Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Die Erfindung der Romantik: „Nürnberg! … Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen“

­Die Kaiserburg, die Kirchen, die Stadtmauer – Nürnberg ist bekannt für sein mittelalterliches Stadtbild. Entdeckt wurde es durch die Romantiker. Doch gibt es heute noch das „romantische“ Nürnberg?

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Stadtansicht von Nürnberg

Es beginnt im Sommersemester 1793. Zwei umtriebige Studenten aus Berlin schreiben sich an der Erlanger Universität ein. Für die beiden Freunde Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck scheint das Studieren dabei nicht gerade im Mittelpunkt zu stehen. Es zieht sie hinaus in das fränkische Umland. Im Juni besucht Wackenroder erstmals das nahe Nürnberg. In der alten Reichsstadt findet er mittelalterliche Häuser, gotische Kirchen und verstaubte Kabinette, angefüllt mit alten Büchern und Kupferstichen, in denen er kauzigen Gelehrten aus einer anderen Zeit begegnet. In langen Briefen an seine Eltern schildert der junge Student seine Beobachtungen, die den nüchternen, aber feinen Blick des Bildungsreisenden offenbaren: Wackenroder notiert kleinste Details und zeichnet sogar die besondere Form der Körbe, die die Nürnberger Frauen tragen. Wirkliche Faszination oder gar schwärmerische Begeisterung für die Reichsstadt sucht man in diesen Aufzeichnungen allerdings vergeblich. Vielmehr scheint Nürnberg für Wackenroder wie ein großes Freilichtmuseum zu sein, in dem das Mittelalter in all seinen Facetten ausgestellt ist.

Die eigentliche Entdeckung des romantischen Nürnbergs ist dann ein literarisches Phänomen: Vier Jahre nach Wackenroders Besuch erscheinen die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“. Das kleine Büchlein stammt größtenteils aus der Feder Wackenroders, veröffentlicht wird es von Tieck. Die „Herzensergießungen“ sind nichts weniger als das ästhetische Programm der jungen frühromantischen Bewegung. Der Klosterbruder, eine Kunstfigur, nimmt seine Leser mit auf die Suche nach der „wahren Kunst“. Die findet er nicht in den sterilen, leblosen Bildern der Aufklärungszeit, sondern in den Gemälden der alten Meister, die „uns die Menschheit in voller Seele so klar und deutlich vor Augen stellen“. Für den Klosterbruder sind echte Kunstwerke nicht „darum da, daß das Auge sie sehe; sondern darum, daß man mit entgegenkommenden Herzen in sie hineingehe und in ihnen lebe und atme“. Solche Kunst erwacht zum Leben und erschafft durch die Phantasie eine ganz neue, eigene Welt.

Mitten in der Welt und ihr doch enthoben

In diesem Sinne erwacht auch das mittelalterliche Nürnberg in den „Herzensergießungen“ neu zum Leben. Die alte Reichsstadt in ihrem Glanz wird zur Kulisse für das frühromantische Projekt der Rückbesinnung auf die deutsche Kunst des ausgehenden Mittelalters. Als deren größter Meister gilt den jungen Romantikern Albrecht Dürer. Dessen „wahre Kunst“, die „(n)icht bloß unter italienischem Himmel“, sondern „auch unter Spitzgewölben, kraus-verziehrten Gebäuden und gotischen Türmen“ entstanden ist, soll wieder auferstehen und die romantische Seele inspirieren.

Zu einer Auferstehung braucht es zuallererst ein Grab. Das liegt auf dem historischen Johannisfriedhof, damals noch auf freiem Feld, vor den Mauern der Stadt. Dort, „auf dem Gottesacker, wo die Gebeine Albrecht Dürers ruhen“, hält der Klosterbruder Zwiesprache mit seinem Idol. Heute muss man eine Weile suchen, denn die Ruhestätte des Malergenies sieht aus wie alle anderen Gräber: Kniehohe Grabsteine aus verwittertem Sandstein, „mit einem ehernen Bildwerk, als dem Gepräge der alten Kunst“. Nur die „hohe(n) Sonnenblumen … welche den Gottesacker zu einem lieblichen Garten machen“, sind nicht mehr zu finden. Dafür gleicht der Ort einem Rosengarten. Auch neben Dürers Grab erhebt sich ein Rosenstrauch, der seine blassrosane Blütenpracht auf die Sandsteinplatte herabhängen lässt.

Dürers Grab auf dem Johannisfriedhof

In der Zwiesprache des Klosterbruders verschwimmt das Hier und Jetzt mit der verklärten Vergangenheit und auch heute wirkt der Ort wie aus der Zeit gefallen. Weit weg das geschäftige Treiben im modernen Stadtviertel ringsum, das die Felder verdrängt hat. Über dem Meer aus Grabsteinen und Rosenstöcken liegt eine andächtige Ruhe. Ein wirklich romantischer Ort: Mitten in der Welt und ihr doch eigenartig enthoben.

Eine alte Frau unterbricht das stille Nachsinnen, als sie mit ihrer Gießkanne vorbeikommt und dem Rosenstock an Dürers Grab einen Schluck Wasser gönnt. Wir gehen hinaus durch das steinerne Tor, mitten hinein in das Gewühl der Stadt.

Fachwerkensemble in der Weißgerbergasse

„Nürnberg! … Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen“ schwärmt der Klosterbruder. Einen kleinen Fußmarsch vom Johannisfriedhof entfernt, gleich hinter dem Ring der Stadtmauer, gibt es noch so eine krumme Gasse. In der Weißgerbergasse stehen sie dicht beieinander, die „kraus verziehrten Gebäude“. Es ist auch das Verdienst der Romantiker, dass man heute diese alten Fachwerkhäuser mit ihren zierlichen Giebeln und Erkern überhaupt als schön empfindet. Wackenroders Klosterbruder eröffnete eine, für seine Zeit völlig neue Perspektive: Er entdeckt die Altstadt als Ensemble mit eigenem ästhetischem Wert. Wo der kritisch-rationale Blick der Aufklärer nur altmodische Rückständigkeit erkennen konnte, erwacht im romantischen Gefühl eine versunkene Zeit zu neuem Leben.

Wer heute durch Nürnbergs krumme Gassen wandert, merkt jedoch schnell, wie wenig von dieser alten Zeit noch vorhanden ist. Die meisten Gebäude der Altstadt haben die schweren Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs nicht überlebt. An ihrer Stelle stehen simple Zweckbauten, manchmal künstlich auf alt gemacht. Doch es wimmelt nur so von Touristen, für die auf Deutschlandrundreise eine Tour durch die Nürnberger Altstadt zum Pflichtprogramm gehört. Bis heute eilt der Stadt besonders im Ausland der Ruf mittelalterlichen Flairs voraus.

Dieser Ruf ist im Grunde das Ergebnis einer gekonnten Inszenierung. Die Nürnberg Altstadt lebt heute davon, dass gerade ihre historischen Wahrzeichen aufwändig wiederaufgebaut wurden. Die majestätischen Kirchen St. Sebald und St. Lorenz mit ihren Doppeltürmen, die reich verzierte Front der Frauenkirche am Hauptmarkt und die über allem thronende Kaiserburg prägen damals wie heute das Stadtbild und lassen die einfach errichteten Nachkriegsbauten zwischen sich verschwinden.

In ihrem Gefolge kommen zahllose Besucher

Doch nicht nur das äußere Ensemble der Altstadt beflügelt die Phantasie der Romantiker. Es sind besonders die Innenräume der großen gotischen Kirchen, in deren dämmrigen Hallen die versunkene Zeit mit ihrer einzigartigen Kunst lebendig ist. Und so wandelt Wackenroders Klosterbruder unter den „kühnen Gewölben“, in denen „der Tag durch buntbemalte Fenster all das Bildwerk und die Malereien der alten Zeit wunderbar beleuchtet“.

Diese Stimmung kann man nachempfinden, wenn man aus der lauten Geschäftigkeit der Fußgängerzone in das gedämpfte Halbdunkel der Lorenzkirche eintritt. Die Sonnenstrahlen, die durch das Buntglas hereinfallen, malen verschwommene bunte Flecken auf die Sandsteinquader des Bodens. Vorne, am Rande des Chorraums, erhebt sich als Meisterstück der Spätgotik der vom Bildhauer Adam Kraft geschaffene Turm des Sakramentshauses. Filigrane Ornamente aus weißem Sandstein winden sich auf verschlungenen Bahnen nach oben, dem Himmel des steinernen Gewölbes entgegen. Zwischen knospenden Ranken werden kleine Figuren sichtbar, die Szenen aus dem Leidensweg Jesu darstellen. Im Wechselspiel von Licht und Schatten mag es für einen kurzen Moment so scheinen, als wären sie lebendig.

Der Chorraum der Lorenzkirche

Draußen, im Trubel der Stadt, steht am Rande des Hauptmarkts der Schöne Brunnen. Ein Touristenpärchen bleibt für ein Selfie kurz davor stehen, lächelt in die Kamera, und weiter geht die Tour. Der Klosterbruder hätte für diese Form der Kunstrezeption wohl kaum Verständnis gehabt. Und doch löste er mit seiner Wiederentdeckung der Kunst von Albrecht Dürer und dessen Zeitgenossen den touristischen Ansturm auf Nürnberg überhaupt erst aus.

Clemens Brentano, Achim von Arnim, die Brüder Joseph und Wilhelm von Eichendorff, E.T.A. Hoffmann, sie alle zog es dann in die pittoreske Stadt an der Pegnitz, nicht für Selfies, sondern um deren verwunschene Aura mit allen Sinnen zu erleben. In ihrem Gefolge kommen seither zahllose Besucher. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts war Nürnberg auch für Gäste aus dem europäischen Ausland ein beliebtes Ziel.

Symbol einer veränderten Sichtweise

Dabei war dieses mittelalterliche Bild im Grunde das Ergebnis eines jahrhundertelangen Niedergangs. Während im nahen Fürth die ersten rauchenden Industrieschlote den Beginn einer neuen Zeit verkündeten, regierten Ende des 18. Jahrhunderts in Nürnberg noch alteingesessene Patriziergeschlechter. Es gelten die starren Regeln der Zünfte. Doch der Glanz der alten Fernhandelsstadt ist längst verflogen. Nürnberg ist zu dieser Zeit ein lebendiges Museum der Vergangenheit, weil es den wirtschaftlichen und politischen Anschluss verpasst hat.

Mit der Eingliederung in das Königreich Bayern im Jahr 1806 wird Nürnberg zur Provinzstadt. Um die horrenden Schulden abzubauen, beginnen die neuen Herren mit dem Abriss alter Gebäude, deren Erhaltung zu teuer ist. Mehrere mittelalterliche Kirchen und unzählige andere Bauwerke fallen der Spitzhacke zum Opfer. Sogar die Stadtmauer mit ihren Türmen soll geschleift werden.

Symbol einer veränderten Sichtweise: der Schöne Brunnen

Dass das alte Nürnberg am Ende doch nicht der neuen Zeit geopfert wird, liegt auch an der neuen Perspektive, welche die jungen Romantiker eröffnet haben. Mit einem Mal ist das Alte nicht mehr tote Vergangenheit, sondern ein Schatz an lebendiger Geschichte und Geschichten, der Gefahr läuft, unwiederbringlich verloren zu gehen. Bald sind es nicht mehr nur einzelne Poeten und Maler, sondern auch die Stadtoberen, die in Nürnberg ein städtebauliches Denkmal erblicken, dass es zu erhalten gilt. Besonders der von der romantischen Kunst beeindruckte bayerische König Ludwig I. entdeckt die Nürnberger Altstadt für sich. Unter seiner Herrschaft wird das Alte schließlich mit dem Neuen versöhnt. Nürnberg wird zu einer modernen Industriestadt, die gleichzeitig ihre alten Wurzeln bewahrt hat.  Der Denkmalschutz – eine Erfindung der Romantik. Wer hätte das gedacht?

Der Schöne Brunnen ist das Symbol dieser veränderten Sichtweise. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist das stolze Denkmal baufällig, die filigranen Figuren verwittert und moosbewachsen. 1821 schließlich ist der Brunnen das erste Bauwerk, das in Nürnberg umfassend renoviert wird.

Das romantische Nürnberg? Das gibt es noch heute. Auf unzähligen Selfies als schmückender Hintergrund. Und überall dort, wo das Alte zwischen dem Neuen der Phantasie einen Blick in eine andere Zeit eröffnet.