Seit 25 Jahren erforscht die Frankfurter Biologin Meike Piepenbring die Pilze der Welt. Über die Mykologie der Tropen hat sie ein Standardwerk geschrieben. Ein Gespräch über Lebewesen, um die sich kaum einer kümmert, ohne die aber die Wälder sterben würden. Zweiter Teil der Interview-Reihe “Nerdalarm”.
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F.A.Z.: Frau Piepenbring, Pilzforscher sind selten berühmt, trotzdem klingt Ihr Name für Naturwissenschaftler vertraut.
Meike Piepenbring: Als Biologe kennen Sie wahrscheinlich den anderen Piepenbring. Der hat neue Pflanzenarten beschrieben.
Hat er sie inspiriert, es zuerst mit der Botanik zu versuchen statt mit Pilzen?
Nicht wirklich. Der war lange gestorben, bevor ich mit Botanik angefangen habe.
Ist es nur der Name, der Sie mit ihm verbindet?
Piepenbring hat neue Arten beschrieben, wie ich. Wenn man das tut, stellt man seinen eigenen Namen dahinter, allerdings abgekürzt. Und diese Abkürzungen müssen eindeutig sein. Ich habe recherchiert und seinen Namen gefunden. Deshalb muss ich jetzt alle neuen Arten, die ich beschreibe, mit der Abkürzung „M. Piepenbr.“ versehen.
Wie viele Artnamen tragen inzwischen dieses Kürzel am Ende?
Ich zähle sie schon nicht mehr. Mehr als zwanzig Pilze sicher, vielleicht schon dreißig.
Was hat Sie aus der schönen Botanik vertrieben? Oder waren die Pilze einfach zu verlockend als unbekannte Lebensform?
In der Botanik gibt es noch viel zu entdecken. Aber ich habe früh gemerkt, dass es bei den Pilzen noch viel mehr zu entdecken gibt. Die Pilze sind noch weit vielfältiger als die Pflanzen und noch schlechter bekannt. Wenn man in die Tropen geht, ist es viel einfacher einen neuen Pilz zu finden als eine neue Pflanze.
Das klingt, als wäre es eine leichte Übung, zur Pilzentdeckerin nach Linnés Vorbild zu werden?
Nein, das ist viel Arbeit. Der Pilz, den ich finde, kann durchaus für mich neu sein, aber er ist für die Wissenschaft in anderen tropischen Gebieten bekannt. Das muss ich immer erst aufwändig recherchieren.
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Video: Pilze – unterschätzte Überlebenskünstler / von Philip Gerhardt und Joachim Müller-Jung
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Sie gehen also wie frühe Naturforscher in die fremde Welt und graben ständig die Erde um nach neuen Pilzen?
Auf den Spuren Alexander von Humboldts sozusagen. Der eigentliche Antrieb für mich war immer der Urwald. Davon hatte ich als Jugendliche schon geträumt. Und dann habe ich im Studium nach einer Nische gesucht, wo ich nicht so viel Konkurrenz habe, wenn ich daraus einen Beruf machen möchte. Die Pilze kamen mir da gerade recht. Ich habe früh gemerkt, dass es da viel zu entdecken gibt, und dazu gibt es viele Anwendungsaspekte.
So gesehen, sind Sie also sehr rational vorgegangen bei ihrer Hinwendung zu den Pilzen, aber wenn man wie sie praktisch Rund-um-die-Uhr-Mykologin ist, muss es doch etwas gegeben haben, das sie endgültig da reingezogen hat.
Das kam, als ich in den Tropen war. Ein Biologe aus München hatte uns damals nach Costa Rica eingeladen. Als ich die tropische Natur kennen lernen durfte, war ich hin und weg buchstäblich. Das Fieber hat mich bis heute nicht losgelassen. Anfangs war ich für ein, zwei oder drei Monate dort, bin herumgereist und habe die Brandpilze Costa Ricas studiert. Bevor ich dahin kam, wusste man nicht, wo diese parasitischen Pilze wachsen. Deshalb habe ich viele Orte besucht und Herbarien, wo ich nach den Wirtspflanzen für die Brandpilze gesucht habe. Ich bin wirklich viel herum gekommen. Zu der Zeit kannte ich Costa Rica viel besser als Deutschland. Es war eine sinnvolle Aufgabenteilung für uns. Einer in unserer Arbeitsgruppe in Tübingen kümmerte sich um Rostpilze, auch das Parasiten, und die Brandpilze sind die Schwestergruppe. Ich bin auch erst mit dem Rostpilzfachmann mitgelaufen. An den Wegrändern, in Sümpfen und Savannen, da haben wir die krautigen Wirtspflanzen gefunden und die zugehörigen Pilze auch.
Sie sind auf ihren Reisen also praktisch immer haarscharf am Habitat ihrer Träume, dem Urwald, vorbeigeschrammt?
Die Pilzwirte kommen nicht im Wald vor, aber natürlich konnte ich das verbinden, ich bin auch in den Wald gegangen.
Was haben Sie gefunden auf ihrer ersten Reise?
Anfangs habe ich leider gar nichts gefunden. Es sollte ja eine Promotion werden, deshalb war das problematisch. Ich bin dann nochmal zu einer anderen Jahreszeit hingefahren, dann hatte ich mehr Erfolg. Und einen guten Tutor. So habe ich gelernt, die Wirtspflanzen, Süß- und Sauergräser sicherer zu erkennen. Ich habe in den Herbarien auf den Etiketten der Pflanzen die entscheidenden Hinweise gefunden, wo ich suchen muss.
Sind Brandpilze so schwer zu erkennen?
Eigentlich nicht. Die befallenen Pflanzen sehen wirklich aus wie verbrannt. Wenn man sie anfasst, bekommt man die braunen Sporen an die Finger, das sieht aus wie Kohlestaub. An meinen ersten Pilzfund kann ich mich sehr gut erinnern. Das war am Wegrand an Panicum maximum (Anm. der Red: Guineagras), die Tilletia ayresii oder Conidiosporomyces ayresii. Das war schon etwas sehr Besonderes. Obwohl ich ihn danach noch sehr oft gefunden habe. Ich habe Fotos gemacht, die Blütenstände abgeschnitten und in eine Tüte gesteckt, damit sie nicht so schnell verwelken, danach habe ich das Ganze zwischen Zeitungspapier gelegt, um es schließlich in eine Presse zu legen und das Präparat zu trocknen. Natürlich habe ich den Pilz auch mikroskopiert und gezeichnet. Ich habe mir unter dem Rasterelektronenmikroskop die Ornamentik angeschaut. Damals wurde auch angefangen, molekulare Daten zu sammeln. Einzelne Forscher haben schon Pilze sequenziert. In Kooperation mit Mitarbeitern in Tübingen haben wir Gensequenzen aus den Pilzen erhalten. Darüber dann kann man die systematischen Zusammenhänge noch besser aufklären. Die molekularen Daten geben einfach noch mehr Argumente als die reine Morphologie und Wirtsverwandtschaft. Mein Ziel war eine Kartierung der Brandpilze Costa Ricas.
Was ist so faszinierend an den Pilzen, außer dass manche gut schmecken?
Es ist die Vielfalt der Strukturen, die Vielfalt der Wirtspflanzen und der Habitate. Auch ein Schimmelpilz ist schön, wenn man den unter das Mikroskop legt. Er hat wunderschöne Ornamente, zeigt eine faszinierende Musterbildung. Die Pilze werden aber auch in der Interaktion mit anderen Organismen unterschätzt. Ich habe mich schon gefragt, was passieren würde, wenn wir dem Wald die Pilze wegnähmen. Der Wald würde an seinen Abfällen ersticken, weil etwa das ligninhaltige Holz nur von den Pilzen abgebaut werden kann. Die Nährstoffkreisläufe würden zusammenbrechen, das System kollabieren. Das gleiche gilt für andere Pilzgruppen, die Mykorrhizapilze, die in Symbiose leben mit den Pflanzen.
Haben Sie schon beim ersten Mal in den Tropen eine neue Art entdeckt?
Es hat eine Weile gebraucht, bis ich wusste, ob eine Art neu war, aber ja, es waren neue Arten dabei. Die erste war Entyloma doebbleri. Der Name bezieht sich auf den Kollegen aus München, der uns nach Costa Rica eingeladen hatte. Die Pilzcommunity für Brandpilze ist sehr überschaubar. Zwei, drei Wissenschaftler sind das, mehr nicht.
Sie sprachen vom Anwendungscharakter. Worin liegt der bei den seltenen Brandpilzen?
Brandpilze befallen auch unsere Nutzpflanzen. Es ist schon wichtig zu wissen, wann ein Parasit von der Wildpflanze auf die Nutzpflanze überspringt. Mich interessieren die Organismen selbst, aber den Anwendungsaspekt brauche ich vor allem dann, wenn ich Anträge schreibe. Dann muss ich schreiben, dass es die wichtigsten Pilze überhaupt sind.
Wie viele Arten sind bekannt?
Beschrieben sind heute etwa 120.000 Pilze. Aber es gibt vermutlich mehr als fünf Millionen auf der Welt. Wir können Bodenproben nehmen und die DNA-Sequenzen ermitteln, dann können wir sehen, dass es bei den Pilzen viele gibt, die wir noch nie gesehen haben. Ich konzentriere mich im Moment nicht mehr ausschließlich auf das Beschreiben neuer Arten. Mein Interesse ist inzwischen viel breiter. Im Moment fasziniert mich besonders die Chemie der Pilze, ihre Naturstoffe. Für die verschiedenen Nischen, die die Pilze besiedeln können, gibt es unterschiedliche interessante Substanzen. Dazu bin ich mit Chemikern und Biotechnologen in Kontakt.
Endlich mal jemand, der sich um neue Antibiotika kümmert?
Langfristig vielleicht schon. Erst einmal will ich aber wissen, welche Stoffe überhaupt produziert werden, und wozu sie gut sind. Die Vielfalt der Pilze hilft da sehr. Vielfalt bedeutet, dass die einzelnen Arten sich durchsetzen müssen und dafür etwas Eigenes haben. Jede einzelne Art ist anders gestrickt. Nach meiner Habilitation habe ich zwei Jahre in Panama gelebt und begonnen, ein Inventarisierungsprojekt zu starten. Da bin ich jeden Monat an dieselbe Stelle gegangen, nicht weit von meinem Haus, und habe die Pilze gesammelt. Und jedes Mal, wenn wir gesammelt haben, auch nach zwei Jahren noch, haben wir für das Areal neue Arten entdeckt. Wir haben auch eine Artensammelkurve für die Wirtspflanzen gemacht und hatten da sehr bald eine Sättigung erreicht bei etwa dreihundert Arten. Bei den Pilzen dagegen haben wir jedesmal neue Arten gefunden. Das zeigt diese enorme Vielfalt und zeigt auch, dass wir so viele Arten noch immer nicht kennen.
Fühlt man, wenn man so lange und tiefschürfend in der Wildnis unterwegs ist, etwas von dem Humboldtschen Geist?
Ja sehr. Seine Sichtweise auf die Natur ist der meinen schon sehr ähnlich, wenn ich unterwegs bin. Ich achte gerne auf die Geographie, die Geologie und die Ethnomykologie. Ich treffe viele indigene Gruppen auf meinen Reisen.
Sind Sie beim Pilzesammeln im Urwald auch schon in Gefahr geraten?
Zum Glück nicht. Es ist immer ganz wichtig in den Tropen, dass man schaut, wohin man tritt, und wo man hinfasst. Klar, wir haben Schlangen gesehen, aber immer rechtzeitig. Im steilen Gelände habe ich einmal einen Baum vor mir genutzt, um mich abzustützen, und da habe ich im letzten Moment eine hochgiftige Bothriechis schlegelii (Anm. der Red: Lanzenotter) entdeckt. Die hat allerdings überhaupt nicht reagiert, wir konnten sie sogar fotografieren, ohne dass sie angegriffen hätte.
Sie zieht es also gar nicht mehr hinein ins Biologielabor?
Doch, ich genieße es, beides zu kombinieren. Dadurch, dass ich die Labordaten auch nutze, wird das Ganze nochmal spannender. Zum Glück sind Pilze überall.
Hier auch im Raum?
Auch im Labor. Wenn ich den Deckel einer Kulturschale öffne und ihn kurze Zeit später wieder schließe, kann ich nach einer Weile beobachten, wie die Sporen sich vermehren und der Pilz im Nährmedium wächst. Pilzsporen sind überall in der Luft.
Und zwischen den Zehen am Fuß, wenn es schlecht läuft. Gibt es auch bei den mikroskopischen Fußpilzen eine Vielfalt?
Es gibt viele Arten. Einzelne sind zwar dominant, aber wenn das Gewebe erstmal geschädigt ist, fühlen sich da viele Pilze wohl. Einer meiner Doktoranden hat jüngst dazu promoviert. Er hat Nagelläsionen und Hautschuppen von verschiedenen Patienten in Panama kultiviert und zweihundert Pilzstämme isoliert. Das ergab dann 44 unterschiedliche Fußpilzarten, darunter auch völlig neue.
Und obwohl das Thema so alltagsrelevant ist, gibt es so wenige Mykologen?
Wissenschaftler, die ausschließlich an Pilzen als Gruppe arbeiten sind wirklich selten, aber wir haben natürlich viele Kollegen in der Zellbiologie, der Genetik und der Medizin, die im Labor mit Pilzen arbeiten. Das sind ziemlich viele. Außerhalb der Uni gibt es allerdings auch sehr viele Leute, die sich hervorragend mit Pilzen auskennen und sich in der Freizeit damit beschäftigen. Die treffen wir dann beispielsweise auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Mykologie. Diese Leute haben eine ungeheure Artenkenntnis und ökologische Erfahrung. Gelegentlich begleiten uns solche Fachleute auch in den Wald.
Ärgern Sie sich über Landwirte, die mit Fungiziden genau die parasitischen Pilze bekämpfen, an denen ihr Herz hängt?
Schon, aber ich weiß auch, dass wir die Weltbevölkerung nicht ernähren könnten, wenn die Landwirte das nicht machen würden.
Wie beginnen Sie im Hörsaal ihre Vorlesungen über Pilze?
Mit dem Champignon auf der Pizza. Leider werden Pilze in der Schule komplett vernachlässigt, deshalb muss ich ganz vorne anfangen. Mit den Champignons habe ich erstmal die Aufmerksamkeit. Danach erzähle ich, wozu die Pilze in den einzelnen systematischen Gruppen gut sind. Anschließend ist mir wichtig, dass die jungen Leute auch rausgehen und Spaß haben auf den Pilzexkursionen.
Haben Pilzforscher auch Visionen?
Ja, aber das geht bei mir schnell über die Pilze hinaus. Ich möchte, dass die Menschen wieder ein Gespür entwickeln für die Naturschätze, die wir noch haben. Deshalb ist mein Lehrbuch auch mit so vielen Bildern ausgestattet. Ich beobachte überall, wo ich rausgehe, dass die Vielfalt der Ökosysteme zerstört wird. Viele davon sind sehr speziell und haben ihre eigenen Arten. Es ist also völlig klar, dass jedes dieser Ökosysteme, das zerstört wird, den Verlust von Arten bedeutet, die es nirgendwo sonst gibt und die wir nie gesehen haben.
Können Sie irgendwohin gehen, ohne nach Pilzen zu suchen?
Das ist schwierig. Wir verschleppen heutzutage durch unsere Reisetätigkeit viele Arten, das ist ein wichtiger ökologischer Aspekt heute. Es gibt sie wirklich überall und zu jeder Zeit, sogar im Winter und im Schnee. Ja, wir gehen also auch im Winter raus in die Natur. Für uns interessant sind dann vor allem die Pflanzenteile, die aus dem Schnee herausragen. Auch das ist eine interessante Nische für die Pilze. Und damit auch für mich.
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Meike Piepenbring ist Professorin am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität im Fachbereich Biowissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Ihr zweiter Lebens- und Forschungsmittelpunkt liegt in Panama, wo sie ein Haus im tropischen Tiefland umgeben von Trocken- und Galeriewaldresten bewohnt.