mehr gegen die Aufgabe an, sondern darf sie jetzt angehen. Obendrein lerne ich, die bestehende Zeit effizient zu nutzen, denn wenn ich mein Zeitfenster nicht nutze, darf ich auch nicht weiter erhöhen.
Wie hoch sind generell die Erfolgschancen bei Menschen, die bei Ihnen behandelt werden?
Wir können bereits mit der Kurzzeitintervention sehr gute Ergebnisse erzielen. Die Prokrastinationszeit verringert sich meist schnell und auch andere Symptome lassen sich signifikant vermindern, verschwinden oft gegen Ende ganz. Tritt die Prokrastination mit anderen Störungsbildern auf, wie zum Beispiel einer Depression, dann ist es jedoch immer ratsam, eine Psychotherapie zu machen.
Gibt es denn auch die Möglichkeit, sich selbst zu therapieren?
Wenn man zum Aufschieben tendiert und sich sozusagen an der Schwelle zur Prokrastination befindet, dann lässt sich zum Beispiel damit anfangen, dass man sich zunächst eine Aufgabe vornimmt, die man immer wieder vor sich herschiebt. Als zweiten Schritt beobachten Sie dann genau über mehrere Tage, wie das Aufschieben abläuft. Finden Sie heraus, unter welchen Bedingungen Sie gut arbeiten können und unter welchen Bedingungen Sie der Arbeit eher aus dem Weg gehen. Als dritten Schritt definieren Sie möglichst kleine und sehr konkrete Schritte, die als Nächstes absolviert werden sollten. Als Viertes legen Sie pro Tag genau einen Zeitpunkt fest, mit klarer Zeitspanne und konkretem Ort, an dem Sie diese Einheiten angehen wollen. Achten Sie von vorneherein darauf, dass Sie sich nicht zu viel vornehmen. Als fünften Schritt entwickeln Sie Erinnerungshilfen, damit diese Gelegenheit auch eingehalten werden kann und Sie mit der Arbeit beginnen – ein Wecker oder ein Anruf der Mutter oder des Freundes kann da zum Beispiel helfen. Und werten Sie hinterher immer aus, wie es geklappt hat. Belohnen Sie sich für kleine Erfolge. All das können Sie aber auch in unserem Selbsthilferatgeber noch einmal nachlesen, der ein gesamtes mehrwöchiges Programm inklusive Arbeitsblätter gegen das Aufschieben umfasst.
Wie stark wird die Ambulanz von Studenten in Anspruch genommen?
Die Akzeptanz ist sehr gut. Wir wurden vor zwei Jahren zum Beispiel von der Studierendenschaft der WWU Münster als „Best practice“-Beispiel für Verbesserung der Studiumsqualität geehrt. Wir haben pro Jahr meist um die 300 Anfragen, von denen wir dann auch gut die Hälfte versorgen. Die andere Hälfte sind dann diejenigen, bei denen entweder Tipps genügen oder tatsächlich eine richtige Therapie angeraten wird. Wir haben auch immer viele Anfragen von außerhalb, können hier allerdings leider nicht direkt versorgen, weil wir eine Einrichtung für Studierende der Universität Münster sind.
Würden Sie auch anderen Universitäten empfehlen, solche Ambulanzen einzurichten?
Grundsätzlich würden wir das immer empfehlen. Selbst wenn man sagt, dass man als Universität nicht dazu forschen möchte, würde ich empfehlen, dass man zumindest in den Studienberatungen entsprechende Workshops und Trainings zur Prokrastination anbietet. Erfreulicherweise geht die Tendenz bereits verstärkt in diese Richtung und ich weiß von verschiedenen Universitäten, dass sie entsprechende Angebote entwickelt haben – weil es eben ein sehr verbreitetes Problem unter Studierenden ist. Betroffene Berufstätige können sich aber auch an Verhaltenstherapeuten in ihrer Nähe wenden, die sich mit der Thematik heute oft gut auskennen.
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Die Prokrastinationsambulanz der Universität Münster bietet einen kostenlosen Selbsttest an, der Tendenzen zur Prokrastination aber auch Depressivität feststellen kann.
Stephan Förster ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut in der Psychotherapie-Ambulanz der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er ist als Dozent zu den Themen Prokrastination, Lern-/Leistungsstörungen, Prüfungsangst und Verhaltenstherapie in Gruppen tätig und bildet an verschiedenen Instituten Psychotherapeuten aus. Er hält regelmäßig Vorträge zur Prokrastination.