Was bekommen Studenten eigentlich in deutschen Mensen vorgesetzt? Der F.A.Z.-Gastrokritiker Jürgen Dollase will es in einer Videoreihe mit uns herausfinden. Erste Runde: Düsseldorf. Die Mensa der Kunstakademie besprechen wir im Text, die der Heinrich-Heine-Universität im Video.
Ihr/Euer Mensa-Tipp für Dollase bitte in die Lesermeinungen oder unter #dollase-mensa.
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Schon beim Betreten der Düsseldorfer Kunstakademie, dieses wuchtigen historistischen Baus aus dem 19. Jahrhundert, ist Jürgen Dollase die gespannte Erwartung anzumerken. Mit wehenden Haaren betritt er, begleitet von seiner Frau, die bei allen Testessen an seiner Seite ist, den langen akademischen Flur, schreitet mit Schirmmütze und Sonnenbrille an den Hörsälen vorbei und verlangsamt den Schritt erst in der Höhe von Raum 11. Hier beginnt es in der Akademie nach Essen zu riechen, und es geht links hinab in den Keller – in eine der wohl kuriosesten Mensen Deutschlands. Auf der Treppe kommen ihm zwei Studenten entgegen, von denen der eine genüsslich an einem Becher schlürft und sagt: „Mmh, der Kakao bringt’s.“
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Video: Dollase testet das Mensa-Essen der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf
Alle Mensatests finden Sie hier.
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Am Fuß der Kellertreppe geht es zuerst links in ein dunkles studentisches Café, gut gefüllt, erst der zweite Gang führt in die eigentliche Mensa. Karg und weiß wie in einem klösterlichen Refektorium schweigen einen die Decken und Wände an. In einem schlauchartigen Gang mit vielen Nischen verteilen sich hellgraue, sehr wackelige Tische und gleichfarbige Stühle. Um 13 Uhr, eigentlich die beste studentische Essenszeit, ist hier mitten im Semester kaum etwas los. Es riecht wie überall in Großküchen nach einer undefinierbaren Mischung aus Röstaromen, fettigem Dunst und gequollenen Kohlenhydraten. Dollases raumgreifender Schritt muss sich jetzt verlangsamen. Der Möglichkeitsraum wird immer kleiner. In Kürze wird sich zeigen, was die an die Wand projizierten Tellergerichte taugen. Dollase setzt sich in eine Essecke mit Blick auf den regnerischen Juni.
Der Gastronomiekritiker, derzeit vermutlich Deutschlands einflussreichster, hat einmal gesagt, egal ob er ein Nobelrestaurant oder eine Autobahnraststätte betrete, jedes Mal überkomme ihn vorher eine unstillbare Neugier, und ihm laufe das Wasser im Mund zusammen. Und als wir ihn jetzt mit diesem Zitat konfrontieren, nickt er fast wehmütig und macht eine reibende Bewegung mit seinen Kiefern. Da ist er wieder, der Speichelfluss, der schon so oft enttäuscht wurde.
Für unser Vorhaben, in der Videoserie “Dollase vs. Mensa” die universitären Großküchen der Republik auf ihr kulinarisches Niveau hin zu testen, ist Jürgen Dollase mit dieser Eigenart wie geschaffen. Essen ist für ihn eine eher abstrakte Herausforderung, die den früheren Krautrock-Musiker („Wallenstein“) schon rein als Versuchsanordnung interessiert. Worin besteht die geniale Einfachheit eines Gerichts, wo liegen die schrägen Töne in einer kulinarischen Komposition, warum genau ist sie missglückt? Dollase kann eigentlich nicht verlieren: Wenn das Essen nicht schmeckt, macht ihm wenigstens die Analyse Spaß.
Seit einigen Wochen testen wir mit Dollase jetzt schon die Mensen der Republik. Wir standen mit einem alten VW-Bulli vor der Mensa in Essen, weil uns das dortige Studentenwerk, das offenbar nicht an die eigene Gourmettempelhaftigkeit glaubte, keine Drehgenehmigung geben wollte; wir haben Dollase in seinem alten Bauernhaus nahe Mönchengladbach in Styroporgefäßen Menüs aus den angrenzenden Unis serviert. Überrascht hat uns vor allem eines: So unzufrieden, wie wir dachten, war Dollase mit dem deutschen Mensa-Essen nicht. Zur Erklärung führt er an, bei einem Großküchentest natürlich andere Kriterien anzulegen als in der Spitzenküche, aber nicht einmal, als wir ihm die Stammessen I bis III aus der Bonner Mensa präsentierten, die an diesem Tag alle gleich aussahen – Reis mit ragoutartiger Sauce -, ließ er sich die Freude am Differenzieren verderben.
Zu der Kunstakademie Düsseldorf, deren Mensa unterdessen nicht voller geworden ist, hat Dollase eine besondere Beziehung. Hier hat er von 1969 oder 1970 an studiert, ganz genau weiß er das nicht mehr. An die Räumlichkeiten, in denen wir gerade sitzen, kann er sich beim besten Willen nicht erinnern, vermutet sogar, nie hier gewesen zu sein. Damals interessierte er sich noch nicht für Essen, sagt er, und kaufte für den Tagesbedarf eigentlich immer nur zwei Käsebrötchen in einem Tante-Emma-Laden. „Man aß damals nicht viel“, erklärt Dollase.
Die Mensa schließt in einer halben Stunde, wir müssen uns beeilen. Die weißgekleideten Damen von der Essensausgabe scheinen etwas zu ahnen – oder ist man hier immer so freundlich? Dollase entscheidet sich für die „Hähnchenbrust natur“ mit „andalusischer Sauce“, außerdem teilt er sich mit seiner Frau die Putenbruststreifen an Sweet-Chili-Sauce und Duftreis. Vor der Kasse steht gehackte Petersilie bereit; Trinkwasser – einmal still, einmal prickelnd – gibt es nur in Literflaschen. Auf dem Rückweg zur Testnische wirkt Dollase so zufrieden wie einer, der gerade auf dem Flohmarkt ein Schnäppchen gemacht hat.
Was jetzt folgt, ist ein Ritual, das wir schon von früheren Mensa-Testessen kennen. Mit der Ehrfurcht eines Archäologen hebt Dollase die einzelnen Elemente auf seinem Teller leicht mit seiner Gabel an und prüft ihre Konsistenz anschließend sanft mit dem Messer. Dann legt er lässig Zeige-, Mittel- und Ringfinger vorne auf die hinten nur vom Daumen gestützte Gabel und schneidet die matt in ungeschützter Weißheit auf dem Teller glänzende Hühnerbrust mit zwei gekonnt dosierten Messerstrichen an. Versonnen führt er den ersten Happen zum Mund und verzieht schon eine Zehntelsekunde später das Gesicht. „Die Hähnchenbrust ist komplett ausgetrocknet“, murmelt er und kaut gleichmütig weiter. Warum haben die Mensa-Köche das empfindliche Fleischstück nicht kürzer gegart und wenigstens in der Sauce ruhen lassen?, fragt er sich. Die Oliven in der andalusischen Sauce hält er gar für „das Allerletzte“; aus jeder Dose schmeckten sie besser.
Kaum mehr Freude bereitet ihm das zweite Gericht. Es bestehe hauptsächlich aus Reis und sei sehr scharf. Gequält auf seinen Hals zeigend, fährt Dollase fort: „Sehen Sie, der Genussraum in meinem Mund wird regelrecht tapeziert von diesem Gericht“ und fasst zusammen: „Von dem, was gutes Essen ausmacht, ist hier nichts zu finden.“
Dabei wäre es gar nicht schwer, besseres Mensa-Essen zu servieren. Davon ist der Gastronomiekritiker, der auch schon Testreihen bei einem Großproduzenten von Fertiggerichten vornahm, überzeugt. Vor allem müsse man in Großküchen von bestimmten Gerichten die Finger lassen. Dollase erinnert sich an die gänzlich verdörrte Scholle aus einem früheren Mensatest oder die überall gleichermaßen verkochten Salzkartoffeln. Dollases Forderung: Zander statt Scholle, Kartoffelgratin statt Salzkartoffeln, roher Spargelsalat statt übergarter Wabbel-Stangen. Mensen brauchten Produkte, die nicht durch die lange Warmhaltung in die Knie gezwungen werden, Fleischbällchen zum Beispiel oder Chili con carne seien „unkaputtbar“.
Und dann entwickelt Jürgen Dollase, immer wieder suchend aus dem Fenster blickend, die Wunschvorstellung einer modernen Modulküche in deutschen Mensen, einer Sensorik-Bar, in der frische Zutaten mit vorbereiteten gemischt werden, unterschiedliche Texturen und Temperaturen im Mund „räumliche Erlebnisse und zeitliche Verläufe entstehen“ lassen. Solche Erlebnisse seien schon durch einfache Elemente wie Croutons oder getrocknete Tomaten zu erzeugen, sagt er. Die allzu oft in deutschen Mensen angebotene „Pampe“ habe sich hingegen in Jahrzehnten nicht verändert, dabei sei der menschliche Geschmack für diese Eintönigkeit einfach nicht geschaffen.
Dollase macht sich Sorgen um die kulinarische Sozialisation der heutigen Studenten mit den Geburtsjahrgängen „1990 plus“. Gute deutsche Hausmannskost kenne kaum einer mehr von ihnen, mutmaßt er, die klassische französische Küche ebenso wenig. Stattdessen prägten Pizza, Pasta und überwürztes chinesisches Essen die geschmacklichen Erwartungen. Auch die in den letzten Jahren stark gewordenen amerikanischen, japanischen oder südamerikanischen Restaurants hätten nichts zur kulinarischen Bildung beigetragen. Alle hätten im Grunde den gleichen problematischen Geschmack befördert: „überwürzt und produktfern“.
Ist die Mensa überhaupt noch zu retten?, fragen wir ihn. Sollen Studenten nicht einfach irgendwo anders essen, dort, wo größere Frische gewährleistet werden kann? Dollase wiegt den Kopf und sagt: „Mensen könnten die reinsten kulinarischen Bildungsanstalten sein“ – eine Aussage, die er allerdings gleich im Anschluss als „vielleicht etwas hochgegriffen“ relativiert.
„Warum gibt es keinen Feinschmecker-Teller des Tages?“, fährt er fort. Schon Investitionen von 50 Cent mehr in ein Mensa-Essen könnten sich auszahlen. Es fehle aber an intelligenten Rezepten und an Köchen, die diese technisch optimieren könnten. Dollase schlägt vor, die Mensen sollten sich an einer regionalen Küche orientieren, sie in ihre Einzelteile zerlegen und mit intelligenter Garungsstrategie wieder zusammenbauen. Er kennt auch ein Vorbild: die Kantine der Deutschen Börse in Frankfurt. Hier herrsche das „Marché-Prinzip, nur besser“. Die Besucher dort äßen „mit Inbrunst“.
Es arbeitet in Dollase, das merkt man deutlich. „Gutes Mensa-Essen ist genau so kompliziert wie Spitzenküche“, sagt er. Wozu werden wir ihn im Lauf unserer Mensa-Testreihe „Dollase vs. Mensa“ noch überreden können? Wird es eine Gegenbewegung namens „Mensa vs. Dollase“ geben – Mensa-Chefköche, die sich erklären und verteidigen? Kann der Gourmetkritiker die deutschen Studenten aus der Mensa-Sackgasse raushauen? Wir bleiben dran. Neuigkeiten gibt es von heute an – im Doppelpass mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – alle zwei Wochen an dieser Stelle und unter faz.net/dollase-mensa.
Welche Mensa schlagt ihr/schlagen Sie für eine Stippvisite vor? Was muss Jürgen Dollase unbedingt kosten? Tipps bitte unten in den Leserkommentaren.
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