Wandern ist ein populäres Freizeitvergnügen. Die Beschäftigung mit Literatur und deren Schöpfern gilt dagegen als verstaubter Zeitvertreib für notorische Stubenhocker. Was wenn versucht wird, beides zu vereinen? Ein Testlauf auf dem Novalisweg im thüringischen Jena.
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Literatur und Wandern sind, folgt man einem marktführenden Wander- und Outdoormagazin, spätestens seit der Epoche der Romantik eng miteinander verbunden. Dazu passt, dass in den vergangenen Jahren zahlreiche Marketingabteilungen verschiedener Städte und Regionen in Deutschland eine neue touristische Erlebnis-Kategorie ins Leben gerufen haben: den Literaturwanderweg, der den Spuren berühmter Schriftsteller folgt. Wandern als Freizeitbeschäftigung boomt seit Jahrzehnten und hinter der simpelsten Fortbewegungsart der Welt hat sich ein ganzer Ratgebermarkt versammelt. Auch die Literatur-Touren werden intensiv abgeschritten und im Falle des „wandermagazins“ mit dem Siegel „Geprüfte Erlebnisqualität“ versehen. Mit dem reinen Wandern ist es dabei oft nicht getan. Beispielsweise lädt der Jean-Paul-Wanderweg im Fichtelgebirge dazu ein, die „Fränkische Küche und Braunbier, wie es schon Jean-Paul mochte“, zu genießen. Die Region Bad Tölz wirbt mit einem Thomas-Mann-Rundweg, und der Oberbürgermeister der Stadt Nürtingen ist sich ob der 2011 eingeweihten Thementour „In Hölderlins Landschaft“ sicher: „Hölderlin würde diesen Weg wandern“.
Auch die thüringische Stadt Jena, bekannt als die Wiege der Deutschen Frühromantik, bietet eine solche literarische Wanderung an, sie folgt den Spuren des Dichters Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, der sich unter dem Künstlernamen Novalis in die Weltliteratur einschrieb. Novalis gehörte zum Kreis der Jenaer Frühromantiker um die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Auf der Website der Stadt Jena ist zu lesen: „Wer sich dem Dichter und seinen Geheimnissen nähern möchte, hat mit diesem Wanderweg eine besondere Möglichkeit seinen Spuren zu folgen“.
Aber was bedeutet es eigentlich, sich „auf die Spuren“ eines Schriftstellers zu begeben? Kann man sich einen Dichter „erwandern“? Welches Verhältnis gehen Literatur und die körperliche Betätigung in der Natur bei einem solchen Unterfangen miteinander ein? Kann daraus eine Synthese werden oder wird das Eine vom Anderen gestört, vielleicht überlagert?
Gleich am Startpunkt der Novalis-Route, im Park des Universitätsklinikums Jena, ergibt eine Informationstafel den ersten Bezug: Novalis muss den nun folgenden Weg selbst einige Male zurückgelegt haben, denn als der Dichter im Jahr 1790 ein Jurastudium an der Jenaer Universität aufnahm, reiste er regelmäßig vom Gut der von Hardenbergs im Dörfchen Schlöben in die Universitätsstadt hinein.
Ein Dorf im Novalis-Fieber
Von Lobeda aus den Wegweisern folgend, die selbstverständlich mit einer blauen Blume als Symbol versehen sind, lässt man den ästhetisch fragwürdigen Anblick der Überreste sozialistischer Arbeiterromantik hinter sich. Nach der Durchquerung des Drackendorfer Parks führt ein ansteigender Pfad geradewegs in den Wald hinein. Ganz unvermittelt wird es still, sämtliche Zivilisationsgeräusche werden leiser und verklingen schließlich. Nun geht es den immer steiler ansteigenden Berg hinauf, und der Gelegenheitswanderer fragt sich, ob es Novalis nicht doch vorgezogen hätte, zumindest diesen Teil des Weges mit einer Kutsche oder auf einem Pferd zurückzulegen. Anfangs sucht der Blick noch eine Attraktion, die in irgendeiner Weise mit dem Dichter und seinem Leben in Verbindung stehen könnte, etwa Informations- oder Zitattafeln, aber nach kurzer Zeit wird klar, dass didaktisch aufbereitetes Material nicht zu finden ist. Der Fußreisende begnügt sich also damit, den maigrünen Wald zu beschauen, den Vogelgesängen und den eigenen Schritten zu lauschen und dabei das Wander-Feeling zu genießen, das sich vermutlich aber auf jeder anderen Route im gleichen Maße eingestellt hätte.
Es ist erstaunlich, wie sehr man heutzutage mit Momenten der Ereignislosigkeit zu kämpfen hat. Die einförmige Stille ist so lange irritierend, bis man sie bewusst zu schätzen weiß. Ein passendes Novalis-Zitat gefällig?
„Wer aber einen richtigen und geübten Natursinn hat, der genießt die Natur, indem er sie studirt, und freut sich ihrer unendlichen Mannichfaltigkeit, ihrer Unerschöpflichkeit im Genusse, und bedarf nicht, daß man ihn mit unnützen Worten in seinen Genüssen störe.“ (Novalis, Die Lehrlinge zu Sais)
Die 17 Steinskulpturen, die Titel wie „Sein“, „Neues Licht“ oder „Geisselung“ tragen und anlässlich des ersten Novalis-Festes im Juni 2015 längs des Novaliswegs errichtet wurden, laufen eher so nebenher. Um sie mit Novalis in Verbindung zu bringen, muss der Wanderer mehr als oberflächliche Kenntnisse der frühromantischen Programmatik und dazu ein beträchtliches Maß an Phantasie besitzen. Denn Hinweistafeln gibt es auch zu den Skulpturen nicht. Sie stehen für sich – mit allen Vor- und Nachteilen, die so etwas mit sich bringt.
Der Waldweg führt jetzt einen steilen Berghang hinab und eröffnet den Blick auf das Dorf Schlöben, Höhe- und Wendepunkt der Tour. Vorbei an einer Neubausiedlung, deren Hauptstraße selbstverständlich den Namen des „Blüthenstaub“-Dichters trägt, gelangt man zum Ortskern der kleinen Gemeinde, wo man unvermittelt auf einen Gebäudekomplex stößt, der rings um einen weitläufigen Hof angeordnet ist. Hier stand einst das Gut der Familie von Hardenberg, auf dem Novalis einige Kindheits- und Jugendjahre verbracht hat. Doch auch hier gilt: Wer Spektakuläres erwartet, kommt nicht auf seine Kosten.
Von der Wasserburg, die im Jahr 1727 in den Besitz der Freiherren von Hardenberg gelangte, ist, abgesehen von Resten des Wallgrabens und dem Gemäuer eines Wirtschaftsgebäudes, nichts mehr übrig. Nach einem Brand war das Herrenhaus als stattliches Schloss wiederaufgebaut und bis 1932 von der Familie bewohnt worden. 1948 wurde es dann vollständig abgerissen. Wohn- und Gewerberäume traten an seine Stelle. Heute steht als halbrund angeordneter Komplex dort das Kulturhaus des Ortes, daneben einige Wohnungen. Es ist gespenstisch still, der leere, weitläufige Hof in der Mitte vermittelt den Eindruck von Verlassenheit. Lediglich die Reste des Wallgrabens helfen der Phantasie ein wenig auf die Sprünge, sodass sich zumindest die mittelalterliche Burg vor dem inneren Auge abbildet. Als sich die Tür eines Wohngebäudes öffnet und eine junge Familie in neonfarbener Funktionskleidung heraustritt – offensichtlich der Beginn einer generationenübergreifenden Joggingrunde – ist auch der letzte Rest an imaginierter Vergangenheitsschau verflogen.
„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn gebe“ – die „Novalis-Orgel“ in Schlöben
Nur einen Steinwurf vom ehemaligen Wohnsitz der Hardenbergs entfernt liegt die barocke Schlöbener Kirche, die laut Werbematerial mit einem besonderen Relikt aufwarten kann. Sie beherbergt die sogenannte „Novalis-Orgel“, ein in Teilen noch im Originalzustand von 1750 erhaltenes Instrument, das Novalis’ Onkel Friedrich August als Kirchenpatron gestiftet hatte. Dass eine Orgel imstande ist, mittels Kombination der Pfeifen (Register), durch die ein Luftstrom (Orgelwind) fließt, eine immense Vielfalt an Klangfarben und Tönen hervorzubringen, mag Novalis fasziniert haben. Vielleicht dachte er an die Mechanik und den Klang des Schlöbener Instrumentes, als er folgendes Fragment niederschrieb?
Unsre Seele muß Luft seyn, weil sie von Musik weiß und daran Gefallen hat. Ton ist Luftsubstanz – Luft Seele – die fortpflanzende Luftbewegung ist eine Affection der Luft durch den Ton. Im Ohr entsteht der Ton von Neuem.
Die Euphorie, die sich für einen Moment einstellt, weil man mit der Orgel tatsächlich auf eine authentische „Spur“ des Dichters gestoßen sein könnte, wird jedoch schnell gedämpft. Im Gespräch berichtet der Gemeindepfarrer Stephan Elsässer, der das Instrument auch selbst beherrscht, es sei weder erwiesen noch widerlegt, dass Novalis je auf der Orgel gespielt hätte. Der Blick in die Forschungsliteratur entzaubert zusätzlich die Vorstellung eines musizierenden Poeten in Schlöben: Novalis’ musikalisches Interesse sei gering und wenig konkret gewesen, er habe selbst kein Instrument aktiv gespielt und sei kein begeisterter Musikhörer gewesen.
Dass das barocke Instrument in Schlöben den Namen des Dichters trägt, ist auf rein pragmatische Gründe zurückzuführen. Als im Jahr 1995 die Restaurierung der Orgel anstand, entschied man sich dafür, das Instrument nach dem Schriftsteller zu benennen, um auf diese Weise die Spendenkasse für die Sanierung leichter zu füllen. Es erwies sich als eine lukrative Idee: Im Jahr 2003 konnten die umfangreichen Restaurierungsarbeiten durch den renommierten Vogtländer Orgelbauer Thomas Wolf abgeschlossen werden. Seitdem erklingt das Instrument regelmäßig zu verschiedenen Konzerten, unter anderem mit dem britischen Musiker Francis Monkmann oder dem Frauenkirchenkantor Matthias Grünert.
Die Wanderung auf dem Jenaer Novalisweg und der Aufenthalt in Schlöben sind weniger aufsehenerregend, als es das Werbematerial verspricht. Der Bezug zu Novalis offenbart sich in einem kontinuierlichen Schwebezustand: er wird angedeutet und erscheint plausibel, im nächsten Moment aber erfolgt die Entzauberung. Davon abgesehen wird dem Fußreisenden eine Menge Raum für die eigene Imagination gelassen. Es ist ja durchaus vorstellbar, wie Novalis regelmäßig nach Jena durch die bewaldeten Kernberge schlenderte, wie er die Messe in der Dorfkirche besuchte und sich vom Klang der barocken Orgel hat inspirieren lassen. Dass sich all dies jedoch genauso nicht zugetragen haben könnte, auch das bleibt letztlich eine plausible Denkoption.
Möchte man die Route tatsächlich als Novalisweg begreifen und sich mit dem Schriftsteller auseinandersetzen, ist es notwendig, sich vorher einzulesen, sonst bleibt der Wanderer sprichwörtlich auf der Strecke. Mit dem eingangs erwähnten Siegel der „geprüften Erlebnisqualität“ wird die Route daher vermutlich nicht ausgezeichnet werden. Ob eine Wanderung aber stets ein von äußeren Umständen beeinflusstes und zu bewertendes „Ereignis“ sein muss, auch darüber kann sich der Fußreisende auf einer literarischen Wanderroute in entschleunigter Schrittgeschwindigkeit Gedanken machen.