So absurd, wie lange behauptet, waren die Eingeweideprognosen im Alten Orient nicht. Der Altorientalist Stefan Maul hat Keilschrift-Protokolle analysiert und die Leberschau mit der heutigen Politikberatung verglichen. Neue Folge unserer Interview-Serie “Nerdalarm”.
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F.A.Z.: Herr Professor Maul, in welcher Kultur verrichten die altorientalischen Leberschauer ihren Dienst?
Stefan Maul: Die altorientalische Kultur ist, so weit wir wissen, die älteste städtische Kultur der Menschheitsgeschichte. Um 3300 vor Christus waren die städtischen Gebilde so komplex geworden, dass man Verwaltungsaufgaben nicht mehr bewältigen konnte ohne ein wichtiges Hilfsmittel – die Schrift. Mithilfe der Keilschrift überschaute man die komplexen Verwaltungsvorgänge, und im Laufe der Zeit entwickelte sich die Schrift zu einem Medium, mit dem man, was ursprünglich gar nicht beabsichtigt war, auch komplexe Sachverhalte, Text im eigentlichen Sinn, notieren kann. Um 2600 vor Christus war dieser Prozess abgeschlossen, und von da an können wir sehen, dass die Eingeweideschau von den Herrschern Mesopotamiens als Hilfsmittel zur politischen Entscheidungsfindung genutzt wurde. Dies blieb über Jahrtausende so, und die Eingeweideschau überdauerte sogar die mesopotamische Hochkultur, die im 2. Jahrhundert nach Christus in der hellenistischen Welt aufging. Die Praxis der Eingeweideschau und damit den Glauben daran, aus den Innereien eines Opfertieres Einsicht in Zukünftiges gewinnen zu können, haben erst die Griechen, dann die Römer übernommen und wir können ihn sogar bis in die christliche Zeit hinein beobachten. Noch im 6. Jahrhundert nach Christus sah sich ein Papst genötigt, in einem Erlass darauf hinzuweisen, dass Priester, die weiterhin Eingeweideschauer aufsuchen, um Einblicke in die Zukunft zu bekommen, aus ihrem Amt entfernt werden sollten.
Wie steht es mit der räumlichen Ausdehnung der Eingeweideschau – oder ist die schwer zu bestimmen, weil wir ja von schriftlichen Zeugnissen abhängig sind?
Wir können etwas darüber sagen, sobald man in Anatolien, Syrien, Palästina, Iran und sogar in Ägypten Keilschrift zu verwenden begann. Dabei sehen wir, dass nicht nur die Schrift Mesopotamiens ein Exportschlager war in diesem geographischen Raum, sondern auch mesopotamische Kulturtechniken aller Art übernommen wurden – und dazu zählt eben auch die Eingeweideschau. Aus ganz Vorderasien haben wir Nachrichten darüber, dass dieses Verfahren eine große Rolle bei der politischen Entscheidungsfindung spielte.
Eine kleine zeit-räumliche Stichprobe: Wie steht es mit einer Figur wie dem Perserkönig Xerxes, der im 5. Jahrhundert vor Christus den Griechen unterliegt? Wie wahrscheinlich ist es, dass er vor seinen Feldzügen eine Opferschau hat durchführen lassen.
Ich bin ziemlich sicher, dass er das gemacht hat, weil er in vielerlei Hinsicht der Erbe mesopotamischen, assyrisch-babylonischen Königtums ist und sich als solcher auch versteht. Aber wir sehen dies freilich noch viel genauer bei den Gegnern der Perserkönige, nämlich den Griechen. Ein Schüler von Sokrates, Xenophon, der einen Feldzug gegen die Perser als General mit anführte, hat einen Kriegsbericht geschrieben, der erhalten blieb. Daraus geht hervor, dass auch Xenophon sein Heer nicht vom Fleck bewegte, um es durch das Feindesland heimzuführen, wenn es keinen positiven Eingeweideschau-Befund gab. Selbst im vermeintlich aufgeklärten Griechenland praktizierte man die altorientalische Wahrsagekunst.
Video: Crashkurs “Eingeweideschau” mit Stefan Maul
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Welches Weltbild steckt hinter der Opferschau? Warum kann man einer Schafsleber aus altorientalischer Sicht eine Weisung für die Zukunft entnehmen?
Aus der Perspektive unseres Weltbildes ist die Opferschau natürlich Unfug. Heute glaubt niemand mehr daran. Doch wir können beobachten, dass das Verfahren im Alten Orient funktionierte und über Jahrtausende hinweg stabile Verhältnisse geschaffen hat. Ein Grund dafür liegt darin, dass diejenigen, die das Verfahren praktiziert und in gewisser Weise als Wissenschaft vorangetrieben haben, der festen Überzeugung waren, dass eine Beziehung zwischen einem Eingeweideschau-Befund und einem tatsächlichen outcome, einem zukünftigen Geschehen, besteht. Man war überzeugt, eine Art Naturgesetz wahrzunehmen, bei dem jedoch noch eine dritte Instanz beteiligt ist: eine sich dem Menschen offenbarende Gottheit. Der Grundgedanke, der sehr archaisch ist, ist der, dass ich meinem Gott eine Gabe bringe und an der Gabe ablesen kann, ob der Gott sie annimmt oder nicht. In der biblischen Geschichte von Kain und Abel sehen wir etwas ganz Ähnliches. Aus einem solchen Glauben heraus erwächst der Brauch, dem Gott mit der Gabe auch eine Frage zu präsentieren: Soll ich diese Frau heiraten? Soll ich als Herrscher den Angriff wagen? – Wenn der Gott mir wohlgesinnt ist, wird er die Gabe annehmen, woraus ich eine positive Antwort auf meine Frage ableiten kann. Das ist der Grundgedanke der Opferschau. Im Lauf der Jahrhunderte entstand daraus in Mesopotamien ein erstaunlich wissenschaftlich anmutendes System, in dem man Markierungen auf der Leber und anderen Organen eines Opfertiers in Analogie zum Weltgeschehen setzte.
Wie ging die Leberschau genau vonstatten? Welches war die ursprüngliche Form, wie sah die komplexeste Variante aus?
Die Anfänge können wir mangels Texten nicht beobachten. Ursprünglich handelte es sich aber wohl um eine Art Fleischbeschau, bei der man bestimmte Anomalitäten in Analogie zum Weltgeschehen stellte. Daraus entwickelte sich eine in ihrem Geist ganz nüchterne, unbestechliche Systematik, die versucht, die dahinterliegenden Gesetzmäßigkeiten zu erfassen. Man fragte sich: Welcher Teil der Leber spiegelt eigentlich welchen Teil der menschlichen Welt wider, was etwa bildet das Königtum ab? Später kam der Glaube hinzu, dass man auch am Lauf der Sterne Gesetzmäßigkeiten beobachten kann, die ihre Entsprechung haben auf der Erde und im menschlichen Sein. Das brachte die scharfsinnigen Gelehrten Mesopotamiens zu dem im Grunde naheliegenden Schluss, dass sich all dies aus ein und derselben Quelle speisen muss. Sie begannen damit, die Astrologie zu parallelisieren mit der Eingeweideschau. Und dann wird es richtig interessant: Man sah sich nach einer Weile in der Lage, die Entsprechungen astraler Zeichen auf einer Opferleber wiederzufinden und umgekehrt, und glaubte auf diese Weise astrologische Wahrsagungen mithilfe der Eingeweideschau überprüfen zu können. Die altorientalischen Gelehrten unternahmen einen “wissenschaftlichen Großversuch”, der weit über das Leben eines einzelnen Menschen hinausschaut und mehr als ein halbes Jahrtausend lang andauerte. Dabei wurde alles zusammengedacht. In den Tagebüchern der Sternkundigen finden sich neben astralen Beobachtungen zum Beispiel auch Notizen über ökonomische Entwicklungen, über Preissteigerungen, Inflationsraten, die Entwicklung von Wasserständen, klimatische Veränderungen, große historische Schübe. Die mesopotamischen Forscher glaubten, dass hinter alldem Zyklen und Gesetze zu erkennen seien. Sie waren der Überzeugung, wenn sie nur auf genügend zahlreiche Beobachtungen zurückgreifen könnten, seien sie irgendwann in der Lage, diese zu erkennen und historische und ökonomische Entwicklungen vorauszuberechnen. Das ist ein irrwitzig kühner Gedanke, den eigentlich erst wieder der Historische Materialismus, der Marxismus, aufgreift: die Überzeugung, man habe eine Gesetzmäßigkeit entdeckt, in der Ökonomie und historisches Geschick über Zyklen miteinander verbunden sind und die einen Blick in die Zukunft zulassen.
Das Ganze erinnert an die Kombinations- und Vorhersagefreude, die in heutiger Zeit Informatiker an den Tag legen, wobei diese meist einfach nur von Korrelationen ausgehen.
Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, man muss wohl zu dem Schluss kommen, dass der Mensch, egal zu welcher Zeit, nicht leben kann, ohne die Welt als komplexes System von Kausalitäten zu verstehen. Warum? Weil er nur so den Optimismus entwickeln kann, durch sein Handeln die Zukunft zu seinen Gunsten beeinflussen zu können.
Wie wird die Leberschau eingesetzt?
Man konnte mit dem Befund der Leberschau ganz unterschiedliche Dinge anstellen. Wir kennen zwei grundlegende Herangehensweisen. Die eine haben wir schon genannt: Grundlegende Fragen sowohl des einfachen Manns als auch des Königs werden an einen Opferbefund gekoppelt, in Form eines Binär-Orakels. Als Antwort kommt entweder ein “Ja” oder ein “Nein” heraus. Das andere Verfahren ist nicht an Fragen gekoppelt, es geht davon aus, dass bestimmte Segmente der Leber bestimmten Bereichen der menschlichen Gesellschaft zugeordnet sind. Es ist ein Verfahren, das unerbetene Zeichen bemüht. Man kann es auch als ein politisch-ökonomisch-soziales Frühwarnsystem bezeichnen. Ein Opferschauer sieht zum Beispiel einen negativen Befund in einem Bereich der Leber, der “Königtum” symbolisiert. Er muss davon ausgehen: da bahnt sich etwas an. Er wird sofort Maßnahmen in die Wege leiten. An einem altorientalischen Königshof würde umgehend der Kronrat zusammentreten, der etwa den Polizeichef befragt, ob er in allen Bereichen Sicherheit garantieren kann, vielleicht würde man den Zustand der Armee überprüfen – ist sie gut genug ausgerüstet? Ist einer der Generäle oder ein Minister eventuell sogar ein Spion? Wir können das in den Keilschriftdokumenten sehr gut nachvollziehen. Aus heutiger Sicht mag man dies für idiotisch oder naiv halten, sicher aber ist, dass ein solches Vorgehen manche Mängel und Fehler rechtzeitig offengelegt haben dürfte, noch bevor größerer Schaden entstand.
Wie lange dauerte die Ausbildung zum Opferschauer?
Diejenigen, die uns die Schriftquellen hinterlassen haben, haben viele Jahre studiert, unter acht kamen sie nicht weg.
Wie viele Tiere wurden im Monat an einem Königshof geopfert?
Einer Quelle aus dem 19. Jahrhundert vor Christus zufolge waren es – an einem vergleichsweise kleinen Königshof – im Schnitt zwischen 500 und 700 Tiere, was zeigt, wie groß der Bedarf an entsprechenden Anfragen in einem Regierungszentrum war. Es zeigt auch, wie ernst man das Ganze nahm. Übrigens ging das Fleisch, das anfiel, wahrscheinlich in den Markt.
Was waren die Vorteile dieses Verfahrens, das Frühwarnsystem und die zahlreichen kommunikativen Akte, die es auslöste, haben wir schon genannt?
Der vielleicht größte: Selbst ein König musste damit rechnen, dass seine Pläne als unsachgemäß abgelehnt werden. Im Endeffekt sind solche Verfahren der Entscheidungsfindung Instrumente, die dafür sorgen, dass irdische Macht und königliche Autorität nicht ins Unendliche reichen. Sie etablieren nämlich eine Autorität, die über der des Herrschers steht. Das ist höchst bemerkenswert.
Konnte man nicht auch Entscheidungen herbeitricksen? In Ihrem Buch werden verschiedene Einfallstore der Vernunft in dieses eigentlich irrationale Verfahren angesprochen: kluge Fragetechniken zum Beispiel oder kurze Verfallszeiten von Weisungen.
Ein simples Beispiel: Nehmen wir an, ich bin über beide Ohren verliebt und möchte eine bestimmte Frau unbedingt heiraten. Wenn ich nun ein Verfahren herbeiführe, das auf die Beantwortung der Frage hinausläuft “Soll ich sie heiraten oder nicht?”, dann gehe ich die Gefahr ein, dass ich als Antwort ein “Nein” erhalte. Das wäre ziemlich dumm von mir. Stattdessen könnte ich fragen: Soll ich diese bestimmte Person schon im Januar heiraten? Dies zeigt: Die Kunst des Fragens ist ungeheuer wichtig. Das altorientalische Verfahren unterscheidet sich in dieser Hinsicht aber nicht grundsätzlich von der Art und Weise, wie man heute politische Dinge durchzusetzen versucht. Auch heute muss man die richtige Diskussion zur rechten Zeit auf den Weg bringen und mit klug ausgewählten Alternativen verbinden.
Was die unerfragten Befunde angeht: Dabei kam es besonders stark darauf an, was man aus ihnen in einer Diskussion mit den politisch Verantwortlichen machte, welche klugen Folgerungen man aus ihnen zog. Die Prognosen müssen mit der bestehenden Lebenswelt verknüpft und dazu genutzt werden können, bestimmte Entwicklungen zu verhindern oder zu befördern. Auch das kennen wir aus der Gegenwart. Ich habe mir einmal Zukunftsprognosen angeschaut, die in den sechziger Jahren aufgestellt wurden. Da heißt es: Alle Menschen werden nur noch Wegwerfkleider tragen, wir haben Weizenfelder auf dem Mars, und unter Umständen kann man sogar kabellos telefonieren. Manche dieser Prognosen wirken im Rückblick vollkommen abstrus, andere werden von der Wirklichkeit weit übertroffen, dritte bei weitem nicht erreicht. Die Treffsicherheit der Prognosen ist aber nicht so wichtig, wichtig ist, dass man in den sechziger Jahren das Gefühl hatte, mit diesen Visionen tatsächlich in die Zukunft gehen zu können. Sie waren ein roter Faden für anstehende Planungen – und doch ist man zum Schluss an einem ganz anderen Ende herausgekommen. Der Unterschied zu Mesopotamien ist in dieser Hinsicht gleich null.
Das ist Ihr Hauptargument: Lasst uns die altorientalische Wahrsagekunst ernst nehmen, denn sie hat über Jahrtausende hinweg für stabile Verhältnisse gesorgt.
Ich bin vorsichtig und sage: Sie hat stabile Verhältnisse nicht verhindert, und vermutlich hat sie sie befördert. Man möchte annehmen, wenn ein Politiker meint, wirklich nur in eine Leber gucken zu müssen, um seine Entscheidungen zu treffen, würde es keine drei Jahre dauern und man hätte das Gemeinwesen gegen die Wand gefahren. Das passierte aber nicht – und das ist das eigentlich Aufregende. Im Umfeld mesopotamischer Gelehrtenkultur hat die Leberschau funktioniert – nur wohl nicht aus den Gründen, die man damals für maßgeblich hielt.
Kann man nicht auch einfach sagen: Der sogenannte fruchtbare Halbmond hat im Altertum derart überlegene Lebensvoraussetzungen ermöglicht, dass Stabilität sehr leicht herbeizuführen war?
Ohne Zweifel, das Zweistromland ist ungeheuer fruchtbar. Sie müssen sich aber Folgendes vor Augen führen: das ist ein Land, das über kein Metall verfügt, es gibt kein Holz, keine Chemikalien, keinen Stein. Ohne diese Rohstoffe kann keine Hochkultur existieren. Man muss sie von außen holen. Da gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder das gelingt oder man fällt zurück in die Bedeutungslosigkeit. Wir haben es jedoch mit einem Gemeinwesen zu tun, das unglaublich gut organisiert ist. Die mesopotamische Gesellschaft hat sich immer den Herausforderungen unterschiedlichster Art gestellt. Das ist sicherlich nicht dem Verfahren der Eingeweideschau geschuldet. Doch das Opferschauorakel ist klug in die Gesellschaft eingebaut: Mit ihm gelingt es, überbordende Macht zu kontrollieren, eine Autorität über die der Machthaber zu stellen, es bremst unbedachte Pläne aus. Denn die Zurückweisung eines Plans macht neue Diskussionen nötig, und die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die vorher mundtot gemacht wurden, zu Wort kommen, steigt. In diesem Sinne ist die Institution “Eingeweideschau”, die man für sich genommen erst einmal für obsolet, für dumm halten mag, effektiv und befördert in hohem Maß vernünftige Entscheidungen.
Was kann die Gegenwart vom Alten Orient lernen?
Sie könnte zum Beispiel lernen, dass diese alte Kultur den Begriff “Fortschritt” nicht kennt, aber sehr wohl zu den Kulturen zählt, die – menschheitsgeschichtlich betrachtet – die größten Fortschritte überhaupt erzielt haben, man denke nur an das Entstehen der ersten Städte, an die Erfindung der Schrift, an die Anfänge der Wissenschaften oder an die frühen effektiven Verwaltungsstrukturen. Der Alten Orient war bestimmt von der Vorstellung, dass jede Zeit, jede Epoche, jeder Herrscher investieren muss, um das Erreichte zu erhalten. Wenn man das nicht tut, trägt man – dafür gab es sehr schöne Bilder – zu einem Altern, einem Baufälligwerden, einer Zeitermüdung bei. Man musste investieren, um eben dies zu verhindern. Wenn man heute zu solchen Vorstellungen zurückgelangte, wäre das für die Nachhaltigkeit von Ressourcen und die Entwicklung von Gesellschaft sicher ausgesprochen wohltuend.
Von dem, was Sie über die altorientalische Prognostik herausgefunden haben, kann man zahlreiche Parallelen ziehen zur Gegenwart – zur universitären Evaluation etwa oder den Algorithmen von Google. Fehlt diesen neuen Verfahren strukturell etwas im Vergleich zur Opferschau?
Ein prognostisches Verfahren, welcher Hilfsmittel es sich auch immer bedient – sei es die zeitgenössische Wissenschaft oder die Leber eines Opfertiers -, muss zwei Bedingungen erfüllen: Erstens dürfen seine Ratschläge gesellschaftliche Entwicklungen nicht elementar behindern, zweitens muss ein mehrheitlicher Anteil der gesellschaftlichen Kräfte der Überzeugung sein, dass Stabilität, Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung auf das jeweilige prognostische Verfahren zurückzuführen sind. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, ist ein prognostisches Verfahren erfolgreich, und man wird sich seiner mit Gewinn bedienen.
Video: Stefan Maul erklärt die Grundzüge der Keilschrift an einem Tonmodell.
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Warum musste die Prognostik im Alten Orient so aufwendig sein?
Selbstverständlich gab es auch im Alten Orient die Überzeugung, dass ein Erkenntnisinstrument, das tragfähig ist, verfeinert und ausgebaut werden muss, um noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Im Alten Orient entstanden so Parameter, die hin zur modernen Wissenschaft führen. Außerdem bestand – so wie heute – auch im alten Zweistromland eine Korrelation zwischen Aufwand und Wertschätzung. Schauen wir auf die Exzellenz-Cluster an unseren Universitäten, die enorm viel Geld kosten. Dieses Geld fließt an Universitäten, die allein dadurch einen großen Reputationsgewinn verzeichnen, der mit der Forschung, die dort geleistet wird, zunächst nicht viel zu tun hat. Investition und Wertschätzung stehen miteinander in Verbindung, selbst wenn objektiv gesehen der entstehende Mehrwert gar nicht so groß sein mag. Das sind Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Seins, die sich über die Jahrtausende hinweg nicht verändert haben. Etwas, in das man mächtig investiert hat, möchte man ungern als gescheitert betrachtet sehen.
Was wäre das moderne Äquivalent zur altorientalischen Wahrsagekunst?
Es ist völlig klar, dass Mittel, die in der alten mesopotamischen Kultur funktioniert haben, in ein gegenwärtiges Weltbild nicht passen und daher auch nicht plausibel sind. Ich habe in meinem Buch versucht zu zeigen, dass eine Gesellschaft ohne prognostische Verfahren kaum in der Lage ist, halbwegs vernunftgeleitet in die Zukunft zu gehen. Das gilt für die Gegenwart genau so wie für die Vergangenheit. Prognosen in unseren heutigen Gesellschaften beziehen ihre Plausibilität aus anderen Kontexten. Das wissenschaftliche System spielt heute eine große Rolle. Es hat Plausibilität, weil es in den Gesellschaften Vertrauen in Wissenschaft als ein objektives Medium gibt, das vernunftgeleitet einen Standpunkt generieren kann. Wenn das grundsätzlich in Frage gestellt wird, und wir wollen jetzt nicht über alternative facts sprechen, dann könnte diese Plausibilität obsolet werden.
Sie haben auch das Gilgamesch-Epos übersetzt, eine der ältesten schriftlich fixierten Erzählungen. Sie ist noch immer unvollständig – gibt es neue Funde zu verzeichnen?
Ich leite ein großes Forschungsprojekt, in dessen Rahmen die schriftlichen Hinterlassenschaften Assurs, eine der altorientalischen Metropolen, katalogisiert und klassifiziert werden. Dort wurden alleine 12.000 Tontafeln gefunden. Darunter haben wir erstaunlich viel neues Material zum Gilgamesch-Epos entdeckt, in den letzten Jahren weit über zehn Tafelbruchstücke, teilweise mit substanziellen, noch unbekannten Passagen. Die nächste „Gilgamesch“-Edition wird wohl erheblich erweitert werden müssen. Eine große Schwierigkeit unserer Arbeit liegt nicht zuletzt darin, einen Text rekonstruieren zu müssen, der sogar uns unbekannt ist.
Video: Stefan Maul liest den Beginn des Gilgamesch-Epos in deutscher und babylonischer Sprache.
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Wer hat die Erfolgsgeschichte der mesopotamischen Kultur beendet?
Wenn Sie einen Althistoriker fragen, sagt der vielleicht: der griechische Geist. Aber das ist mir zu einfach. Die hellenistische Kultur ist ja ganz wesentlich getragen von den Erkenntnissen, die über Jahrtausende in den altorientalischen Kulturen akkumuliert wurden. Vielleicht war die Kultur des Alten Orients um die Zeitenwende so alt und unflexibel geworden, dass sie weniger gut als andere auf veränderte ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen reagieren konnte?
Warum soll man heute Altorientalistik studieren?
Jede Universität, die sich wie die meine als Volluniversität versteht, sollte wissen, dass die erste Hälfte städtischer Kultur nur von diesem Fach beobachtet werden kann und dass in dieser ersten Hälfte städtischer Zivilisation die Weichen gestellt wurden für alle folgenden Ausprägungen von Religion, von Herrschaftsformen, von Administration, von forschendem Denken. Die Schrift kommt von dort, und die Anfänge der Wissenschaften, seien es die Mathematik, die Astronomie oder die Philologien sind dort zu beobachten. Seriöses Reflektieren über die Geschichte menschlichen Denkens und Handelns wird auf die Altorientalistik nicht verzichten können, auch nicht, wenn es darum geht, Lösungsstrategien für komplexe Probleme zu finden. Denn anhand der schriftlichen Hinterlassenschaften des Alten Orients können wir wie in einem Großversuch über Jahrtausende hinweg Gelingen und Scheitern von Denkmodellen, Strategien und Problemlösungen beobachten, um Lehren daraus zu ziehen.
Das klingt so, als bräuchten wir mehr Altorientalisten.
Schaden würde es gewiss nicht.
Wie blicken Sie auf die Entwicklung des “neuen Orients”? Politikberatung scheint dort heute notwendiger als irgendwo sonst.
Der Vordere Orient wird erst dann zu Stabilität und Ruhe finden, wenn es gelingt, gewachsene Traditionen mit den Anforderungen der Moderne in überzeugender Weise zu verbinden. Bei diesem Prozess, der leider noch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird, sind nicht allein die fundamentalistischen Bewegungen des Islam ein großes Hindernis, sondern auch die seit Generationen anhaltenden rücksichtslosen Versuche des Westens, zu eigenen Gunsten Einfluss zu nehmen.
Das Gespräch führte Uwe Ebbinghaus
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Stefan Maul studierte Assyriologie, Vorderasiatische Archäologie und Ägyptologie an der Universität Göttingen, wo er 1987 bei Rykle Borger promoviert wurde. Von 1987 bis 1992 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und bis 1995 als Assistent an der FU Berlin, wo er sich 1993 habilitierte. Seit 1995 ist er Ordinarius für Assyriologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seit 2004 leitet Maul die Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften “Edition literarischer Keilschrifttexte aus Assur”. 1997 wurde er mit dem Leibnizpreis für seine Forschungstätigkeit ausgezeichnet. Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien.