Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

01. Nov. 2022
von Matthias Heinrich

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Nur mit Handy bist du candy

Bevor einer meckert: Der Reim „Candy“ auf „Handy“ ist geklaut. Die österreichische Popband Bilderbuch singt in ihrem Jahrhunderthit „Bungalow“. Er geht so:

„Dann rufst du an auf meinem Handy,

Und dann bist du wieder candy“

Der Song ist seit Jahren fester Bestandteil unserer Urlaubs-Playlist. Unsere Kinder singen die Zeilen immer laut und begeistert mit. Es gibt weitere Musiker, Künstler und Autoren, die sich dieses Reims bedient haben. Ich gehöre dazu.

Unser Sohn Theo (in wenigen Wochen zehn Jahre alt) gehört seit kurzem auch dazu. Und zwar zu den Kindern, die ein eigenes Mobiltelefon besitzen. Seit Mitte September besucht er ein Gymnasium, eine weiterführende Schule. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein: Kinder, die in die fünfte Klasse kommen, kriegen ein Handy. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber das sind wenige. Dabei sind Marke und Zustand des Telefons absolut zweitrangig. Wichtig ist zuallererst, dass kind mobil ist.

„Sonst wird er ausgeschlossen“, hörten meine Frau und ich, als wir uns im Sommer informierten, wie Freunde die Sache mit dem Handy handhaben. „Er kriegt dann viele Dinge nicht mit“, sagten andere. Wir hatten unsere Bedenken und wollten uns dem allgemeinen Druck nicht einfach so ergeben, ohne vorher zumindest ein paar Fragen abgeklopft zu haben.

Schließlich war unser Sohn bisher ziemlich gut ohne Handy durchs Leben gekommen. „So lernt er schon früh, mit Technik umzugehen und smarte Devices zu benutzen“, brachte ein alter Freund ein weiteres Argument und fügte breit grinsend hinzu: „Vielleicht kann er seinem technisch überschaubar talentierten Vater ja den Umgang mit hilfreichen Apps erklären.“

Um es kurz zu machen: Ein langer Entscheidungsprozess war es letztlich nicht. Im engsten Freundeskreis wäre Theo der einzige ohne Smartphone gewesen. Also bekam er eins.

In den ersten ein, zwei Wochen bestätigten sich unsere Vermutungen. Er legte das Ding nicht aus der Hand. Stattdessen chattete er mit seinen KlassenkameradInnen, einzeln und in Gruppen. Schnell hatten sie raus, wie man Chat-Gruppen auf den entsprechenden Apps erstellt. Zeitweise gab es vier unterschiedliche Gruppen, in denen mehr oder weniger alle Schüler seiner Klasse waren. Jeder musste halt ausprobieren, wie man so eine Gruppe zusammenstellt. Finde ich zwar anstrengend, aber durchaus nützlich.

Wofür ich nach wie vor kein Verständnis habe, ist die Frequenz, in der manche Kinder Nachrichten verschicken. Theo spielt Fußball und ich bin sein Trainer. Als wir einmal nach anderthalb Stunden wieder zuhause waren, hatte er über 250 neue Nachrichten – in einem Chat! 250 neue Nachrichten in 90 Minuten – irre, dachte ich. „Das ist völlig normal“, beruhigte mich meine Schwester, als ich ihr aufgeregt davon erzählte. Sie hat zwei Söhne, beide älter als Theo. Beide hatten seit der fünften Klasse ein Smartphone. „Das mit den Nachrichten gibt sich, das wird weniger.“ Sie sollte recht haben.

Eine Erfahrung hätte sich Theo sparen können. Er schrieb einem Mädchen, dass er sie ganz toll findet. Leider nicht persönlich, sondern in einem der Klassenchats. Als ich ihn fragte, ob das so eine gute Idee sei, gleich allen zu erzählen, dass er sie mag, antwortete er: „Wieso? Es hätten doch eh alle mitbekommen.“ Der Shitstorm (das Shitstörmchen) war wie die meisten Social-Media-Shitstorms nach ein, zwei Tagen vorbei. Theo ertrug ihn tapfer.

Mit der Zeit hat er das Interesse an den Klassenchats verloren. Nicht wegen der Sache mit dem Mädchen, die sich sicher nicht wiederholen wird, sondern weil es ganz einfach langweilig wird. Übrigens nicht nur ihm, wie ich neulich an beim Elternstammtisch erfuhr: „Meine Tochter guckt da gar nicht mehre rein“, sagte mir eine Mutter. Zwei andere nickten zustimmend. Kein Wunder, denn meistens ist es die gleiche Handvoll Schüler, die vor allem Tier-GIFs und Emojis verschickt. Viel mehr kommt dann nicht. Ich frage mich allerdings, warum andere Eltern ihren Kindern dabei weitestgehend freie Hand lassen.

Das bringt uns zum nächsten Punkt, dem Zocken. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Theo, wenn er dürfte, solange mit dem Handy daddeln würde, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zufallen. Das wird aber nicht passieren. Wir haben seine Spielzeit inzwischen stark limitiert. Maximal eine Stunde am Tag darf er zocken. Am Wochenende etwas länger. Die Spiele schauen wir uns erst genau an, bevor wir sie herunterladen. Das hat sich inzwischen ganz gut eingepegelt.

Er benutzt sein Smartphone außerdem zum Musikhören, für Hörbücher, aber auch für Lern-Apps wie etwa Anton und die Schulcloud, in der die Fachlehrer mit den Schülern kommunizieren.

Für ein Fazit ist es zu früh. Als Zwischenbilanz halte ich fest, dass das Smartphone als Kommunikationsgerät sinnvoll ist. Vieles wird einfacher, etwa Absprachen mit uns Eltern. Für die Kinder ist das Handy aber vor allem Entertainment. Hier sollten Eltern Regeln aufstellen und konsequent bleiben, sonst läuft es aus dem Ruder.

Letztlich ist ein Smartphone aber vor allem das, was Bilderbuch mit ihrem zweiten Jahrhundertsong besingen, eine „Maschin“. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wenn wir Kindern klarmachen, dass kein Gerät Beziehungen und Erlebnisse mit anderen Menschen ersetzen kann, dass sich kein neues Level in einem Daddelspiel so anfühlt wie ein Tor beim Fußball oder Nachmittag mit einem Freund, ist alles in Ordnung.

01. Nov. 2022
von Matthias Heinrich

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25. Okt. 2022
von Matthias Heinrich

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„Papa, du schimpfst schon wieder!“

Corona hat in der Beziehung zwischen mir und meinem Sohn Spuren hinterlassen. Da bin ich mir sicher. Long Covid auf Beziehungsebene.

Es geht nicht um die Krankheit selbst. Die hatten wir beide zu unterschiedlichen Zeiten. Es geht um die endlosen Monate zuhause. Er im Homeschooling, ich im Homeoffice. Jeder für sich in seiner eigenen Isolation, aber gleichzeitig dazu verdammt, in dieser Symbiose zu funktionieren. Tag für Tag Mathe, Deutsch, Sachkunde. Jeden Morgen ein Wald an Arbeitsblättern, jedes für sich eine Zerreißprobe in A4 für unser Verhältnis. Wir haben ihm das Einmaleins beigebracht und zusammen seinen Füllerführerschein gemacht. Unterbrochen von Zoom-Calls einmal pro Woche, in denen 25 Kinderaugenpaare aus blassen Gesichtern eine Schulstunde lang den blechernen Worten ihrer Lehrerin lauschten, die die Knirpse bemüht zum Durchhalten animierte.

In dieser endlosen Zeit sind Theo und ich bei den Schulaufgaben oft aneinandergeraten. Er hatte etwas nicht verstanden, eine Aufgabe anders gesehen, und ich war oft zu ungeduldig, zu schnell und habe zu viel erwartet. Und ich war noch mehr als er gefrustet, weil ich aus dieser Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Spirale keinen Ausweg sah.

Irgendwie hat es natürlich geklappt. Wir sind da rausgekommen, wie jeder, warum auch nicht? Aber es hat Spuren hinterlassen.

Theo wird bald zehn und geht seit dem Sommer aufs Gymnasium. Bis jetzt läuft es ganz gut, es gibt wirklich nichts zu meckern. Zwar hat er auch schon eine Vier mit nach Hause gebracht, aber im Grunde sind seine Leistungen gut. Er hat Spaß an der Schule, ist motiviert und hat in den meisten Fächern Lust, etwas zu lernen.

Fünftklässler in einem Gymnasium in Baden-Württemberg
Fünftklässler in einem Gymnasium in Baden-Württemberg

Neulich kam er zu mir und sagte: „Papa, ich möchte nach den Hausaufgaben jeden Tag ein Fach für den nächsten Tag üben. Eine Viertelstunde oder so. Wollen wir das machen?“ Mein Herz machte einen Hüpfer. „Aber klar machen wir das! Sehr gerne, Theo!“ Kann man sich als Elternteil mehr wünschen als ein Kind, das mit einem solchen Vorschlag um die Ecke kommt?

Vergangene Woche starteten wir mit Mathe. Noch bevor wir loslegten, fiel mir auf, dass Theo mit dem Filzstift seines Tintenkillers schrieb. „Wo ist denn dein Füller?“ fragte ich schon etwas ungeduldig. Theo geht mit seinen Arbeitsutensilien nicht sehr pfleglich um. „Ist der kaputt? Das musst du mir doch sagen!“ „Nein, der ist hier“, antwortete er mir und öffnete sein Etui. „Aber lass mich doch mit dem Killer schreiben.“ „Na gut“, dachte ich. Darauf kommt es jetzt nicht an.

Dann widmeten wir uns der Mathematik. Es ging um Multiplikationsregeln: Eine Zahl ist durch drei teilbar, wenn auch ihre Quersumme durch drei teilbar ist. Beispiel ist die 12. Wenn man die Ziffern Eins und Zwei addiert, kommt drei raus. Die Regel gilt auch für die Neun. Da muss die Quersumme halt neun ergeben. Für andere Zahlen, die Vier, die Acht, die Fünf, gelten andere Regeln.

Ich erinnerte mich an meinen Matheunterricht beim alten Herrn Wohlfahrt in der Orientierungsstufe (die es in Achtzigern in Niedersachsen noch gab) und war sofort Feuer und Flamme. Diese Regeln hatte ich begeistert angewandt.

Theo hatte sie sich zwar notiert, sie aber noch nicht verinnerlicht, was ich schnell merkte: „Das ist doch ganz einfach: Du musst es so und so machen“, sagte ich. „Ist ja gut, Papa, ich versuche das jetzt erstmal.“

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25. Okt. 2022
von Matthias Heinrich

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18. Okt. 2022
von Matthias Heinrich

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„Wir machen jetzt Teller abräumen advanced“

Hier muss mal jemand aufräumen. Kinder und Ordnung: Eine der großen elterlichen Herausforderungen

„Guck mal, was ich Tolles gefunden habe!“ Unsere Tochter Frida hat ein erstaunliches Talent entwickelt. Die bald Achtjährige ist unschlagbar darin, lange verschollene Dinge – meist Spielsachen – wieder aufzuspüren und uns diese lang verschollenen Dinge dann mit großem Enthusiasmus zu präsentieren. Dieses Mal war es ein hölzerner Spielkreisel, den sie in irgendeiner Kiste im Keller gefunden hatte und mir erwartungsvoll vor die Nase hielt. „Toll“, sagte ich und betrachtete das kleine Ding, das unsere Tochter prompt auf dem Boden rotieren ließ, ratlos. Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, das blaue Teil jemals gesehen, geschweige denn, vermisst zu haben. Aber das mag an meiner väterlichen Ignoranz liegen.

Woran ich mich aber genau erinnere: dass jener wunderbare, kleine, blaue Kreisel keine fünf Minuten später achtlos neben unserem Esstisch lag. Ich wäre beinahe draufgetreten. Unsere Tochter hörte ich oben in ihrem Zimmer vor sich hin summen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So läuft das leider fast immer. Sie findet etwas, begeistert sich dafür und verliert kurz darauf das Interesse. So ein bisschen wie ein Energieschub aus Zucker, der ja auch ruckzuck in sich zusammenfällt.

Ihr zwei Jahre älterer Bruder Theo steht ihr in nichts nach. Nur ist er nicht auf Spielsachen spezialisiert, sondern ein Allround-Talent: Er lässt einfach alles liegen. Und das macht vor allem mich wahnsinnig. Die meisten Eltern kennen das. Alles landet irgendwann im Meer, heißt es ja. Bei uns ist das Meer das Wohnzimmer. Wie viel Energie meine Frau und ich schon aufgebracht haben! Wie oft wir uns mit den Kindern auseinandergesetzt, Dinge immer wieder erklärt und Aufgaben verteilt haben! Ein bisschen ist das so wie Heizen mit offenem Fenster. Oft haben wir resigniert und schließlich selber aufgeräumt, weil wir das Chaos nicht ertragen konnten. Die Aufwand-Ertrag-Rechnung ist ernüchternd, geändert hat sich wenig.

Letztlich ist es wie immer: Der Weg zum Ziel führt über Schmerzen (keine körperlichen wohlgemerkt) und Entbehrung, über Bestechung und Erpressung. Wenn du deine Bude nicht aufräumst, darfst du nicht Fernsehen. Wenn du deine Klamotten nicht in den Schrank räumst und die schmutzigen nicht in den Wäschekorb wirfst, statt sie akribisch in deinem Zimmer zu verteilen, kürze ich deine Handyzeit. Meiner Frau und mir macht es keinen Spaß, in diese Rolle zu schlüpfen.  

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18. Okt. 2022
von Matthias Heinrich

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11. Okt. 2022
von Naima Nebel

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Tigermom trifft auf Hippie-Dad: Wie viel Hilfe braucht das Kind?

Zwischen Sommerferien und Herbstferien liegen in Hessen in diesem Schuljahr exakt sieben Wochen Unterrichtszeit. Dann heißt es für die Schüler*innen noch mal siebeneinhalb Wochen ackern, bevor die Weihnachtsferien losgehen, und schließlich noch vier Wochen Unterricht im neuen Jahr. Schon ist das erste Halbjahr rum. Ich weiß das so genau, weil ich mir diese Zeit strategisch einteilen muss, um dem Lernerfolg unseres Ältesten auf die Sprünge zu helfen.

Mein Wunscherziehungskonzept ist sehr nah an dem der Tigermom, aber mein Durchhaltevermögen reicht leider nicht aus. Außerdem gibt es in meiner Erziehung noch Einflüsse des kürzlich verstorbenen dänischen Familientherapeuten Jesper Juul und gewaltfreier Kommunikation, beides torpediert irgendwie das Durchziehen strenger Konsequenzen meinerseits, wie Tigermoms es schaffen. Mein Mann Basti spielt erziehungstechnisch eher so in den Teams Hippie und Laissez-faire.

Unser Erstgeborener, der elfjährige Amir, reagiert auf die Ansätze von Tigermom und Hippie genauso wie auf die Ansätze von Juul und Co.: Er sitzt sie aus. Amir lässt sich nicht davon abhalten, die Schule als Grundübel anzusehen. Schule scheint für ihn – positiv gesehen – der Ort zu sein, an dem er seine Verabredungen für den Nachmittag macht. Und realistisch betrachtet der Ort, an dem er sich a) langweilt, b) nicht weiß, was zu tun ist, und c) Misserfolge sammelt.

Im vergangenen Schuljahr haben wir es mit dosierter Strenge versucht und nahezu alle Hilfsangebote sowohl der Schule, als auch extern in Anspruch genommen. Montags gab es 90 Minuten Mathe mit Raoul, mittwochs Deutsch und Englisch bei Mandy, Dienstag und Donnerstag haben wir für Verabredungen freigehalten. Freitags ging es zum Turnen.

Beim Wäschezusammenlegen kann so mancher Kompromiss gefunden werden.

Die genannten Zeiträume zwischen den Ferien sind in meinem Kopf noch mal eingeteilt in Phasen, in denen ich bzw. wir – wenn ich meinen Mann dafür gewinne – mit Amir für die einzelnen Fächer lernen. Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Leserin, lieber Leser: Bevor ich Online-Portale wie Sofatutor und unterschiedliche Nachhilfeformate gefunden habe, dachte ich auch, unser Kind könnte einfach in die Schule gehen, zu Hause seine Hausaufgaben machen und die Schule so irgendwie hinter sich bringen. Im besten Fall hat Amir dort Spaß und das Lernen bereitet ihm Freude, andernfalls zieht er einfach durch. So unsere naive Vorstellung von Schule aus Elternperspektive. Leider gestaltet sich das nicht so einfach. Amir hasst Lernen, hasst Schule und hat dort auch keine gute Zeit. Punkt. Kurz vor den Arbeiten dämmert aber auch ihm, dass die Lücken sehr groß sind. Er sieht die Zeit davonrennen, findet keinen Zugang zum Lernstoff und ist so gestresst, dass er kaum schlafen kann. Sitzenbleiben, Schule wechseln? Alles keine Option, ein Leben ohne seine jetzigen Klassenkameraden als Klassenkameraden sieht er als Super-GAU.

Der Stress, den Amirs schulisches Sein und mein dazugehöriges Engagement in unser Leben bringt, ruft meinen Mann auf den Plan.

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11. Okt. 2022
von Naima Nebel

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04. Okt. 2022
von Matthias Heinrich

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Elterntaxis: Auf dem Highway ist die Hölle los

„Auf dem Highway ist die Hölle los“ (im amerikanischen Original „Cannonball Run“) ist ein klamaukiger Actionstreifen aus den frühen Achtzigern. Als Kind habe ich ihn geliebt. Es geht um ein sinnloses Autorennen mit irren Verfolgungsjagden, durchbrochenen Polizeisperren, jeder Menge zerstörtem Blech und noch mehr zotigen Sprüchen. Möglich, dass man ihn als Vorgänger von „The Fast and The Furious“ betrachten könnte. Ich habe keine Ahnung, von denen habe ich keinen gesehen. Die Stärke von „Auf dem Highway ist die Hölle los“ ist seine Besetzung: Die Darsteller reißen ihr eigenes Image vom Sockel. Dean Martin gibt einen trunksüchtigen Pfarrer, Roger Moore spielt sich selbst als Pseudo-Bond mit heilloser Selbstüberschätzung, Jackie Chan einen kampfwütigen Ninja-Raser und der wunderbare Burt Reynolds ist wie sooft die fleischgewordene Selbstironie.

Der Fürther Weg ist eine ganz normale Straße in unserem Städtchen. Er hat nicht einmal einen Mittelstreifen, dafür ist er nicht breit genug. Mehr als 23 Stunden am Tag geht es auf dem Fürther Weg ausgesprochen ruhig zu. Wenn jemand auf die Idee käme, hier einen Film zu drehen, dann sicher kein Actionstreifen. Eher etwas mit Bjarne Mädel, der auf einer Mofa mit Tempo 15 durch die einsame Gegend tuckert.

Am Morgen allerdings, zwischen halb acht und acht Uhr, würde Bjarne Mädel mit seiner Mofa das Weite suchen oder sich wünschen, sein Bock könnte fünfzig fahren, damit er schnell von hier wegkäme. Morgens zwischen halb acht und acht verwandelt sich der Fürther Weg in einen proppevollen Highway – nicht „to Hell“, sondern „zur Schule“. Aber die Hölle ist hier trotzdem los. Stoßstange an Stoßstange schieben Autos den Berg hinauf. Am Fürther Weg liegt das Schulzentrum. Realschule, Grundschule und Gymnasium – rund zweitausend Schüler kommen allmorgendlich hierher, aus der Stadt und den umliegenden Siedlungen. Bevor jemand fragt: Ja, es gibt Busse, reichlich sogar. Sternförmig fahren sie den Hügel zum Schulzentrum hinauf. Trotzdem stauen sich die Elterntaxis jeden Morgen auf dem Fürther Weg.

Der Schulweg zu Fuß hat seine Tücken. Die meisten heißen Autos.
Der Schulweg zu Fuß hat seine Tücken. Die meisten heißen Autos.

Jeden Morgen bringe ich unsere Tochter Frida bis zur Schulpforte. Das hat sich zu einem Ritual entwickelt. Der Weg ist nicht weit. Von unserer Haustür bis zur Schule sind es ein paar hundert Meter. Dabei müssen wir einmal über den Fürther Weg, also den Highway. Wenn Frida, die in die zweite Klasse geht, alleine drüber müsste, würde sie jeden Morgen zu spät kommen. Es braucht oft elterliche Energie, gestählt durch sechs Jahren im Berliner Großstadtdschungel, um über die Straße zu kommen. Allein möchte ich das dem Kind nicht zumuten. Es gibt zwar Schülerlotsen, die die Kinder über die Straße leiten. Aber die stehen Hunderte Meter weiter hinten vor dem Gymnasium und nicht an der Grundschule, wo es sinnvoller wäre.

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04. Okt. 2022
von Matthias Heinrich

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27. Sep. 2022
von Sonia Heldt

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„Ich will kein Einzelkind sein“

Am Wochenende waren wir unterwegs. Als Familie. Vater. Mutter. Kind 1. Kind 2. Ich genieße diese Tage, an denen wir alle zusammen etwas Schönes unternehmen, denn es ist nicht mehr die Regel, sondern eher die Ausnahme. Unsere Familiensituation wandelt sich. Offiziell haben mein Mann und ich nur noch ein Kind – die vierzehnjährige Maya. Außerdem lebt in unserem Haus eine Volljährige. Lara, unser großes Kind, ist offiziell erwachsen und inoffiziell auf dem Weg dorthin. Lara macht nächstes Jahr ihr Abi und hat schon angekündigt, dass sie dann erst einmal ein bisschen ins Ausland möchte.

Work and Travel, Jobben, vielleicht ein Praktikum, bevor sie sich entscheidet, wie es für sie weitergehen soll. Lara ist schwer beschäftigt. Lernen. Geldverdienen. Freund. Freundinnen. An manchen Tagen ist sie zu Hause nur auf der Durchreise. Immer häufiger müssen wir sie aus unseren Familienaktivitäten ausklammern, weil es terminlich nicht bei ihr passt oder sie schlicht keine Lust hat. Man weiß inzwischen nicht mehr genau, wann oder ob sie überhaupt zum Essen kommt  und ob sie zu Hause schläft. An den Wochenenden sitzen wir zu dritt vor dem Fernseher: Mein Mann, Maya und ich.

Maya hat sich inzwischen daran gewöhnt. Vor drei Jahren habe ich in meinem Blog „Goodbye Kindheit – Erwachsen werden ist nicht einfach“ davon erzählt, wie schwer es für Maya war (und hin und wieder immer noch ist), ihre Schwester als Spielgefährtin und engste Freundin teilweise zu verlieren. Damals waren die Mädchen fünfzehn und elf Jahre alt. Inzwischen ist Maya selbst fast fünfzehn und spielt nicht mehr. Aber Lara ist ihr schon wieder einen Schritt auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden voraus.  

Vor einigen Monaten wollten wir ins Musical: Rocky Horror Picture Show. Die Vorstellung wurde Corona-bedingt in den letzten zwei Jahren wiederholt verlegt. Nun konnte die Show endlich stattfinden. Ich hatte vier Karten, aber Lara gab uns einen Korb. Sie war eingeladen. Außerdem, sagte sie, hätte sie den Termin nie zugesagt und ihn sich deswegen nicht geblockt. Wir konnten ihr keinen Vorwurf machen, denn es stimmte. Ich hatte sie damals, als ich die Karten buchte, einfach miteingeplant. So, wie ich Lara früher immer wie selbstverständlich einplante, als sie noch jünger, und ihre Freizeit nicht so getaktet war wie heute.

Ich war nicht die Einzige, die traurig über ihre Absage war. Besonders Maya hatte sich auf den Abend gefreut. Erst wollten wir das Theater besuchen und danach Essen gehen. Es sollte ein schöner, besonderer Familienabend werden. Bis zum Schluss hatte ich gehofft, Lara würde es sich überlegen, aber das tat sie nicht.

Maya war schwer enttäuscht. „Was? Lara geht nicht mit? Was mache ich denn jetzt?“

Sie wollte sich flippig-schick aufbrezeln, so wie es sich für die Rocky Horror Picture Show gehört. Sie wollte Zeitung, Klopapier und Konfetti mitnehmen. Aber so alleine, würde sie sich doof vorkommen, sagte sie. Wir schlugen Maya vor, eine Freundin mitzunehmen und waren froh, als Freundin Lisa spontan Zeit und Lust hatte. Die zwei Mädchen hatten großen Spaß. Es war nicht der Familienabend, wie er ursprünglich geplant war. Aber er ging in Ordnung, weil die Zusammenstellung – zwei Erwachsene, zwei Jugendliche – stimmte.

Die Mädchen nippten im Foyer an ihrer Cola, schossen Fotos und liefen giggelnd herum, während mein Mann und ich unser Bier an einem Stehtisch tranken und uns unterhielten. Die Mädchen hatten Spaß, mit den Wasserpistolen ins Publikum zu spritzen (war ausdrücklich erlaubt) und Konfetti in die Luft zu schmeißen. Danach gab es eine Pommes auf die Hand und wir fuhren Lisa nach Hause. Ein schöner Abend, der sich fast so anfühlte wie immer, weil wir für Lara einen Ersatz gefunden hatten.

Die Planung unseres Sommerurlaubes gestaltete sich dieses Jahr dann richtig schwierig. Lara hatte ihre Ferien schon durchgetaktet: Erst ging es Anfang der Ferien mit ihren Freundinnen nach Spanien. Am Ende stand Urlaub mit ihrem Freund an. Zwischendurch Geburtstags- und Sommerpartys, auf denen sie unabkömmlich war. „Klar, fahre ich mit euch in den Urlaub, wenn es zeitlich bei mir hinhaut“, sagte sie. „Aber nehmt bloß keine Rücksicht auf mich. Ich komme mit, wenn es passt. Und wenn nicht, dann fahrt ohne mich.“

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27. Sep. 2022
von Sonia Heldt

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20. Sep. 2022
von Naima Nebel

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Ausgesetzter Anstand II

In der Wachstumsphase: Jede Spielzeit brauchen Kinder neue Fußballschuhe.
In der Wachstumsphase: Jede Spielzeit brauchen Kinder neue Fußballschuhe.

Pünktlich zur neuen Saison sind Malik mal wieder seine Fußballschuhe zu kleine geworden. Meinem Gefühl nach ist das Preisschild im Schuh noch intakt, so schnell wächst dieses Kind. Wir – Malik, ich und die kleine Samra – laufen in der Kasseler Innenstadt von einem Schuhgeschäft zum nächsten, als Malik kurz „Hey“ ruft, um dann, für mich ganz zusammenhangslos, zu erklären: „Siehst du, das mag ich nicht.“ Ich versuche mich zu erinnern, ob wir gerade in einem Gespräch waren und ich mal wieder so in Gedanken war, dass ich meinem Sohn nicht zugehört habe. „Was magst du nicht? Was soll ich sehen?“, frage ich, um meine vermeintliche Unaufmerksamkeit ein bisschen wettzumachen. „Den Mann in dem grünen Hemd, der hat mir einfach auf den Kopf gefasst“, antwortet Malik mit einer gewissen Entrüstung.

Malik ist für sein Alter recht klein gewachsen und wird jünger geschätzt als seine neun Jahre. Aber einfach im Vorbeigehen über den Kopf zu streicheln, das geht nicht, bei keinem fremden Kind gleich welchen Alters. Ich versuche, noch einen Blick auf den Herrn im grünen Hemd zu erhaschen. Noch wichtiger ist mir aber, mein Kind zu beruhigen und zu stärken. „Das kann ich verstehen, ich hasse es auch, wenn mir jemand einfach auf den Kopf fasst. Manche Erwachsene denken einfach nicht nach und machen komische Sachen“, stammle ich vor mich hin und betrachte die großen Korkenzieherlocken meines Sohnes. Ich sehe schon das Gespräch auf mich zu kommen. Das Gespräch, in dem ich ihm erklären werde, dass sein Äußeres im Allgemeinen und seine Haare im Besonderen Gegenstand merkwürdiger Begegnungen und Gespräche sein können. Dass es nichts mit ihm persönlich zu tun hat, dass er toll ist, wie er ist, und immer wieder Grenzen setzen darf und muss. Ich werde von rassifizierten Gedanken, Othering, Tokenism, von Übergriffigkeit, von Adultismus sprechen. Ich werde ihm erzählen von den etlichen Malen, bei denen ich plötzlich eine Hand in meinem Afro fühlte, gefolgt von gestammelten Erklärungen eines weißen Menschen: „die fühlen sich aber toll an“, „ich musste einfach mal reingreifen“ und ähnlich irritierende Aussagen. Dass das nicht in Ordnung ist, dass es aber passieren kann. Aber im Moment geht es erstmal um die Fußballschuhe.

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20. Sep. 2022
von Naima Nebel

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09. Sep. 2022
von Matthias Heinrich

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Eine Nacht im Kinderheim

Neulich haben uns unsere Kinder wieder einmal zur Weißglut gebracht. Das Übliche: Zimmer nicht aufgeräumt, Teller nicht in die Spüle gebracht, das Zu-Bett-Gehen in die Länge gezogen. Alles trotz mehrfacher Aufforderung und mit ewig langen Diskussionen. Es sind immer die gleichen Kämpfe, für die ich manchmal keine Kraft und auch keine Geduld habe. Es ärgert mich, dass ich sie ständig austragen muss, wo es einer Sieben- und erst recht einem Neunjährigen doch inzwischen klar sein sollte, wieviel einfacher unser Leben wäre, wenn sie sich an ein paar Regeln halten würden.

Als sie irgendwann schliefen, saß ich frustriert im Sessel. Unseren Kindern geht es zu gut, dachte ich. Im Grunde haben und bekommen sie alles, was sie wollen: Liebe und Aufmerksamkeit, Fernsehen und Süßigkeiten – letzteres in Maßen natürlich, aber es gibt wirklich wenige Dinge, die wir verbieten. Trotzdem halten sie sich nicht an einfache Absprachen. Sie brauchen Grenzen, sie müssen verstehen, wie gut sie es im Vergleich zu anderen haben. „Eine Nacht im Kinderheim“, dachte ich, „das würde helfen.“

Anfang der Achtzigerjahre bin ich mit meinen Eltern in ein Einfamilienhaus gezogen. Die Straße war ruhig, eine Sackgasse mit einem Wendehammer. Wir wohnten direkt neben einem Kinderheim. Keines dieser Kurheime, in denen Kinder aus dem Ruhrgebiet vier Wochen lang untergebracht wurden, um endlich einmal „gute“ Luft zu atmen, sondern ein richtiges Kinderheim. Hier lebten Kinder und Jugendliche, deren Eltern nichts von ihnen wissen wollten, gestorben waren, oder vor denen sie hatten in Sicherheit gebracht werden müssen.

In der Vorschule war ein Mädchen aus diesem Kinderheim in meiner Gruppe. Die Haut an einem ihrer Arme bestand im Grunde aus einer einzigen, riesigen Narbe. Sie sagte uns, sie habe als Kleinkind einen Topf mit kochendem Wasser vom Herd gezogen. Später erfuhren wir, was wirklich passiert war. Man kann es sich nicht vorstellen. Irgendwann, noch vor der Einschulung, war das Mädchen verschwunden. Sie sei in eine Familie gekommen, hieß es.

In unserer neuen Umgebung waren meine Schwester und ich natürlich neugierig auf die vielen Kinder, die nebenan unter einem großen Dach wohnten. Die Bewohner waren zwischen vier und neunzehn Jahren alt. Ich freundete mich mit einem Jungen an, Hans-Peter. Er war zwei Jahre älter als ich, wir gingen aber trotzdem in dieselbe Klasse. Morgens liefen alle Kinder aus der Straße, die meisten aus dem Heim, gemeinsam zur Grundschule. Zehn, zwölf Leute waren wir, zwischen sechs und elf Jahren alt.

Wenn unsere Eltern ausgingen, passten unterschiedliche ältere Mädchen aus dem Kinderheim auf uns auf. Allesamt Teenager kurz vor der Volljährigkeit, die etwas Taschengeld verdienen wollten. Das war immer toll. Es gab Chips und Fanta, wir spielten irgendetwas und durften länger aufbleiben. Es waren gute Abende.

Einmal haben meine Schwester und ich sogar in dem Kinderheim übernachtet. Es war an Silvester, offenbar fand sich niemand zum Babysitten. Wir waren etwa sieben und zehn Jahre alt, wie meine Kinder heute.

Die Heimbewohner bekamen erst eigene Zimmer, wenn sie älter wurden, wenn ich mich richtig erinnere. Etwa mit dem Erreichen der Pubertät. Vorher schliefen sie zu dritt oder zu viert in einem Raum. So wurden auch meine Schwester und ich zusammen mit zwei anderen Kindern untergebracht. Zur Begrüßung gab mir Ralf, ein kleiner, schmächtiger Junge mit einem Sprachfehler, unvermittelt eine Ohrfeige. Einfach so. Ich kannte Ralf vom Spielen auf der Straße. Er ging nicht auf die Grund-, sondern zur „Sonderschule“, wie damals alle sagten. Ralf glich fehlende Größe und sein sprachliches Handicap mit Lautstärke und Entschlossenheit aus. Körperlich war ich ihm überlegen, aber die Ohrfeige kam aus dem Nichts und hatte mich erschreckt. Im Rückblick ist mir klar, dass er sein Revier verteidigen oder markieren wollte. Im Sinne von: Da draußen ist eine Welt, aber hier im Heim gelten andere Regeln.

Das wurde im Laufe des Abends deutlich. Alle Kinder buhlten um die Gunst beziehungsweise die Aufmerksamkeit der Erzieherinnen. Es wurde gepetzt, geschlagen, hinterhältig gekniffen, markiert oder einfach provoziert. Wenn einer etwas Tolles gemacht hatte – Hans-Peter konnte sehr gut mit Lego bauen –, machte es ein anderer kaputt. Tränen, Wut, Frust, Grausamkeit.

Irgendwann später am Abend kam die Rache. Es gab ewige Opfer und raffinierte Täter. Jeder kämpfte auf seine Weise um ein bisschen Platz in dieser Zweckgemeinschaft. Die Erzieherinnen waren zu meiner Schwester und mir freundlich, aber sehr streng zu den Kindern. Sie setzten Ermahnungen, Drohungen und viele böse Blicke ein. Und im Rückblick fehlten vor allem Zuneigung und Liebe. Es gab aufmunternde Worte und Trost, aber keine Umarmung oder kein Streicheln.

Den Erzieherinnen kann man sicher kaum einen Vorwurf machen. Sie haben die Kinder versorgt, mit ihnen gelernt, gespielt und mit dem, was sie zur Verfügung hatten, versucht, sie auf den Weg für das Leben zu bringen. Aber sie haben sich auch einen emotionalen Schutzpanzer zugelegt, möglicherweise, weil sie die Geschichten der Kinder kannten und das nur mit äußerlicher Härte verbergen konnten. Und ganz sicher, wieder ohne Vorwurf, war auch Überforderung mit den vielen Kindern im Spiel.

Ich kann mich an den Geruch in dem Heim erinnern. Wahrscheinlich ein Waschmittel oder ein Reiniger. Wirklich alles roch danach, die Räume, die Betten, die Kinder. Süß und herb und irgendwie chemisch lag er in der Luft, als wollte er etwas verdecken. Niemals werde ich ihn vergessen.

An die Nacht in dem Kinderheim habe ich keine Erinnerung, wohl aber an den Morgen. Ralf weckte meine Schwester mit einer Ohrfeige. Nach dem Frühstück holten unsere Eltern uns ab. Danach spielten wir den ganzen Tag in unseren Zimmern, sprachen aber nicht mehr über die Übernachtung. Ich weiß noch, wie ich mit den Playmobil-Cowboys auf Bärenjagd ging und einfach glücklich war, dass das alles allein mein Spielzeug war und mir niemand etwas wegnahm.

Meine Schwester und ich haben einen dieser Tage miterlebt. Für die Bewohner gab es davon 365 im Jahr, über viele Jahre hinweg. Es muss unglaublich hart gewesen sein, in diesem unendlichen Kampf groß zu werden, mit anderen Kindern eng zusammenzuleben, die aber nicht Schwester und nicht Bruder sind, sondern ewige Widersacher. Freundschaften gab es, so viel ich mich erinnere, kaum unter den Bewohnern. Jeder versuchte, sein eigenes kleines Feld zu erobern.  

Das Kinderheim gibt es schon lange nicht mehr. Einige der ehemaligen Bewohner leben noch in der Gegend. Ein paar haben eigene Familien. Manchmal treffe ich jemanden, und wir unterhalten uns oberflächlich. Den Kontakt zu Hans-Peter habe ich schon vor Jahrzehnten verloren. Nach der Orientierungsstufe trennten sich unsere Wege allmählich. Ich weiß noch, dass ich ihn irgendwann besuchte, als er im Heim sein eigenes Zimmer hatte und die Pet Shop Boys und Tears for Fears liebte. Die Kassetten waren sein ganzer Stolz. Um seinem Rekorder hatte er einen bunten Panzer aus Legosteinen gebaut.

Ich bin dankbar, diese Kinder und dieses Kinderheim erlebt zu haben. Unsere Eltern haben sich damals, Anfang der Achtziger, wenig Gedanken gemacht. Es war eine pragmatische Lösung. Sie wollten ausgehen, da konnten sie ihre Kinder für eine Nacht unterbringen, also haben sie das gemacht. Ein weiteres Mal stand nie zur Debatte. Ich vermute, dass wir ihnen irgendwann doch von unseren Heimerlebnissen erzählt haben.

Was wir damals erlebt haben, war ein ungewolltes Experiment, das unsere Eltern sicher nicht im Sinn hatten. Heutige Elterngenerationen würden sicherlich vorher hinterfragen, ob ihre Lust auszugehen unser Erlebnis rechtfertigen würde. Im Rückblick fühlt es sich an wie ein Zoobesuch, bei dem wir die Perspektive des Tieres erlebten und der mit der Botschaft verbunden war: So willst du doch nicht leben, Kind!

Die Realität der Kinder in dem Heim war hart und beschwerlich, karg an positiven Erlebnissen und voller Entbehrungen und Enttäuschungen. Niemand hat das Recht, aus ihrer Notlage einen Nutzen zu ziehen. Wenn ich aber das unbeschwerte Leben meiner Kinder sehe, in dem Härten und Entbehrungen so gar nicht vorkommen, denke ich manchmal, so eine Nacht zu erleben, wie sie benachteiligte Jugendliche immer erleben müssen, täte ihnen für einen realistischen Blick auf die Welt ganz gut.

09. Sep. 2022
von Matthias Heinrich

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02. Aug. 2022
von Naima Nebel

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Ausgesetzter Anstand

Seit ich mit ungefähr sechs Jahren nach Deutschland gekommen bin, bin ich es gewohnt, sobald ich den Raum betrete in irgendeiner Form angestarrt zu werden. Nicht in meinen Safe Spaces wie bei meinen Eltern, bei uns zu Hause oder auch bei manchen Freundinnen, aber ob ich in der Bahn zur Arbeit fahre, beim Metzger Gelbwurst kaufe oder im Wartezimmer beim Orthopäden bin: Leute starren mich an. Bevor jetzt die Kommentarspalte aus allen Nähten platzt: Sicherlich werden Sie, verehrte Leser*innen beispielsweise im Sudan als weiße Person auch angeschaut, Kinder werden vielleicht sogar um sie herumlaufen. Aber in der Regel schauen die Leute nach kurzer Zeit wieder weg. Es gibt eben einen grundlegenden Unterschied zwischen Schauen und Starren.

Ich finde mich nicht besonders ungewöhnlich: Ich bin nicht auffällig dick oder dünn, groß oder klein, laut oder leise. Ich bin einfach ich. Ich bin eine schwarze Frau mit Afro. Aber so einfach ist das leider nicht – und vor allem nicht, wenn ich mit „all meinen Kindern“ einen Ort in unserer Heimatstadt Kassel aufsuche.

Wir haben 15. Hochzeitstag, und den wollten wir beim Italiener um die Ecke feiern. Wir, das umfasst meinen weißen Mann, mich schwarze Frau und unsere drei schwarzen Kinder. „Enzos“ liegt unweit unserer Wohnung nahe des Zentrums von Kassel in einem schönen Viertel mit vielen Gebäuden aus der Gründerzeit. Es ist eher hochpreisig, aber manchmal gönnen wir uns das eben. Mit dem Restaurant verbinden wir besondere Erinnerungen.

Hier habe ich „Ja“ zu meinem Mann gesagt, hier haben wir den Siebzigsten meiner Mutter gefeiert, und hier lieben wir das Tiramisu.  Enzo begrüßt uns wie Familie. Während mein Mann mit Enzo locker Small Talk betreibt, spüre ich die Blicke der zwei älteren Damen auf ein Uhr. Erst starren sie mich an und blicken dann von einem Kind zum anderen. Es ist nicht das neugierige, kurze Schauen, wer da noch ins Restaurant kommt. Es ist ein unverhohlenes, durchdringendes und nicht enden wollendes Starren. Sie legen ihr Besteck ab, nehmen ihre Stoffservietten vom Schoß, putzen sich die Mundwinkel und ihr Blick bleibt dabei auf uns heften. Ich schüttle leicht den Kopf, als würde ich die Blicke abschütteln können. „Popcorn, Ladies?“, schießt es mir durch den Kopf.

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02. Aug. 2022
von Naima Nebel

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28. Jul. 2022
von Chiara Schmucker

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Wie Michel und andere Klassiker auf dem Index landeten

Zornesrot und brüllend hüpft der Vater auf einem Bein durch die Küche, am Zeh eine Mausefalle. Der kleine Sohn liegt noch im Bett und strahlt glücklich. Er glaubt, mit der Falle eine Ratte gefangen zu haben. In Sekunden dreht sich die Situation. Nicht die Ratte, den Vater hat er verletzt, und darauf wird sogleich eine Strafe folgen, das weiß er wohl.

Die Mutter zerrt ihn eilig aus dem Bett, huschhusch, schnell in den Schuppen, bring dich in Sicherheit vor dem gewalttätigen, cholerischen, zu allem fähigen Rotköpfigen. Das Kind reißt sich los, es hat sein Holzgewehr vergessen, und dann rennen sie gemeinsam über den Hof. Das Kind an der Hand der Mutter, es trägt noch sein Nachthemd und hat keine Schuhe an. Kaum ist die Tür vom Schuppen zu, atmet die Mutter durch, streicht sich Haare und Schürze glatt und schließt auf dem Weg zurück ins Haus noch ordentlich das Gartentörchen.

„Wie kommt der Junge denn jetzt wieder raus?“, fragt mein Sohn ängstlich und schaut mich mit großen Augen an. „Die Mama hat doch das Tor abgeschlossen.“ „Schau, gleich darf er wieder raus“, sagte ich ermutigend. Doch in den Minuten, die wir noch weiterschauen, muss der kleine Kerl gleich zwei weitere Male in die Scheune.

Während die anderen lachen, spielen oder in der Sonne liegen, und die gruselige Großmutter den Tratsch über das unerzogene Kind im Dorf verbreitet, sitzt besagtes Kind bis Sonnenuntergang in einem immer dunkler werdenden Schuppen, immer noch im Nachthemd, bis es in seiner Not durch den Kamin aufs Dach klettert. Der Angestellte auf dem Hof, nicht der Vater, holt das Kind runter und geht mit ihm schwimmen. Dann ist die Sendung endlich vorbei.

Ich habe Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf und alle anderen Bücher von Astrid Lindgren geliebt, als ich ein Kind war. Doch seit ich selbst Kinder habe, kann ich es kaum ertragen zuzusehen, wie die Mutter das Kind vor dem Zugriff des Vaters „schützt“, indem sie es in den Schuppen sperrt.

Wie die dreckstarrenden Alten im Armenhaus halb verhungern, die Erwachsenen fluchen, das lästige Kind zur Seite schieben oder es mit einer Holzpantine in der Hand über den Hof jagen. Pippi, in der die Nachbarn nur das unerzogene Kind sehen, die ganz alleine lebt und selbst ihre besten Freunde mit Vorliebe an der Nase herumführt, bis diese vor Sorge Bauchschmerzen bekommen. Die so nah ums Lagerfeuer tanzt, dass sie sich selbst in Gefahr bringt, Nägel isst und Polizisten wie Banditen gerne mal durch die Luft schleudert, wenn die ihr blöd kommen.

Auch mit anderen Perlen meiner Kindheit geht es mir so. Der krummbeinige Max aus den Büchern von Barbro Lindgren-Enskog, der mit viel Verve der Ente auf den Hinterkopf haut, um seinen Schnuller wiederzubekommen, oder dem Nachbarskind im Kampf um ein Auto kräftig an den Haaren zieht – ich mag ihn nicht mehr leiden. Rotkäppchen und der böse Wolf, bei dem wir versuchten, das Blutige zu verändern und am Ende nicht mehr den Weg zurück in die Geschichte fanden, warum die Großmutter jetzt im Bauch und der Wolf erschossen ist.

Vielleicht bin ich spießig geworden, seit ich Kinder habe, übervorsichtig oder überbehütend. Dabei mag auch ich anarchische Bücher, zum Beispiel das vom kleinen Drachen Finn, der mit seinem Feuer alles pulverisiert, wenn er sich aufregt, oder von der frechen Horde Tiere, die alle mit in die Wanne springen, als der Wal ein Bad nimmt.

Ich bin sicher nicht die Fraktion Conni-Kinderbuch, in dem nur die heile Welt wiedergekäut und Alltägliches durchgespielt wird, gerne mit guter Moral und Lehrelementen. Conni geht in den Kindergarten, Conni geht zum Zahnarzt, solche Sachen. Und dennoch will ich meinen Vierjährigen nicht mit schwarzer Pädagogik im Gewand traditionsgemäß wertvoller Kinderbuchliteratur allein lassen. Ich akzeptiere nicht, dass im echten Leben gehauen, getreten oder weggeschaut wird – ich will das auch in Büchern nicht, die ich meinem Kind vorlese.

Dass das aber offenbar nicht erzieherischer Konsens ist, stellten wir neulich im Museum fest. In einer Märchenführung fand eine Geschichte ihren Höhepunkt darin, dass ein Prinz das Nachbarsmädchen erst zwang, ihn zu heiraten, „um sie so richtig zu ärgern“, und sie dann in der Hochzeitsnacht zu erstechen versuchte. Ironischerweise hatte sie das schon befürchtet und sich vorsorglich aus Kuchenteig nachgebacken, sodass niemand zu Schaden kam.

Nach dem Angriff sprang sie aus ihrem Versteck und sagte: „Jetzt können wir endlich glücklich sein.“ Wir brachen die Führung ab und im Nachgang schrieb ich der Museumspädagogin, dass ich solche Geschichten in Zeiten von #Metoo, Debatten um Gleichberechtigung und gewaltfreier Erziehung nicht zeitgemäß finde.

Man kann mich dafür auslachen, belächeln oder mir unterstellen, keine Ironie zu verstehen, keinen Humor zu haben und meinen Kindern nichts zuzutrauen, wie es Eltern vorgeworfen wird, die die Max-Bücher im Internet ebenfalls als ungeeignet bewertet haben. Doch das ist mir egal. Nur weil etwas einmal gut war, oder es uns offenbar auch nicht geschadet hat, muss ich nicht auf den gleichen Wegen weitergehen. Ich kann auch meinen eigenen wählen.

Die Michel-Frage hatte sich übrigens von selbst erledigt. „Das will ich nicht mehr schauen, Mama“, sagte mir Max danach. „Das war total langweilig.“

28. Jul. 2022
von Chiara Schmucker

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19. Jul. 2022
von Philipp Krohn

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Juli ist der neue Advent

In wenigen Minuten zur Schmetterlingsfee: Ein Mädchen wird geschminkt.

Wir sind entwöhnt. Das zeigt sich daran, dass wir nicht mehr einschätzen können, wie viele Veranstaltungen wirklich viel sind. Mit „wir“ ist unsere Familie gemeint, zwei Erwachsene und drei Kinder im Alter zwischen gerade sechs und schon etwas länger elf. Wir hängen gerade in einer Zwischenwelt: noch nicht aus Corona raus, aber auch noch nicht wieder in der Welt drin, die viele Jahre als normal galt.

Neulich war so ein Tag. Der Geburtstag des Mittleren musste nachgefeiert werden. An einem Samstag, an dem es besser passt als unter der Woche. Das erste und einzige Mal Kindergeburtstag im Indoor-Spielplatz. Schon Einladungen zu schreiben war herausfordernd. Denn auf das Kärtchen hatte er geschrieben, dass alle Kinder um 14.30 Uhr abgeholt werden sollten. Aber dann wäre es unmöglich gewesen, rechtzeitig bei der Kindergartenfeier mit Musikaufführung des Jüngsten aufzutauchen.

Also schrieben wir die Planänderung auf den Umschlag – in der Hoffnung, dass alle Eltern die widersprüchlichen Botschaften entschlüsseln würden. Trotzdem fragten wir uns, ob die dreieinhalb Stunden für Rutschen, Springen, Pommes reichen würden. Als die Kinder verschwitzt den letzten Rest Slush-Ice auslöffelten und die ersten Eltern kamen, wussten wir, dass alles richtig war.

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19. Jul. 2022
von Philipp Krohn

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12. Jul. 2022
von Matthias Heinrich

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Das bayerische Grundschul-Abitur

Endlich geschafft: Zeugnistag für Viertklässler an einer Grundschule im niederbayerischen Straubing
Endlich geschafft: Zeugnistag für Viertklässler an einer Grundschule im niederbayerischen Straubing

Bayern ist kein typisches Bundesland. Bayern ist anders, speziell. Das weiß man ja – zumindest wissen es diejenigen, die nicht aus Bayern kommen. In Brandenburg und Berlin, wo wir bis vor drei Jahren gewohnt haben, dauert die Grundschulzeit sechs Jahre. Das kann man gut oder schlecht finden, es ist halt so. In anderen Ländern, etwa in Niedersachsen, entscheiden letztlich die Eltern, welche Schule ihr Nachwuchs nach der 4. Klasse besucht. Die Noten bilden nur die Grundlage für eine Empfehlung. Wer meint, trotz Viererschnitts einen Hochbegabten großzuziehen, kann sein Kind auch damit aufs Gymnasium schicken.

In Bayern ist das anders. Da entscheidet ausschließlich der Notenschnitt, wohin die Reise geht. Die entscheidenden Fächer sind Deutsch, Mathematik und HSU (Heimat- und Sachunterricht). Stichtag ist der 1. Mai, dann stehen die Noten fest, dann bekommen die Schüler das Übergangszeugnis. Wer darin einen Schnitt von 2,33 oder besser hat (das sind etwa zwei Zweier und ein Dreier), hat freie Schulwahl, darf also aufs Gymnasium. Wer darüber liegt, aber noch unter 2,66, der geht zur Realschule. Wer auch darüber liegt, geht in die Mittelschule. Zwar haben Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, durch den sogenannten Probeunterricht die Qualifikation für die gewünschte Schule nachträglich zu erlangen. Aber natürlich möchte sich jeder diesen Umweg gerne ersparen.

Leserinnen und Leser können sich vorstellen, dass das ein recht ordentliches Druckszenario für Schüler bedeutet. Zudem wird die Zahl der „Proben“, so nennen die Bayern ihre Klassenarbeiten, in der vierten Klasse deutlich erhöht. „Da wird ordentlich gesiebt“, wie uns ein befreundeter Lehrer wissen ließ. Wobei das Wort „Probe“ an sich schon ein Witz ist. Theaterfreunde wissen, dass ein neues Stück monatelang geprobt wird, dass es am Ende eine Hauptprobe und vor der Premiere eine Generalprobe gibt, bei der das Stück zum ersten Mal richtig sitzen muss. Es ist trotzdem aber noch eine Probe. Das sind die Proben in der Grundschule in Bayern nicht. Wer da versagt, wird ausgebuht und zwar von den Lehrern, in Form einer schlechten Note. Nicht nur so zur Probe, sondern ganz real.

Uns war dieses Szenario für das letzte Grundschuljahr unseres Sohnes überhaupt nicht bewusst. Nach sechs Jahren in Berlin, unserer eigenen Schulzeit in Niedersachsen und einer endlosen Corona-Schleife, die wir nach wochenlangem Homeschooling gott- und lehrerverlassen irgendwie überstanden hatten, dachten wir eigentlich, vor allem gefeit zu sein. Spätestens im Herbst sah es anders aus. Nach der dritten Deutsch-Probe innerhalb von drei Wochen fragte ich eine Mutter mit älteren Kindern, ob diese Taktung normal sei in Bayern. „Ja, ja“, antwortete sie. „Jetzt geht es um die Wurscht. Die Proben folgen im Stakkato. Man spricht auch vom ‚Bayerischen Grundschul-Abitur’“.

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12. Jul. 2022
von Matthias Heinrich

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05. Jul. 2022
von Naima Nebel

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Endliche Gastfreundschaft

Seit ein paar Wochen gibt es für unseren neunjährigen Zweitgeborenen nur noch Verabredungen mit Leo. Malik geht mit Leos Familie ins Schwimmbad, nach dem Hort treffen sie sich auf dem Bolzplatz, Leo schaut sogar mit unserer Jüngsten „Paw Patrol“. Es ist, als ob es Malik und Leo nur noch im Doppelpack gibt, mal bei uns, mal bei Leo. Was mich aber schon während ihrer Beste-Freunde-Zeit im Kindergarten kirre gemacht hat, zeigt sich jetzt wieder: Leos Eltern beenden die Treffen, wenn Malik bei ihnen ist, grundsätzlich kurz vor dem Abendessen.

Einfach ein Teller mehr: Gedeckt wäre der Tisch schnell.
Einfach ein Teller mehr: Gedeckt wäre der Tisch schnell.

Letzten Mittwoch kam Malik aber deutlich nach dem Abendessen heim. Wortlos zog er die Schuhe aus, warf seine Jacke ins Kinderzimmer und inspizierte die Reste unseres Abendbrots in der Küche. Wir waren gerade am Abräumen, und Malik schnappte sich hier eine Paprika, dippte da Brot in Foul und nahm sich letztlich einen Apfel. „Hast du noch Hunger?“ frage ich, während ich die Spülmaschine einräume. Neugierige Mutter, die ich bin, will ich wissen, was es bei Leo zu essen gab. Malik zuckt nur mit den Schultern und hält die Schüssel mit dem Foul fest. Ich mache die Spülmaschine zu, nehme Foul, Brot und den Rohkostteller. Mit einem Nicken gebe ich Malik zu verstehen, dass wir uns an den Tisch setzen und zusammen essen.

„Mama, du weißt gar nicht, was Leo für eine coole Beyblade-Arena hat“, erzählt Malik strahlend, und er beschreibt en detail, was Leo und er heute alles erlebt haben. Dabei komme ich gar nicht hinterher mit dem Brot-Reichen, der kleine Mann hat offensichtlich richtig Hunger. Ich hake beim Thema Schule kurz ein, erfahre, dass nächste Woche ein Ausflug ansteht, frage nach den Hausaufgaben, um schließlich zu wiederholen: „Was gab‘s denn bei Leo zu essen?“ Ich bin echt neugierig. Zum einen sind Leos Eltern Vegetarier, und ich bin immer dankbar für vegetarische Essensinspirationen, die auch Kinder mögen. Zum anderen hat diese Familie so ein Ding mit Essen. Scheinbar kann das bei ihnen ausschließlich im engsten Familienkreis stattfinden. Bisher wurde unser Kind immer heimgeschickt, oder ich sollte es abholen, vor dem Essen versteht sich.

Malik wischt mit einem viel zu großen Stück Brot die Foul-Schüssel aus und stopft sich das Bohnenmus in den Mund. Foul ist echtes Soulfood. Es ist für mich der Inbegriff von Zuhause. Reichhaltig, warm, würzig und mit dem extra Schuss Sesamöl einfach genau das richtige Essen, um ein wohliges Gefühl zu erzeugen. Genau das meine ich jetzt auch in Maliks Gesicht zu sehen. „Boah, Mama, ich bin satt. Ich habe keine Ahnung, was die gegessen haben. Ich habe in Leos Zimmer gewartet, bis er fertig war, und dann haben wir noch weiter gebeybladet“, erläutert Malik, steht auf und wäscht sich die Hände. Seine Augen fragen, ob er noch sein Essen wegräumen muss, und ich ertappe mich, dass ich immer noch mit offenem Mund dasitze.

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05. Jul. 2022
von Naima Nebel

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28. Jun. 2022
von Chiara Schmucker

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Plötzlich alleinerziehend – zwei Wochen im Juni

Das Baby auf dem Arm, dirigiere ich den Großen ins Badezimmer. „Komm, Hände waschen, Gesicht waschen, dann helfe ich dir beim Zähneputzen.“ Da klingelt in der Küche der Wecker, und schon ist er mir wieder entwischt. „Finger weg vom Ofen“, rufe ich ihm schnell nach, bevor ich auch zu rennen anfange, so schnell wie man mit einem Baby auf dem Arm eben rennen kann. Ich stolpere fast über den Korb gewaschener Handtücher, schlängle mich am Wäscheständer vorbei, am Matchbox-Autostau und den Büchern, die der Kleine vorhin energisch aus dem Bücherregal geräumt hat. Noch bevor ich in der Küche ankomme, erhasche ich einen Blick auf mich im Spiegel. Ich habe noch meinen Schlafanzug an, die Haare aus dem Gesicht gebunden, damit keine Babyhand daran reißt. Ich habe rote Wangen und sehe etwas angespannt aus. „Mama, bist du stinksauer?“, fragt der Große mit aufgerissenen Augen, als ich ihn vor dem Ofen erwische, wo er artig und mit gebührendem Abstand darauf wartet, dass ich die Aufbackbrezeln heraushole. „Nein, mein Schatz“, sage ich und knie mich runter zu ihm, was dem Baby nun gar nicht gefällt. „Ich bin einfach ein bisschen angestrengt, weil ich mich seit Tagen allein um euch kümmern muss.“ Mit dem nächsten Satz mache ich vor allem mir selbst Mut: „Bald ist der Papa wieder gesund und kann mit anpacken.“

Die Arbeit wird nicht weniger, wenn Eltern sie sich auf einmal nicht mehr teilen können.
Die Arbeit wird nicht weniger, wenn Eltern sie sich auf einmal nicht mehr teilen können.

Mein Mann hat Corona, wie so viele gerade in Deutschland. Er hat sich auf einem Musikfestival angesteckt, dem ersten Event seit zwei Jahren, das er besucht hat. Schon beim ersten Halskratzen haben wir uns „separiert“, wie man im Corona-Sprech so schön sagt, damit zumindest die Kinder und ich gesund bleiben. Heißt: Wir haben unser Haus in zwei Hälften geteilt. Das oberste Stockwerk mit Badezimmer wurde zu seinem Refugium, Keller, Erdgeschoss und erster Stock gehören mir und den beiden Jungs. Max ist knapp vier, Lenny knapp ein Jahr alt. Ein Alter, in dem Mamas acht Arme gebrauchen könnten. Zwei zum Tragen, Kitzeln und Welt Zeigen, zwei zum Spielen und Aufpassen, damit das Kind den heißen Ofen nicht anfasst oder irgendwo herunterfällt, zwei zum Kochen, Tisch Auf- und Abdecken und Spülen, und dann noch zwei zum Aufräumen, Ordnung Machen und Wäsche Waschen.

Doch statt acht Armen habe ich knapp zwei Wochen lang nur meine beiden Arme, während mein Mann sich durch Fiebernächte, Hustenattacken und bleierne Müdigkeit kämpft – und vor allem versucht, seine Viren bei sich zu behalten. Er tut zwar aus dem Off, was seine Kräfte und der Abstand zu uns ermöglichen, schaltet eine Waschmaschine an oder kocht ein Mittagessen. Und dennoch bekomme ich in diesen zwei Wochen einen Eindruck davon, wie herausfordernd der Alltag für Alleinerziehende sein muss. Wenn man nicht nur die Tage, sondern auch alle Nächte alleine bestreiten muss. Alle. Ausnahmslos. Wenn man sich nicht mit den Frühschichten abwechseln kann, sondern in jedem Fall mit dem ersten Kind aufstehen muss, damit das andere noch ein paar Minuten weiterschlafen kann. Wenn das große Kind im Schlafanzug mit auf den Morgenspaziergang mit dem Kleinen mit muss, damit der kurz nach dem Frühstück noch mal eine Runde schlafen kann. Wenn der Kleine mit großen Augen mitschaut, wenn der Große am Nachmittag eine Runde fernsehen darf, während ich die Küche aufräume. Wenn ich einhändig Lego baue, weil das zahnende Baby sich nicht eine Minute absetzen lässt.

Zudem die Unvorhersehbarkeiten im Alltag mit Kindern: Max pieselt nachts in sein Bett, Lenny muss sich vom Grießbrei übergeben. Max träumt schlecht und kommt zu mir ins Bett, Lenny wacht davon auf und kann nicht mehr einschlafen. Es ist drei Uhr früh.

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28. Jun. 2022
von Chiara Schmucker

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21. Jun. 2022
von Patrick Franzen

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Kriegsspiele

Mein Sohn Max liebt Kriegsspiele. In seinem Zimmer stehen Burgen und Ritterheere. Piratenschiffe kreuzen das Teppichmeer, römische Legionen und gallische Krieger stehen einander unversöhnlich an der Türschwelle zum Flur gegenüber. Insbesondere Playmobil hatte bis vor kurzem noch einige historisch inspirierte Themenwelten im Programm, die sowohl in Frankreich als auch in Deutschland großen Erfolg in den Kinderzimmern hatten.

Max hat inzwischen eine beachtliche deutsch-französische Playmobilbrigade aufgebaut. Außerdem liebt er kriegerische Rollenspiele, eine Leidenschaft, die er mit den anderen Jungs und einigen Mädchen auf dem Pausenhof teilt. Interessanterweise herrschte eine ganz ähnliche Faszination für Kriegsspiele in der französischen Ecole maternelle vor wie nun in der Grundschule in Deutschland.

Das Thema Kriegsspiel beschäftigt uns schon, seit Max bei einem Kindertheaterbesuch im Alter von dreieinhalb Jahren mit der Welt der Piraten konfrontiert wurde und er danach sofort und unbedingt einen Säbel haben wollte. Piraten ohne Säbel, Flinten und Kanonen sind schwer vorstellbar. Aber sie werfen für uns als Eltern und für Max die grundsätzliche Frage auf, was eigentlich Gewalt ist, warum Menschen gegeneinander kämpfen und ob Krieg legitim sein kann.

Nach der Zeitenwende in Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine werden diese Fragen für viele in einem neuen Licht erscheinen, aber die heftigen Debatten, die wir in Deutschland derzeit über die erforderlichen Hilfen für die Ukraine führen, zeigen, dass das Thema Krieg (und damit das Kriegsspiel) aus deutscher Sicht nicht unbelastet ist.

Es gibt ein Foto aus der Familie meines Vaters, das im Jahr 1944 entstanden sein muss. Man sieht meinen Großvater und meine Großmutter zusammen mit ihren Kindern, darunter meinen Vater im Alter von fünf Jahren, in der Stube vor dem prächtig geschmückten Weihnachtsbaum posieren. Alle sind festtäglich gekleidet und lächeln froh. Stolz hält mein Vater ein sehr realistisch gestaltetes Holzgewehr vor sich, mit Umhängegurt und Nachladevorrichtung. Links am Bildrand vor der neuen Puppe meiner Tante steht ein Metallpanzer, der erst auf den zweiten Blick ins Auge fällt und das friedliche Familienfoto in ganz unfriedlicher Zeit verortet: Spielzeug war im Dritten Reich eines von vielen Mitteln nationalsozialistischer Propaganda.

Es gab Panzer und Kriegsschiffe, Militärtransporter und Jagdflieger und jede Menge Zinnsoldaten in Wehrmachtsuniform, und natürlich dienten diese Spielsachen dazu, frühzeitig den Kindern einen militaristischen Geist einzupflanzen. Die ideologische Rolle von Spielzeug war so offenkundig, dass der Bundestag später, im Jahr 1950, sogar ein Verbot von Kriegsspielzeug beschloss (das allerdings nie umgesetzt wurde).  

Nun ist Max in den ersten sechs Jahren seines Lebens in Frankreich aufgewachsen. Auch in Frankreich gibt es kritische Rückfragen an die eigene militärische Geschichte, insbesondere hat sich gegen einige Widerstände in den letzten Jahren eine Debatte um Kriegsverbrechen des französischen Militärs während des Algerienkriegs entfaltet.

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21. Jun. 2022
von Patrick Franzen

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