Du hast nach nerdalarm gesucht - Blogseminar https://blogs.faz.net/blogseminar/ Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre. Mon, 06 Nov 2017 09:43:14 +0000 de-DE hourly 1 Wie das Geld an Wert verlor https://blogs.faz.net/blogseminar/interviewreihe-nerdalarm-wie-das-geld-an-wert-verlor/ https://blogs.faz.net/blogseminar/interviewreihe-nerdalarm-wie-das-geld-an-wert-verlor/#comments Thu, 02 Nov 2017 10:23:11 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=4573 Geld gibt es seit Jahrtausenden, Münzen erst seit 600 vor Christus. Warum begann man, Metall zu prägen – und welche Nachteile waren damit verbunden? Gespräch mit der Münzforscherin Fleur Kemmers. Siebte Folge unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”. ***** Video: Prof. Fleur Kemmers … Weiterlesen

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Geld gibt es seit Jahrtausenden, Münzen erst seit 600 vor Christus. Warum begann man, Metall zu prägen – und welche Nachteile waren damit verbunden? Gespräch mit der Münzforscherin Fleur Kemmers. Siebte Folge unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.

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Video: Prof. Fleur Kemmers von der Universität Frankfurt erklärt anhand eines Gipsabdrucks die Botschaft auf einer antiken kretischen Münze.

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F.A.Z.: Wenn man sich lange mit etwas beschäftigt, wird es einem oft fremd. Sie sind Numismatikerin, Spezialistin für Münzen. Inwiefern ist die Geldmünze eine sonderbare Erfindung?

Fleur Kemmers: Ich denke, es ist wichtig, zunächst einmal zu trennen. Zuerst gab es die Erfindung von Geld, je nach Region schon im 3. oder 2. Jahrtausend vor Christus; zeitversetzt, am Ende des 7. Jahrhunderts vor Christus, die von Münzen, also geprägtem Geld. Ich beschäftige mich mit beidem. Und tatsächlich entsteht irgendwann die Frage: Warum eigentlich Münzen? Es gibt ja auch ungeprägte Formen von Metallgeld, sie sind oft sogar praktischer. Trotzdem gibt es um 625 bis 600 vor Christus die Entscheidung, Münzen zu erzeugen. Wobei sich das Konzept – man nimmt ein Metall, normiert es vom Gewicht her, standardisiert den Feingehalt und prägt ein Bild darauf – relativ schnell im gesamten Mittelmeerraum verbreitet. Viele Motive bleiben aber unklar. Zum Beispiel gibt es viele Städte, die keine Münzen prägen, sie haben Geld, aber keine Münzen. Es gibt auch ganze Staaten, wie etwa Ägypten oder Karthago, die meinen, ohne Münzen gut zurecht zu kommen. Sie kennen das Konzept, haben wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zu Münzländern, aber sie übernehmen es nicht. Auch das Römische Reich prägt lange keine Münzen. Was ist schließlich der Trigger, warum findet man plötzlich, dass Münzen doch gut zu einem passen würden? Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Ich habe aber noch keine Antwort, die auf alle Fälle zutrifft. Ein Aspekt aber, der besonders wichtig zu sein scheint, ist, dass man mit dem Bild auf der Münze etwas über sich auszusagen versucht. Ungemünztes Geld ist anonym, Münzen sind verbunden mit einer Autorität, mit einer Person oder eine Institution.

Was wären in der Antike alternative Geldmittel gewesen?

Das Meiste ist ungemünztes Metall, Barren, Brocken aus Silber oder Bronze, die nach Bedarf zerstückelt werden. Das Prinzip ist ähnlich: Bestimmte Waren oder Dienstleistungen sind mit einer Geldsumme verbunden und die entspricht einem Gewicht von Metall – einem Talent, einer Drachme oder einem Pfund. Es gibt auch bestimmte Volumenmaße an Getreide, die verwendet werden.

Wie reagieren Menschen in der Antike, wenn sie zum ersten Mal mit Geld in Berührung kommen?

Das ist eine Frage, die mich sehr umtreibt. Einerseits ist interessant, was Menschen mit Geld tun. Nicht weniger spannend aber ist, was Geld mit Menschen macht. Leider ist Letzteres archäologisch schwer zu fassen, doch es gibt in den griechischen Schriftquellen, etwa bei Sokrates oder Platon, durchaus schon früh Kritik am Münzgeld. Es führe dazu, dass alles bepreist werde, auch freundschaftliche Dienstleistungen. Diese Beobachtung betrifft allerdings eher die aristokratischen Kreise. Im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus ist das Münzgeld noch nicht bis in die letzten Ecken gelangt. Und in dieser Zeit gibt es vorwiegend Silbermünzen, die etwa 12 bis 16 Gramm wiegen. Dafür kauft man keine Brötchen. Kleingeld gibt es eigentlich kaum bis nicht, das heißt: Diese Münzen werden nur für bestimmte Transaktionen verwendet, im Alltag sind sie kaum zu gebrauchen. Das ändert sich aber, grob gesagt, im 4. Jahrhundert vor Christus. Da kommt man auf die Idee, Bronzemünzen einzuführen. Mehr und mehr geht es bei den Münzen eher um den Nennwert als um den Metallwert. Am Anfang ist es ziemlich egal, ob ich ein Gut mit einer Tetradrachme abkaufe – das entspricht 16 Gramm Silber – oder einem Silberklumpen mit dem gleichen Gewicht. Aber das ändert sich. In unserer Zeit ist die Bedeutung des Nennwerts einer Münze in extremo weiterentwickelt, er beruht auf rein gesellschaftlicher Vereinbarung. Konzeptionell war das ein großer Schritt.

© Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann)Frühe Elektronprägung aus Sardis in Lydien

Wie verhielt es sich bei den allerersten Münzen in Lydien? Sie bestanden aus dem natürlich vorkommenden Metall “Elektron”, einer Mischung aus Silber und Gold, man wusste aber nicht genau, wie das Mischungsverhältnis aussah.

Diese Tatsache könnte eine Erklärung dafür liefern, warum es überhaupt zu den Münzen kam. Demnach hätte man mit der Prägung das Problem zu lösen versucht, dass ein Gramm Elektron wertmäßig nie einem anderen Gramm Elektron entspricht, weil der Goldanteil schwankt. Die Prägung wäre in diesem Fall eine Setzung. Tatsache ist aber auch, dass man zu dieser Zeit schon über die Fähigkeit verfügte, Silber von Gold zu trennen. Auch hat man mittlerweile mittels Metallanalysen festgestellt, dass die lydischen Münzen aus Elektron von Anfang an bewusst zusätzlich mit Silber angereichert wurden. Das stellt die Sache nochmal auf den Kopf. Eine passende Erklärung könnte sein, dass die lydischen Könige ihre Münzen, die eigentlich aus schlechtem Elektron bestehen, bewusst haben prägen lassen, um einen Gewinn zu erzielen. Das scheint mir aber eine sehr moderne Vorstellung zu sein. Ich finde es schwer, in dieser Frage eine Position zu beziehen, denn es ist bei diesen lydischen Münzen noch vieles unklar, selbst ihre Datierung schwankt noch zwischen 670 und 600 vor Christus. Und auf wen oder was beziehen sich die Buchstaben, die sich auf den Münzen befinden, was ist eigentlich der lydische Staat zu dieser Zeit? Auch sind gerade diese frühen Münzen extrem selten, nur etwa 2000 Stück sind erhalten geblieben, für Münzen ist das extrem wenig. Von manchen Städten im antiken Griechenland sind Zehntausenden Münzen erhalten geblieben.

Wo sind diese Münzen alle abgeblieben, nur ein Bruchteil soll ja erhalten sein?

Die meisten sind eingeschmolzen worden, ein Teil liegt noch im Boden und auf dem Meeresgrund.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung aber nicht mit der gesamten frühen Phase des Geldes.

Mein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem westlichen Mittelmeer von 550 vor Christus an. Zu dieser Zeit hat Münzprägung in Griechenland gerade Fuß gefasst. Auf Sizilien und in Süditalien fängt man fast zeitgleich mit den griechischen Städten im modernen Griechenland mit Münzprägung an, doch dort gibt es keine natürlichen Silbervorkommen, anders als etwa in Athen. Die Einführung von Münzen muss also gut überlegt worden sein. Auffällig ist außerdem, dass nicht in großen Mengen geprägt wird. Es gibt auch einige Städte, die sich nicht beteiligen. Warum ist das so?

Was meinen Sie?

Ich denke, das Wichtigste ist, dass mittels der Münzen ein Statement abgegeben werden sollte über die ausführende Institution. Es geht darum, Geld zu deanonymisieren, etwas über die eigene Identität auszusagen, das wäre meine These.

Video: Der Sesterz des Titus

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Gibt es definierbare Phasen in der Geschichte des Münzgeldes?

Um etwa 200 vor Christus ist die Münze im Alltag angekommen, jetzt spielt auch Kleingeld eine große Rolle. In der römischen Kaiserzeit um Christi Geburt gibt es ein festgeschnürtes System, das über mehrere Jahrhunderte hinweg stabil bleibt. Es gibt neun Nominale von Kupfer bis Gold, die aufeinander bezogen sind. Dieses System wird eingeführt in einer Zeit, in der der Denar Angelpunkt im System ist. Er besteht zu dieser Zeit aus fast reinem Silber, 25 Denare entsprechen einer Gold-Münze, 4 Messingmünzen einem Denar.

Zweihundert Jahre nach Christus besteht der Denar nur noch zu 40 Prozent aus Silber, und trotzdem bleibt das System erhalten. Es gibt immer noch ein ausreichend großes Vertrauen. Dieses wird jedoch im Lauf des dritten Jahrhunderts überstrapaziert, im Denar befinden sich irgendwann nur noch zwei Prozent Silber. Es glaubt keiner mehr, dass vier große Messingmünzen, die pro Stück dreißig Gramm wiegen, vom Wert her mit einer schrottigen Münze von drei Gramm Gewicht übereinstimmen, die im Kern eigentlich auch aus Kupfer besteht und mit Silber nur noch ummantelt ist. In Reaktion darauf hört man irgendwann auf, Kleingeld zu prägen, weil es zu teuer ist, auch das Goldprägen wird eingestellt, das System scheitert.

Inflation.

Ja, im dritten Jahrhundert kommt es zu einer großen Inflation. Wir befinden uns in einer Zeit der Bürgerkriege und externer Kriege, in dreißig Jahren gibt es 50 Kaiser, die meisten werden ermordet, das Vertrauen in den Staat ist zerrüttet. Für die Kriege wird immer mehr Geld gebraucht, die Münzen verschlechtern sich. Nach dem Zusammenbruch des Systems übernimmt Rom zentral die gesamte Prägung, verteilt auf zwölf Stätten des Reiches. Überall werden die gleichen Münzen geprägt, nur noch einzelne Buchstaben unterscheiden sich, egal, ob sie aus Trier, London oder Thessaloniki stammen.

Gab es in der Antike schon Wechselstuben und Banken?

Geldwechsler gab es von Anfang an, das war auch nötig, denn in Griechenland zum Beispiel prägte jede Stadt ihre eigenen Münzen. Bei den Banken wird es schwieriger. Wie definiert man sie? Denkt man an Sparbanken mit Verzinsung, an Kreditvergabe? Ein berühmtes Beispiel ist Cicero, dessen Sohn in Athen studiert, der Vater will ihn auf der Reise aber nicht mit 200 Aurei ausstatten. Wie organisiert er das? Aus den Korrespondenzen wissen wir, dass Cicero einen Banker hat, und der gibt dem Sohn eine Art Traveler Cheque mit, den dieser bei einem Geschäftspartner in Athen einlösen kann. Er bekommt dann jeden Monat ein Stipendium ausgezahlt. Wie die beiden Banker in Rom und Athen die Transaktion verrechnet haben, ob durch physischen Ausgleich oder rein buchhalterisch, darüber gibt es eine große Debatte.

Auch von Sparkassen wissen wir, in denen man sein Geld in dieser Zeit sicher aufbewahren kann. Häufig übernehmen Tempel diese Funktion. Auch Kredite werden vergeben. Berühmt geworden ist die Kreditkrise von 33 nach Christus, von der Tacitus berichtet. Sie ist gut vergleichbar mit der Finanzkrise aus dem Jahr 2008 .

Wenn man das alles hört, gewinnt man den Eindruck, dass die Numismatik ein weites Feld beackert – wo liegen ihre Grenzen? Kann ein vergleichsweise kleines Fach es leisten, die Geschichte des Geldes zu erzählen? Im Grunde könnten Sie sich doch darauf zurückziehen, zu sagen, wir sind nur für den Mehrwert der Prägung zuständig.

Aber das ist doch langweilig, oder? Sie haben recht, die Auffassung “Ich beschäftige mich nur mit den geprägten Objekten” ist die klassische Definition der Numismatik. Demnach konzentriert man sich auf die Typologie der Münzen, ihre Chronologie, man versucht zu verstehen, was die Texte und Bilder darauf bedeuten. Was das alles zu einem besseren Verständnis des Altertums beiträgt – diese Frage blieb außen vor. Hierin sehe ich aber die heutige Aufgabe der Numismatik: Verbindungen herzustellen, zu zeigen, was diese schönen runden Objekte uns über die antike Gesellschaft erzählen. Münzen und Geld sind mit so vielen Bereichen des Alltags verbunden, dass die Numismatik, um den Kontext von Geld und Münzen besser zu verstehen, nach meinem Verständnis mit vielen unterschiedlichen Wissenschaften zusammen arbeiten muss: mit der alten Geschichte, der Kunstgeschichte, der Ikonographie, den Wirtschaftswissenschaften, der Ethnologie. Die Numismatik muss nach meiner Auffassung den Mehrwert deutlicher machen, den diese Quellengattung besitzt.

Video: Die drei Tempel von Smyrna

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Was mach die Quellengattung “Münze” aus, im Vergleich zu antiken Texten, Inschriften, Keramik, Statuen?

Zum einen sind Münzen kontinuierlich und in großen Mengen überliefert, von 600 vor Christus bis heute. Und wir kennen fast alle Sorten. Spannend ist auch, dass Münzen sowohl Bild als auch Text und Material umfassen. Das Spannendste für mich aber ist, dass sich Münzen immer zwischen zwei Stühlen befinden. Sie sind zum einen historische Dokumente, geprägt von Institutionen, andererseits sind sie für die damaligen Menschen Alltagsgegenstände, die wir bei archäologischen Ausgrabungen in bestimmten Kontexten vorfinden. Münzen liegen also zwischen Individuum und Struktur. Man kann sich zum einen mit ihrer Produktionsseite beschäftigten, dann hat man es mit Staaten, Autoritäten, Finanzpolitik zu tun, oder man fokussiert die Benutzer: Was sagen Münzen über deren Alltag, über die Wirtschaft einer Zeit aus. Das sind die zwei Seiten einer Münze.

Kann eine vergleichsweise kleine Wissenschaft es leisten, ein derart zentrales Thema für die Weltgeschichte zu beackern? Ist die Rekonstruktion von Kontexten, in denen Geld steht, nicht mit das Anspruchsvollste überhaupt?

Natürlich bin ich kein Spezialist für die gesamte Antike, deshalb muss ich mit vielen Kollegen zusammenarbeiten. Ich persönlich habe Archäologie studiert und bin erst über dieses Fach zu den Münzen gekommen. Es begann damit, dass ich mich gefragt habe, wie die Münzen aus einem Legionslager in Nijmegen (in den Niederlanden), über das ich geforscht habe, eigentlich in den Boden gelangt sind? Ich stellte fest, dass sich die Numismatiker mit dieser Frage nicht beschäftigt haben, Archäologen und Historiker aber auch nicht. Diese Frage ist erst in den letzten zwanzig Jahren auf die Tagesordnung gelangt.

Kann man sagen, die alte Numismatik, der Prägeaspekt, ist ausbuchstabiert?

Nein, sie ist nicht ausbuchstabiert, aber die Numismatik kann sich nicht mehr darauf beschränken. Die Numismatik war immer ein kleines Fach, es ist aber mit der Zeit nicht größer geworden. Was meiner Ansicht nach daran liegt, dass sie nicht klar genug dargestellt hat, was sie leisten kann, welche Bedeutung diese merkwürdigen runden Scheiben für größere Fragestellungen haben.

Gibt es eigentlich schon ein Standardwerk darüber, wie Geld über die Jahrhunderte hinweg die Welt regiert hat?

Nein. Es gibt Standardwerke über Münzen, und es gibt Bücher wie “Money – a History”, die sind aber wissenschaftlich meist etwas oberflächlich.

Was hat man für einen Denar in der Antike bekommen?

Das ist nicht leicht zu sagen. Denare gibt es von 200 vor bis 250 nach Christus – und es gibt natürlich kein konstantes Preisniveau über die Jahrhunderte und Geltungsregionen hinweg. Einblicke gewinnen wir zum Beispiel in Pompeji, wo in Kneipen die Preise ausgewiesen wurden. Daher wissen wir, dass man 70 nach Christus in Zentralitalien von einem Denar einen Tag lang gut leben kan. Ein Denar war zu gleicher Zeit auch etwa der Tageslohn für einen Soldaten. Einen Becher Wein gab es für ein paar Kupfermünzen.

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Fleur Kemmers führt einen eingetüteten Fund der Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz vor (siehe Abbildung). Er stammt nicht aus einer systematischen Grabung, sondern wurde auf einem Acker im Kreis Cochem gefunden.

Diese Münzen habe ich extra aufgehoben, um Sie Ihnen vorzuführen. Die Frage der Denkmalpflege Rheinland Pfalz wäre dabei, aus welcher Zeit diese Münzen stammen. Man sieht gleich, sie sind in einem schlechten Zustand, sie sind stark korrodiert, sehr schmutzig, staubig. Wenn ich solche Funde mit Studenten untersuche, beginnen wir erst einmal, mit der Zahnbürste zu schrubben.

Das sind auf den ersten Blick alles römische Münzen, keine griechischen, vielleicht sind auch ein paar keltische darunter. Kupferlegierungen herrschen stark vor, Denare sind auf den ersten Blick nicht dabei. Das Kaiserporträt auf diesem Sesterz weist auf Mark Aurel hin. Diese kleinen Münzen hier sind aus dem 4. Jahrhundert. So kann ich den Fund grob sortieren, anschließend würde ich eine Bestimmung mit dem passenden Standardwerk für römische Münzen vornehmen. Ach, hier haben wir doch einen Denar, hier ist noch einer, beide Septimius Severus, also aus dem frühen dritten Jahrhundert. Damit befinden wir uns in einer Zeit, in der die Münzen eigentlich nur noch 40 bis 45 Prozent Silber enthalten. Goldmünzen sind bei solchen Funden selten dabei. Das sind wahrscheinlich Münzen, die bei alltäglichen Transaktionen verloren gingen

Wie würden Sie den Fund jetzt zeitlich einordnen?

Die römischen Münzen fangen im zweiten Jahrhundert an, es gibt aber einen deutlichen Peak im 3. und 4. Jahrhundert, also um 310/320 nach Christus. Die Einordnung könnte man dann noch mit anderen Fundorten in der Nähe vergleichen. Wahrscheinlich wurden die meisten in Trier geprägt.

© dpaAusführung der Brutus-Münze in Gold – sie befindet sich im Geldmuseum der Bundesbank in Frankfurt am Main.

Was war die wertvollste Münze, die sie je in der Hand hatten?

Die war in einem Fund aus den Niederlanden, wo ich herkomme. Das war ein “Eidus Martius”-Denar, jener Denar, der von Brutus geprägt wurde. Auf der Vorderseite ist Brutus selbst abgebildet, auf der Rückseite zwei Dolche mit dem Datum EID MAR, was für die Iden des März steht. Mit dieser Münze macht Brutus Werbung dafür, dass er Caesar umgebracht hat. Die Münze ist wegen des berühmten historischen Hintergrunds sehr nachgefragt – und sehr selten.

 

Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus

 

Weitere Folgen der Interviewreihe “Nerdalarm”

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Fleur Kemmers (1977 geboren im niederländischen Rhenen) studierte Archäologie an der Universität von Amsterdam und promovierte an der Radboud Universität Nijmegen in der antiken Numismatik und provinzialrömischer Archäologie. 2010 erhielt sie den Ruf an die Goethe Universität Frankfurt auf die Lichtenberg-Nachwuchsprofessur (gefördert von der Volkswagen-Stiftung) für “Münze und Geld in der griechisch-römischen Welt”. 2016 wurde diese Professur in einen regulären Lehrstuhl umgewandelt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Methoden und Theorien der Fundnumismatik, Monetarisierung in der römischen Republik und Kaiserzeit, Anfänge der Münzprägung im westlichen Mittelmeerraum und Metallanalysen an antiken Münzen. 

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Bäume kuscheln nicht https://blogs.faz.net/blogseminar/die-wahrheit-ueber-den-deutschen-wald/ https://blogs.faz.net/blogseminar/die-wahrheit-ueber-den-deutschen-wald/#comments Thu, 21 Sep 2017 10:57:28 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=4009 Die Deutschen lieben den Wald. Der Förster Peter Wohlleben schreibt in seinen Büchern, Bäume lieben sich auch untereinander. Ein Forstwissenschaftler durchbricht jetzt die Bestseller-Idylle: Massensterben ist an der Tagesordnung. Neue Folge unserer Interview-Reihe "Nerdalarm". Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Die Deutschen lieben den Wald. Der Förster Peter Wohlleben schreibt in seinen Büchern, Bäume liebten sich auch untereinander. Ein Forstwissenschaftler durchbricht jetzt die Bestseller-Idylle mit Fakten. Neue Folge unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.

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Video: Christian Ammer, Forstwissenschaftler an der Georg-August-Universität Göttingen, wehrt sich gegen das von Peter Wohlleben in seinem Buch “Das geheime Leben der Bäume” verbreitete Bild des deutschen Walds.

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F.A.Z.: Herr Professor Ammer, wie geht es dem deutschen Wald?

Christian Ammer: Momentan geht es dem deutschen Wald vergleichsweise gut. Aber er hat mit einigen Herausforderungen zu kämpfen, die vor allem langfristig Probleme machen werden. Die Zukunftsperspektive kann einem durchaus ein wenig Sorgen machen. Die Waldentwicklung zeigt einerseits: Die Wälder werden tendenziell älter, sie werden immer gemischter, das finden in Deutschland die meisten Fachleute gut. Die Probleme beginnen mit Einflüssen auf Wälder, die die Forstwirtschaft nicht im Griff hat. Das eine ist der Klimawandel, der einige Baumarten stärker treffen wird als andere. Das zweite Problem ist, dass die Stickstoffeinträge aus der Landwirtschaft und dem Verkehr seit Jahren anhalten. Das hat Folgen, die man noch nicht abschätzen kann, die aber durchaus Anlass zur Sorge geben. So könnte die Trinkwasserqualität sinken, die meisten Wassergewinnungsanlagen befinden sich ja im Wald. Langfristig werden zudem Bodenversauerung und Nährstoffungleichgewichte befürchtet. Gesellschaftlich schiebt man das weitgehend beiseite, dabei wäre es sinnvoll, den Individualverkehr einzuschränken und sich für eine Landwirtschaft einzusetzen, die auf hohe Stickstoff-Mineraldüngung verzichtet.

Jammern wir in Deutschland über den Wald auf hohem Niveau?

Wir leben in einem Land, das extrem dicht besiedelt ist. Bei uns steht im Prinzip hinter jedem Baum einer mit einem bestimmten Interesse, nur leider decken sich diese Interessen nicht immer. Der Erste sagt: Ich will beschauliche Erholung, der Zweite will Aktivsport betreiben, der Dritte will möglichst viel Naturschutz, der Vierte will Holz gewinnen, der Fünfte will ungestört auf die Jagd gehen. Durch diese vielen divergierenden Interessen ist in Deutschland ein ganz besonderes Waldmanagement entstanden. Wir hatten vor ein paar Jahren mal kanadische Studenten hier. Nach einer Woche fragten die: Sagt mal, was macht ihr hier eigentlich? Das ist ja Waldgärtnerei, was ihr betreibt. In Deutschland leben aber doppelt so viele Menschen wie in Kanada, allerdings auf einer dreißig Mal kleineren Fläche. Pro Quadratmeter bedeutet das eine sechzig Mal höhere Belastung. Wenn Sie in die Stadt gehen und fragen: Wie geht es dem deutschen Wald, dann wird jeder etwas anderes sagen, weil jeder den deutschen Wald durch seine Brille sieht. Wenn man aber die Multifunktionalität zum Maßstab nimmt, also die Fähigkeit viele Interessen gleichzeitig zu befriedigen, würde ich sagen: die Situation ist gut.

© dpaDurchzogen von unterschiedlichsten Interessen: Buchenwald in Niedersachsen

Was ist aus dem Waldsterben der achtziger Jahre geworden?

Die Maßnahmen zur Luftreinhaltung, die in den achtziger Jahren umgesetzt wurden, haben viel bewirkt. Die Schwefeleinträge, die für die Bodenversauerung eine große Rolle gespielt haben, sind stark zurückgegangen. Viel von dem, was prognostiziert wurde, vor allem was die Schnelligkeit des flächigen Absterbens angeht, ist aber auch falsch eingeschätzt worden. Wälder haben viel mehr Reaktionsmöglichkeiten, als man, dem damaligen Stand des Wissens folgend, annahm. Rückblickend hat man  die Lage zum Teil zu kritisch eingeschätzt, aber vielleicht hat sich die  Politik nur deshalb  bewegt. Ganz konkret kann man sagen, dass es einige Arten gab, die extrem unter dem Schwefeleintrag gelitten haben – zum Beispiel die Weißtanne. Diese Baumart  hat sich sehr deutlich wieder erholt.

Wird der Wald auch heute noch gekalkt?

Das ist eine Art Glaubensfrage geworden. Es gibt Bundesländer, denen ist die Kalkung wichtig, weil sie den Säureeintrag kompensiert. Der Effekt ist der gleiche wie bei jemandem, der Sodbrennen hat und Säureblocker nimmt, es geht um eine Pufferung. Das Land Bayern aber vertritt zum Beispiel den Standpunkt: Wir brauchen das nicht, denn die Kalkung bekämpft nur ein Symptom, nicht aber die Ursache. Hier denkt man, dass die Baumarten anpassungsfähig genug sind, um das Problem selber zu lösen. Eine flächige Kalkung, über alle Standorte hinweg, wird aber auch von vielen anderen inzwischen kritisch gesehen.

Wem gehört eigentlich der deutsche Wald?

Der gehört ganz unterschiedlichen Gruppen. Knapp die Hälfte den privaten Waldbesitzern, wobei es viele gibt, denen wegen des steten Teilens beim Weitervererben nur ein schmaler Streifen gehört, der auch mal nur zwei Meter breit und hundert Meter lang sein kann, in Thüringen etwa, in Franken oder in Württemberg. Eine zunehmende Zahl an Menschen weiß gar nicht mehr, dass ihnen Wald gehört. Es gibt aber auch den typischen oberbayerischen Hof, zu dem neben 50, 60 Hektar Gründland auch 80 oder 90 Hektar Wald gehören. Die ganz großen Waldbesitzer sind traditionell eher adlige Familien, die mitunter 500 Hektar und mehr besitzen. Ungefähr ein Drittel ist Staatswald – dem Bund gehört dabei ganz wenig, den Ländern das meiste. Daher ist Waldpolitik auch Ländersache. Der Rest sind kommunale Wälder. Dann gibt es noch Mischformen, die sehr spannend sind: Gemeinschaftsbesitz mit ideellen Anteilen, die früher nicht veräußert werden durften – ein geradezu sozialistisches Modell auf der Basis uralter Rechte.

© dpaDer Wald ist in Deutschland beliebt, als Wirtschaftsfaktor wird er aber total unterschätzt.

Stimmt die Zahl, dass es in Deutschland zwei Millionen Waldbesitzer gibt?

Ja vermutlich, keiner weiß das ganz genau, die Zahl wird auf ein bis zwei Millionen geschätzt.

Das bedeutet: In jedem Zugabteil sitzt mindestens ein Waldbesitzer?

Ja. Vielen gehören aber eben nur  kleine Flächen. Aber es gibt Dörfer, da besitzen alle Alteingesessenen zwei, drei Hektar Wald.

Der Wald ist also voller Grenzsteine?

Im Prinzip ja. Die sieht man nicht immer, aber sie sind da und könnten sicher tolle Geschichten erzählen.

Das geheime Leben der …

Waldgrenzsteine, genau. Wälder sind Spiegel der Geschichte, und zwar weniger der heutigen Zeit, als jener in der sie begründet wurden. Ein gutes Beispiel ist der Spessart, da hat man Eichen gepflanzt, um sie für den Schiffsbau nach Holland zu verkaufen. Als sie dick genug waren, hat keiner mehr Schiffe aus Holz gebaut.

Was auch überraschend ist: Wie viele Arbeitsplätze am Forst hängen.

Ja. Ich kenne nur die Zahl, wonach nach der Autobranche der Sektor Forst/Holz, inklusive des Papier- und des Druckgewerbes die Branche mit den zweitmeisten Beschäftigten in Deutschland ist. Insgesamt sind es, wenn ich mich recht erinnere, 1,1 Millionen Beschäftigte, was aber kein Mensch weiß, da es sich vorwiegend um kleine und mittelständische Betriebe handelt.

Bei diesen Zahlen kann man nur sagen: Das Thema “Wald” wird total unterschätzt.

Ja, der Wald wird zumeist aus der emotionalen Naturerlebnis-Ecke heraus betrachtet.

© dpaKonkurrenzstarke Schattenspender: Säulenhainbuchen

Muss man eigentlich mit Wald Geld verdienen?

Man muss es nicht, wenn man gleichzeitig eine gute Antwort darauf hat, wie man die Produkte, die aus dem Wald kommen, anders bereitstellt oder einspart. Wenn einer sagt, er brauche keinen Holztisch, dann muss er dazu sagen, ob er ohne Tisch zurecht kommt oder ob er der Meinung ist, Tische sollten grundsätzlich nur noch aus Kunststoff oder Aluminium hergestellt werden. Wenn er letzteres sagt, bitte ich ihn, mir die entsprechende Ökobilanz vorzurechnen. Wenn die schlechter ist als die eines Holztischs, was der Fall ist, dann muss er klar sagen, dass ihm das egal ist. Wenn es ihm nicht egal ist, hat er ein argumentatives Problem. Ein Kollege von mir hat mit Bezug auf den Wald mal vom sogenannten Schlachthaus-Paradoxon gesprochen. Viele Leute finden das Kälbchen auf der Wiese süß und auch das Steak auf dem Grill gut. Von dem, was dazwischenliegt, will keiner etwas wissen. Ein wenig verhält es sich so auch mit der Forstwirtschaft: Wälder mag jeder, und Holz ist auch positiv belegt. Dass es einen Prozess gibt, der dazwischenliegt – Bäume fällen, abtransportieren -, das stört.

Aber zwischen Tierschlachtung und Holzgewinnung gibt es schon noch einen Unterschied – oder haben Sie das Gefühl, dass der verwischt?

Natürlich gibt es einen Unterschied, aber es gibt auch einen manchmal erstaunlichen Widerstand gegen die Nutzung der Wälder im Allgemeinen, auch wenn sie nachhaltig betrieben wird. Der Vergleich hinkt aber noch aus einem anderen Grund. Man kann sich ohne Fleisch gesund ernähren, bei Holz wird eine Alternative schwieriger.

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Sie haben kürzlich eine Petition gegen das Buch “Das geheime Leben der Bäume” von Peter Wohlleben, das seit Monaten und Jahren auf den Sachbuch-Bestsellerlisten steht,  eingereicht. Warum?

Auslöser war ehrlich gesagt ein Kollege aus Kanada, der sollte die französische Ausgabe des Buchs von Herrn Wohlleben in der größten Tageszeitung des Landes besprechen. Daraufhin hat er mich und einen Kollegen aus Freiburg angemailt und geschrieben, er habe gerade dieses Buch auf dem Tisch, vieles darin sei völliger Unsinn. Er fragte, ob uns das Buch nicht bekannt sei und ob wir uns schon dazu geäußert hätten. Wir mussten verneinen. Ich habe mich dann mit meinem Kollegen beraten und wir haben dann auch unter dem Aspekt “Wissenschaft sollte sich mehr in gesellschaftliche Debatten einmischen” beschlossen: Wir verfassen eine Petition. Diese sollte sich an Medienvertreter richten, weil wir fanden, dass es deren Aufgabe gewesen wäre, kritisch zu prüfen, ob die Aussagen des Buches wirklich durch Fakten gedeckt sind. Wir meinten zudem, wir müssten klarstellen, dass es sich bei dem Buch weder um Wissenschaft noch um Populärwissenschaft handelt,, sondern dass die Grenze zwischen korrekten Fakten und reinen Mutmaßungen in unzulässiger und für den Leser nicht trennbarer Weise verwischt ist. Am Ende hatten rund 4500 Personen die Petition unterzeichnet. Für meinen Kollegen Bauhus und mich hat sich die Diskussion dabei im Laufe der Zeit weg vom Buch, hin zu der mehr grundsätzlichen Frage verschoben: Wie kann es sein, dass jemand etwas Falsches behauptet oder wild spekuliert, ihm aber alle glauben? Wie kann es sein, dass sich keiner die Mühe macht, das Geschriebene zu hinterfragen? Ich finde den darin zum Ausdruck kommenden Zeitgeist beängstigend. Es reicht selbst in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren offenbar aus, einfach nur wiederholt etwas zu behaupten, um unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Aussage Anklang zu finden, sofern die Botschaft das Gefühl und die Erwartung der Leute trifft. Mir ist dabei  klar geworden, wie wichtig ein  freier und kritischer Journalismus ist. Wenn es dieses Korrektiv nicht gibt, wenn keiner mehr sagt, dass der Kaiser keine Kleider anhat, sondern nackt ist, dann muss man sich Sorgen machen.

© dpaUrwald gibt es in Deutschland nicht mehr, der Wald ist in Deutschland oft auch unter ästhetischen Aspekten gestaltet.

Ob Bäume Gefühle haben oder nicht, ist die eine Frage, die durch Peter Wohllebens Buch ausgelöst wird. Wie schwerwiegend sind die aus Ihrer Sicht falsch dargestellten Fakten in seinem Buch? In Ihrer Petition nennen Sie zwei Beispiele. Bei dem einen scheint Herr Wohlleben nahelegen zu wollen, dass Holz nicht klimaneutral ist, was bedeuten würde: Vorsicht vor dem Verfeuern von Holz!

Herr Wohlleben behauptet, dass bei der Verbrennung von Holz nicht nur die darin gespeicherte Menge an CO2 freigesetzt würde, sondern in selber Menge CO2 aus dem Boden im Zuge der Nutzung. Das ist nachweislich falsch – auch wenn man das Verfeuern von Holz kritisch sehen kann unter dem Aspekt, dass es dafür eigentlich zu schade ist. Wird mit seiner Verbrennung aber ein fossiler Brennstoff wie zum Beispiel Erdöl eingespart, ist damit unbestreitbar ein für den Klimaschutz positiver Effekt verbunden. Um auf das Buch zurückzukommen: ich hätte mich weniger darüber aufgeregt, wenn es durch solche Aussagen nicht Botschaften aussenden würde, die politisch relevant werden könnten. Wer Herrn Wohlleben in Talkshows zuhört, muss zu dem Schluss kommen, dass die Nutzung von Wäldern zum Zwecke der Bereitstellung von Holz per se etwas Schlechtes ist, insbesondere mit Blick auf den Klimaschutz

Ist die Forschung in diesem Bereich eindeutig?

Ja, Meinungsverschiedenheiten gibt es eigentlich nur hinsichtlich des Zeithorizonts der Betrachtung. Die Frage, ob Wälder unter Gesichtspunkten des Klimaschutzes bewirtschaftet werden oder von einer Nutzung ausgenommen werden sollten, ist verbunden mit der Frage: Welche der beiden Optionen bindet mehr CO2? Die Antwort auf diese Frage wird ganz entscheidend davon abhängen, ob ich die nächsten zehn Jahre betrachte oder die nächsten fünfzig oder hundert und wie viel CO2 ein Wald schon gespeichert hat. Es gibt einen Punkt an dem ist der CO2-Speicher den ein Wald darstellt, voll, die Frage ist lediglich, wann das der Fall ist. Deshalb sind der Ausgangswert und die Betrachtungszeit wichtig. Je voller der Biomassespeicher schon ist und je länger ich das System betrachte, umso besser schneidet mit Blick auf den Klimaschutz die Nutzung gegenüber der Nicht-Nutzung ab, da das genutzte Holz laufend fossile Energieträger ersetzt, während im ungenutzten Wald der Speicher irgendwann gefüllt ist. Uneinigkeit herrscht darüber, bei welcher Höhe der Holzbiomasse eines Waldes dies der Fall ist. Klar ist aber auch: Weder die Nicht-Nutzung noch die Nutzung von Wäldern können das Problem der viel zu hohen CO2-Immissionen auch nur ansatzweise lösen. Die Waldbewirtschaftung und der Waldspeicher kompensieren gerade einmal 13 Prozent des jährlichen CO2-Ausstoßes Deutschlands. Auf die verbliebenen 87 Prozent hat der Wald keinen Einfluss. Man streitet sich also um einen relativ kleinen Beitrag, während das eigentliche Problem bislang völlig ungelöst ist. Zurück zu Ihrer Frage nach der Aussage von Herrn Wohlleben zum Bodenkohlenstoff: es gibt viele Arbeiten, die übereinstimmend zeigen, dass zwischen naturnah bewirtschafteten und nicht bewirtschafteten Wäldern keine Unterschiede in den Bodenkohlenstoffvorräten nachgewiesen werden konnten.

© dpaBuchen kuscheln nicht, sagt Christian Ammer, ihre Entwicklung folgt dem evolutionären Vorteil.

Der zweite Kritikpunkt Ihrer Petition war, dass Herr Wohlleben behauptet, Buchen untereinander bevorzugten das, Zitat, “Gruppenkuscheln”, kennten kein Konkurrenzverhältnis, dieses entstehe erst, wenn man Buchen mit anderen Bäumen mische. Damit vereinzele man sie, mache sie unkommunikativ.

Zunächst: Das Gegenteil ist der Fall. Arten, die unterschiedliche Bedürfnisse haben, können eher miteinander zurecht kommen als jene, mit ähnlichen Bedürfnissen, wobei auch hier Konkurrenzprozesse an der Tagesordnung sind. Je ähnlicher die Bedürfnisse der Individuen sind, desto schwieriger ist es, den Kuchen der nur begrenzt vorhandenen Ressourcen (Licht, Wasser Nährstoffe) zu verteilen. Entsprechend nimmt die Zahl der Bäumchen mit ihrem Dicker- und Größerwerden ab, gerade bei der gegen sich und andere sehr konkurrenzstarken Buche. Wenn sie Früchte bildet und diese sich zu kleinen Bäumchen entwickeln, findet viele Jahre ein Massensterben statt, übrig bleiben einige wenige, die auf eine Lücke im Kronendach warten, um an das Licht zu gelangen.

Ihre, von der Wissenschaft gedeckte Position hat dabei ein Problem: Sie richten sich einerseits gegen Fake Facts, müssen sich aber anderseits gegen ein von Harmonie und Freundlichkeit geprägtes Bild des Waldes wenden. Sie müssen ein Konkurrenzverhältnis darstellen, das gewöhnlich die einschlägigen, Gutmenschen verspottenden, Fake-News-Produzenten mit unsachlichen Mitteln proklamieren.

Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass ich der Böse bin, wenn ich sage: in Baumbeständen sind Konkurrenz und Tod ein zentrales Element der Walddynamik. Das will keiner hören. Die Leute wollen lieber lesen, dass die Bäume sich liebhaben und dass sie sich helfen. Das erklärt vermutlich auch den Erfolg des Buchs von Herrn Wohlleben. In gewisser Weise sagt es über die Wünsche und Sehnsüchte der Leser mehr aus als über die Wälder. Wald wird als Rückzugsort und heile Natur empfunden, was eigentlich auch ganz schön ist. Im Offenland geben sich viele dieser Illusion schon nicht mehr hin. Überall gibt es Probleme, aber beim Wald ist man bereit zu glauben, dass alles voller Harmonie ist, wenn man ihn nur in Ruhe lässt.

Sehen Sie auch gute Seiten an dem Buch von Herrn Wohlleben?

Es zeigt, wie positiv der Wald in Deutschland belegt ist. Das emotionale Verhältnis der Deutschen zum Wald ist schon bemerkenswert. Und es ist ja auch etwas Großartiges, dass man von Lebewesen umgeben ist, die aus nichts etwas machen können und trotzdem lange leben. Diese Demut vermittelt das Buch ganz gut.

© dpaHaben Bäume Geheimnisse, die die Forstwissenschaft übersieht?

Füllt das Buch eine Lücke, die die Forstwissenschaft gelassen hat?

Nein, das wäre nur der Fall, wenn Herr Wohlleben seine Thesen mit den üblichen, in den Naturwissenschaften geltenden Standards untermauern würde. Die Frage ist eher: Hätte man ein Buch auch ohne die vielen Mutmaßungen schreiben können, das den gleichen Erfolg gehabt hätte?

Kann die Forstwissenschaft überhaupt eine Harmoniegeschichte des Waldes schreiben?

Nein, das kann sie nicht, wenn unter Harmonie verstanden wird, dass sich alle Bäume mögen, was eine Absicht und Gedankenleistung auf der Ebene des Individuums voraussetzt, für die es bei Bäumen nicht den kleinsten Anhaltspunkt gibt. Harmonisch in dem Sinne, dass jede Art für bestimmte Ökosystemfunktionen wichtig ist, durchaus.

Es gibt eine Szene in Peter Wohllebens Buch, in der stellt sich heraus, dass ein alter Baumstumpf gar nicht abgestorben ist, sondern von den Nachbarbäumen am Leben erhalten wird. Genau so gut könnte man sagen, dass sein altes Wurzelsystem ausgenutzt, dass er versklavt wird. Was ist richtig?

Das kann man nicht abschließend entscheiden. Man kann den Befund, dass der Baumstumpf noch am Leben ist nur deuten, aber man sollte dann auch klar sagen, dass man sich im Bereich der Spekulation befindet. Für mich ist der kritische Punkt nicht der, dass Herr Wohlleben sagt, dieser Baum werde am Leben erhalten, sondern, dass er sagt, er wird am Leben erhalten, weil er den anderen leidtut und weil es sich um Bäume mit Gefühlen handelt. Dass die anderen Bäume den Stumpf am Leben erhalten, ist ja unstrittig, es ist aber viel wahrscheinlicher, weil biologisch erklärbar, dass sie es tun, weil sie etwas von ihm „wollen“, als weil sie ihn so besonders mögen. In der Natur passiert nichts einfach nur so zum Spaß. Es passiert, weil es einen evolutionären Vorteil bedeutet. Wenn es für die Bäume sinnvoll ist, einen Stumpf am Leben zu erhalten, zum Beispiel um sein Wurzelsystem zu nutzen, werden sie es tun.

Könnte Herr Wohlleben nicht die Avantgarde eines nicht-evolutionsbiologisch geprägten Weltbildes sein, dem gemäß viel mehr Lebewesen als bisher angenommen Empfindungen haben und daher auch mehr Rechte beanspruchen?

Wenn Herr Wohlleben eines Tages mit Ergebnissen aus wohldurchdachten und reproduzierbaren Experimenten daherkommt und diese Ergebnisse sich statistisch absichern und biologisch, beziehungsweise biochemisch, erklären lassen, werde ich der Letzte sein, der sie nicht ernsthaft diskutieren wird, denn in den Naturwissenschaften zählt nunmal das bessere Argument. Wenn man allerdings nur Behauptungen aufstellt, muss es wenigstens einen rationalen Anknüpfungspunkt geben, dass es so sein könnte. Den sehe ich aber nicht. Was die angeblichen Empfindungen und die Intelligenz von Bäumen angeht: Bäume haben keine Gehirne und auch keinen Nervenzellen, sie können daher auch nicht im herkömmlichen Sinn denken und Empfindungen haben. Natürlich können sie auf Reize reagieren, aber nicht in der Form intendierten Handelns etwa von Säugetieren. Bäume sind eben nicht wie Menschen. Das müssen sie auch gar nicht sein. Sie sind auch so großartig.

Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus

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Sämtliche Folgen unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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https://blogs.faz.net/blogseminar/die-wahrheit-ueber-den-deutschen-wald/feed/ 31
3000 Jahre erfolgreich: Politikberatung im Alten Orient https://blogs.faz.net/blogseminar/3000-jahre-erfolgreich-politikberatung-im-alten-orient/ https://blogs.faz.net/blogseminar/3000-jahre-erfolgreich-politikberatung-im-alten-orient/#comments Mon, 29 May 2017 10:26:01 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=3067 So absurd, wie lange behauptet, waren die Eingeweideprognosen im Alten Orient nicht. Der Altorientalist Stefan Maul hat Keilschrift-Protokolle analysiert und die Leberschau mit der heutigen Politikberatung verglichen. Neue Folge unserer Interview-Serie “Nerdalarm”. *** F.A.Z.: Herr Professor Maul, in welcher Kultur … Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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So absurd, wie lange behauptet, waren die Eingeweideprognosen im Alten Orient nicht. Der Altorientalist Stefan Maul hat Keilschrift-Protokolle analysiert und die Leberschau mit der heutigen Politikberatung verglichen. Neue Folge unserer Interview-Serie “Nerdalarm”.

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Die Könige Mesopotamiens waren einem göttlichen Urteil unterworfen, das die Eingeweideschau hervorbrachte: Sitzstatuette des sumerischen Fürsten Gudea (um 2100 v. Chr.)

F.A.Z.: Herr Professor Maul, in welcher Kultur verrichten die altorientalischen Leberschauer ihren Dienst?

Stefan Maul: Die altorientalische Kultur ist, so weit wir wissen, die älteste städtische Kultur der Menschheitsgeschichte. Um 3300 vor Christus waren die städtischen Gebilde so komplex geworden, dass man Verwaltungsaufgaben nicht mehr bewältigen konnte ohne ein wichtiges Hilfsmittel – die Schrift. Mithilfe der Keilschrift überschaute man die komplexen Verwaltungsvorgänge, und im Laufe der Zeit entwickelte sich die Schrift zu einem Medium, mit dem man, was ursprünglich gar nicht beabsichtigt war, auch komplexe Sachverhalte, Text im eigentlichen Sinn, notieren kann. Um 2600 vor Christus war dieser Prozess abgeschlossen, und von da an können wir sehen, dass die Eingeweideschau von den Herrschern Mesopotamiens als Hilfsmittel zur politischen Entscheidungsfindung genutzt wurde. Dies blieb über Jahrtausende so, und die Eingeweideschau überdauerte sogar die mesopotamische Hochkultur, die im 2. Jahrhundert nach Christus in der hellenistischen Welt aufging. Die Praxis der Eingeweideschau und damit den Glauben daran, aus den Innereien eines Opfertieres Einsicht in Zukünftiges gewinnen zu können, haben erst die Griechen, dann die Römer übernommen und wir können ihn sogar bis in die christliche Zeit hinein beobachten. Noch im 6. Jahrhundert nach Christus sah sich ein Papst genötigt, in einem Erlass darauf hinzuweisen, dass Priester, die weiterhin Eingeweideschauer aufsuchen, um Einblicke in die Zukunft zu bekommen, aus ihrem Amt entfernt werden sollten.

© uwebKarte Mesopotamiens aus Stefan Mauls Buch “Die Wahrsagekunst im Alten Orient”

Wie steht es mit der räumlichen Ausdehnung der Eingeweideschau – oder ist die schwer zu bestimmen, weil wir ja von schriftlichen Zeugnissen abhängig sind?

Wir können etwas darüber sagen, sobald man in Anatolien, Syrien, Palästina, Iran und sogar in Ägypten Keilschrift zu verwenden begann. Dabei sehen wir, dass nicht nur die Schrift Mesopotamiens ein Exportschlager war in diesem geographischen Raum, sondern auch mesopotamische Kulturtechniken aller Art übernommen wurden – und dazu zählt eben auch die Eingeweideschau. Aus ganz Vorderasien haben wir Nachrichten darüber, dass dieses Verfahren eine große Rolle bei der politischen Entscheidungsfindung spielte.

Eine kleine zeit-räumliche Stichprobe: Wie steht es mit einer Figur wie dem Perserkönig Xerxes, der im 5. Jahrhundert vor Christus den Griechen unterliegt? Wie wahrscheinlich ist es, dass er vor seinen Feldzügen eine Opferschau hat durchführen lassen.

Ich bin ziemlich sicher, dass er das gemacht hat, weil er in vielerlei Hinsicht der Erbe mesopotamischen, assyrisch-babylonischen Königtums ist und sich als solcher auch versteht. Aber wir sehen dies freilich noch viel genauer bei den Gegnern der Perserkönige, nämlich den Griechen. Ein Schüler von Sokrates, Xenophon, der einen Feldzug gegen die Perser als General mit anführte, hat einen Kriegsbericht geschrieben, der erhalten blieb. Daraus geht hervor, dass auch Xenophon sein Heer nicht vom Fleck bewegte, um es durch das Feindesland heimzuführen, wenn es keinen positiven Eingeweideschau-Befund gab. Selbst im vermeintlich aufgeklärten Griechenland praktizierte man die altorientalische Wahrsagekunst.

 

Video: Crashkurs “Eingeweideschau” mit Stefan Maul

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Welches Weltbild steckt hinter der Opferschau? Warum kann man einer Schafsleber aus altorientalischer Sicht eine Weisung für die Zukunft entnehmen?

Aus der Perspektive unseres Weltbildes ist die Opferschau natürlich Unfug. Heute glaubt niemand mehr daran. Doch wir können beobachten, dass das Verfahren im Alten Orient funktionierte und über Jahrtausende hinweg stabile Verhältnisse geschaffen hat. Ein Grund dafür liegt darin, dass diejenigen, die das Verfahren praktiziert und in gewisser Weise als Wissenschaft vorangetrieben haben, der festen Überzeugung waren, dass eine Beziehung zwischen einem Eingeweideschau-Befund und einem tatsächlichen outcome, einem zukünftigen Geschehen, besteht. Man war überzeugt, eine Art Naturgesetz wahrzunehmen, bei dem jedoch noch eine dritte Instanz beteiligt ist: eine sich dem Menschen offenbarende Gottheit. Der Grundgedanke, der sehr archaisch ist, ist der, dass ich meinem Gott eine Gabe bringe und an der Gabe ablesen kann, ob der Gott sie annimmt oder nicht. In der biblischen Geschichte von Kain und Abel sehen wir etwas ganz Ähnliches. Aus einem solchen Glauben heraus erwächst der Brauch, dem Gott mit der Gabe auch eine Frage zu präsentieren: Soll ich diese Frau heiraten? Soll ich als Herrscher den Angriff wagen? – Wenn der Gott mir wohlgesinnt ist, wird er die Gabe annehmen, woraus ich eine positive Antwort auf meine Frage ableiten kann. Das ist der Grundgedanke der Opferschau. Im Lauf der Jahrhunderte entstand daraus in Mesopotamien ein erstaunlich wissenschaftlich anmutendes System, in dem man Markierungen auf der Leber und anderen Organen eines Opfertiers in Analogie zum Weltgeschehen setzte.

Wie ging die Leberschau genau vonstatten? Welches war die ursprüngliche Form, wie sah die komplexeste Variante aus?

Die Anfänge können wir mangels Texten nicht beobachten. Ursprünglich handelte es sich aber wohl um eine Art Fleischbeschau, bei der man bestimmte Anomalitäten in Analogie zum Weltgeschehen stellte. Daraus entwickelte sich eine in ihrem Geist ganz nüchterne, unbestechliche Systematik, die versucht, die dahinterliegenden Gesetzmäßigkeiten zu erfassen. Man fragte sich: Welcher Teil der Leber spiegelt eigentlich welchen Teil der menschlichen Welt wider, was etwa bildet das Königtum ab? Später kam der Glaube hinzu, dass man auch am Lauf der Sterne Gesetzmäßigkeiten beobachten kann, die ihre Entsprechung haben auf der Erde und im menschlichen Sein. Das brachte die scharfsinnigen Gelehrten Mesopotamiens zu dem im Grunde naheliegenden Schluss, dass sich all dies aus ein und derselben Quelle speisen muss. Sie begannen damit, die Astrologie zu parallelisieren mit der Eingeweideschau. Und dann wird es richtig interessant: Man sah sich nach einer Weile in der Lage, die Entsprechungen astraler Zeichen auf einer Opferleber wiederzufinden und umgekehrt, und glaubte auf diese Weise astrologische Wahrsagungen mithilfe der Eingeweideschau überprüfen zu können. Die altorientalischen Gelehrten unternahmen einen “wissenschaftlichen Großversuch”, der weit über das Leben eines einzelnen Menschen hinausschaut und mehr als ein halbes Jahrtausend lang andauerte. Dabei wurde alles zusammengedacht. In den Tagebüchern der Sternkundigen finden sich neben astralen Beobachtungen zum Beispiel auch Notizen über ökonomische Entwicklungen, über Preissteigerungen, Inflationsraten, die Entwicklung von Wasserständen, klimatische Veränderungen, große historische Schübe. Die mesopotamischen Forscher glaubten, dass hinter alldem Zyklen und Gesetze zu erkennen seien. Sie waren der Überzeugung, wenn sie nur auf genügend zahlreiche Beobachtungen zurückgreifen könnten, seien sie irgendwann in der Lage, diese zu erkennen und historische und ökonomische Entwicklungen vorauszuberechnen. Das ist ein irrwitzig kühner Gedanke, den eigentlich erst wieder der Historische Materialismus, der Marxismus, aufgreift: die Überzeugung, man habe eine Gesetzmäßigkeit entdeckt, in der Ökonomie und historisches Geschick über Zyklen miteinander verbunden sind und die einen Blick in die Zukunft zulassen.

© Archiv Stefan MaulModell einer Schafsleber (altbabylonisch, ca. 17. Jahrhundert v. Chr.)

Das Ganze erinnert an die Kombinations- und Vorhersagefreude, die in heutiger Zeit Informatiker an den Tag legen, wobei diese meist einfach nur von Korrelationen ausgehen.

Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, man muss wohl zu dem Schluss kommen, dass der Mensch, egal zu welcher Zeit, nicht leben kann, ohne die Welt als komplexes System von Kausalitäten zu verstehen. Warum? Weil er nur so den Optimismus entwickeln kann, durch sein Handeln die Zukunft zu seinen Gunsten beeinflussen zu können.

Wie wird die Leberschau eingesetzt?

Man konnte mit dem Befund der Leberschau ganz unterschiedliche Dinge anstellen. Wir kennen zwei grundlegende Herangehensweisen. Die eine haben wir schon genannt: Grundlegende Fragen sowohl des einfachen Manns als auch des Königs werden an einen Opferbefund gekoppelt, in Form eines Binär-Orakels. Als Antwort kommt entweder ein “Ja” oder ein “Nein” heraus. Das andere Verfahren ist nicht an Fragen gekoppelt, es geht davon aus, dass bestimmte Segmente der Leber bestimmten Bereichen der menschlichen Gesellschaft zugeordnet sind. Es ist ein Verfahren, das unerbetene Zeichen bemüht. Man kann es auch als ein politisch-ökonomisch-soziales Frühwarnsystem bezeichnen. Ein Opferschauer sieht zum Beispiel einen negativen Befund in einem Bereich der Leber, der “Königtum” symbolisiert. Er muss davon ausgehen: da bahnt sich etwas an. Er wird sofort Maßnahmen in die Wege leiten. An einem altorientalischen Königshof würde umgehend der Kronrat zusammentreten, der etwa den Polizeichef befragt, ob er in allen Bereichen Sicherheit garantieren kann, vielleicht würde man den Zustand der Armee überprüfen – ist sie gut genug ausgerüstet? Ist einer der Generäle oder ein Minister eventuell sogar ein Spion? Wir können das in den Keilschriftdokumenten sehr gut nachvollziehen. Aus heutiger Sicht mag man dies für idiotisch oder naiv halten, sicher aber ist, dass ein solches Vorgehen manche Mängel und Fehler rechtzeitig offengelegt haben dürfte, noch bevor größerer Schaden entstand.

Wie lange dauerte die Ausbildung zum Opferschauer?

Diejenigen, die uns die Schriftquellen hinterlassen haben, haben viele Jahre studiert, unter acht kamen sie nicht weg.

Wie viele Tiere wurden im Monat an einem Königshof geopfert?

Einer Quelle aus dem 19. Jahrhundert vor Christus zufolge waren es – an einem vergleichsweise kleinen Königshof – im Schnitt zwischen 500 und 700 Tiere, was zeigt, wie groß der Bedarf an entsprechenden Anfragen in einem Regierungszentrum war. Es zeigt auch, wie ernst man das Ganze nahm. Übrigens ging das Fleisch, das anfiel, wahrscheinlich in den Markt.

Was waren die Vorteile dieses Verfahrens, das Frühwarnsystem und die zahlreichen kommunikativen Akte, die es auslöste, haben wir schon genannt?

Der vielleicht größte: Selbst ein König musste damit rechnen, dass seine Pläne als unsachgemäß abgelehnt werden. Im Endeffekt sind solche Verfahren der Entscheidungsfindung Instrumente, die dafür sorgen, dass irdische Macht und königliche Autorität nicht ins Unendliche reichen. Sie etablieren nämlich eine Autorität, die über der des Herrschers steht. Das ist höchst bemerkenswert.

Konnte man nicht auch Entscheidungen herbeitricksen? In Ihrem Buch werden verschiedene Einfallstore der Vernunft in dieses eigentlich irrationale Verfahren angesprochen: kluge Fragetechniken zum Beispiel oder kurze Verfallszeiten von Weisungen.

Ein simples Beispiel: Nehmen wir an, ich bin über beide Ohren verliebt und möchte eine bestimmte Frau unbedingt heiraten. Wenn ich nun ein Verfahren herbeiführe, das auf die Beantwortung der Frage hinausläuft “Soll ich sie heiraten oder nicht?”, dann gehe ich die Gefahr ein, dass ich als Antwort ein “Nein” erhalte. Das wäre ziemlich dumm von mir. Stattdessen könnte ich fragen: Soll ich diese bestimmte Person schon im Januar heiraten? Dies zeigt: Die Kunst des Fragens ist ungeheuer wichtig. Das altorientalische Verfahren unterscheidet sich in dieser Hinsicht aber nicht grundsätzlich von der Art und Weise, wie man heute politische Dinge durchzusetzen versucht. Auch heute muss man die richtige Diskussion zur rechten Zeit auf den Weg bringen und mit klug ausgewählten Alternativen verbinden.

Was die unerfragten Befunde angeht: Dabei kam es besonders stark darauf an, was man aus ihnen in einer Diskussion mit den politisch Verantwortlichen machte, welche klugen Folgerungen man aus ihnen zog. Die Prognosen müssen mit der bestehenden Lebenswelt verknüpft und dazu genutzt werden können, bestimmte Entwicklungen zu verhindern oder zu befördern. Auch das kennen wir aus der Gegenwart. Ich habe mir einmal Zukunftsprognosen angeschaut, die in den sechziger Jahren aufgestellt wurden. Da heißt es: Alle Menschen werden nur noch Wegwerfkleider tragen, wir haben Weizenfelder auf dem Mars, und unter Umständen kann man sogar kabellos telefonieren. Manche dieser Prognosen wirken im Rückblick vollkommen abstrus, andere werden von der Wirklichkeit weit übertroffen, dritte bei weitem nicht erreicht. Die Treffsicherheit der Prognosen ist aber nicht so wichtig, wichtig ist, dass man in den sechziger Jahren das Gefühl hatte, mit diesen Visionen tatsächlich in die Zukunft gehen zu können. Sie waren ein roter Faden für anstehende Planungen – und doch ist man zum Schluss an einem ganz anderen Ende herausgekommen. Der Unterschied zu Mesopotamien ist in dieser Hinsicht gleich null.

© picture-allianceKönig Hammurapi von Babylon steht vor dem thronenden Sonnengott Schamasch – Detail einer 2,5 Meter hohen Dioritstele, auf der die berühmte “Kodex Hammurapi” genannte Sammlung von Rechstssprüchen eingemeißelt wurde (18. Jh. v. Chr.)

Das ist Ihr Hauptargument: Lasst uns die altorientalische Wahrsagekunst ernst nehmen, denn sie hat über Jahrtausende hinweg für stabile Verhältnisse gesorgt.

Ich bin vorsichtig und sage: Sie hat stabile Verhältnisse nicht verhindert, und vermutlich hat sie sie befördert. Man möchte annehmen, wenn ein Politiker meint, wirklich nur in eine Leber gucken zu müssen, um seine Entscheidungen zu treffen, würde es keine drei Jahre dauern und man hätte das Gemeinwesen gegen die Wand gefahren. Das passierte aber nicht – und das ist das eigentlich Aufregende. Im Umfeld mesopotamischer Gelehrtenkultur hat die Leberschau funktioniert – nur wohl nicht aus den Gründen, die man damals für maßgeblich hielt.

Kann man nicht auch einfach sagen: Der sogenannte fruchtbare Halbmond hat im Altertum derart überlegene Lebensvoraussetzungen ermöglicht, dass Stabilität sehr leicht herbeizuführen war?

Ohne Zweifel, das Zweistromland ist ungeheuer fruchtbar. Sie müssen sich aber Folgendes vor Augen führen: das ist ein Land, das über kein Metall verfügt, es gibt kein Holz, keine Chemikalien, keinen Stein. Ohne diese Rohstoffe kann keine Hochkultur existieren. Man muss sie von außen holen. Da gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder das gelingt oder man fällt zurück in die Bedeutungslosigkeit. Wir haben es jedoch mit einem Gemeinwesen zu tun, das unglaublich gut organisiert ist. Die mesopotamische Gesellschaft hat sich immer den Herausforderungen unterschiedlichster Art gestellt. Das ist sicherlich nicht dem Verfahren der Eingeweideschau geschuldet. Doch das Opferschauorakel ist klug in die Gesellschaft eingebaut: Mit ihm gelingt es, überbordende Macht zu kontrollieren, eine Autorität über die der Machthaber zu stellen, es bremst unbedachte Pläne aus. Denn die Zurückweisung eines Plans macht neue Diskussionen nötig, und die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die vorher mundtot gemacht wurden, zu Wort kommen, steigt. In diesem Sinne ist die Institution “Eingeweideschau”, die man für sich genommen erst einmal für obsolet, für dumm halten mag, effektiv und befördert in hohem Maß vernünftige Entscheidungen.

Assyrische Eingeweideschauer bei der Arbeit (Darstellung aus einem neuassyrischen Relief, ca. 860 v. Chr.)

Was kann die Gegenwart vom Alten Orient lernen?

Sie könnte zum Beispiel lernen, dass diese alte Kultur den Begriff “Fortschritt” nicht kennt, aber sehr wohl zu den Kulturen zählt, die – menschheitsgeschichtlich betrachtet – die größten Fortschritte überhaupt erzielt haben, man denke nur an das Entstehen der ersten Städte, an die Erfindung der Schrift, an die Anfänge der Wissenschaften oder an die frühen effektiven Verwaltungsstrukturen. Der Alten Orient war bestimmt von der Vorstellung, dass jede Zeit, jede Epoche, jeder Herrscher investieren muss, um das Erreichte zu erhalten. Wenn man das nicht tut, trägt man – dafür gab es sehr schöne Bilder – zu einem Altern, einem Baufälligwerden, einer Zeitermüdung bei. Man musste investieren, um eben dies zu verhindern. Wenn man heute zu solchen Vorstellungen zurückgelangte, wäre das für die Nachhaltigkeit von Ressourcen und die Entwicklung von Gesellschaft sicher ausgesprochen wohltuend.

Von dem, was Sie über die altorientalische Prognostik herausgefunden haben, kann man zahlreiche Parallelen ziehen zur Gegenwart – zur universitären Evaluation etwa oder den Algorithmen von Google. Fehlt diesen neuen Verfahren strukturell etwas im Vergleich zur Opferschau?

Ein prognostisches Verfahren, welcher Hilfsmittel es sich auch immer bedient – sei es die zeitgenössische Wissenschaft oder die Leber eines Opfertiers -, muss zwei Bedingungen erfüllen: Erstens dürfen seine Ratschläge gesellschaftliche Entwicklungen nicht elementar behindern, zweitens muss ein mehrheitlicher Anteil der gesellschaftlichen Kräfte der Überzeugung sein, dass Stabilität, Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung auf das jeweilige prognostische Verfahren zurückzuführen sind. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, ist ein prognostisches Verfahren erfolgreich, und man wird sich seiner mit Gewinn bedienen.

Video: Stefan Maul erklärt die Grundzüge der Keilschrift an einem Tonmodell.

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Warum musste die Prognostik im Alten Orient so aufwendig sein?

Selbstverständlich gab es auch im Alten Orient die Überzeugung, dass ein Erkenntnisinstrument, das tragfähig ist, verfeinert und ausgebaut werden muss, um noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Im Alten Orient entstanden so Parameter, die hin zur modernen Wissenschaft führen. Außerdem bestand – so wie heute – auch im alten Zweistromland eine Korrelation zwischen Aufwand und Wertschätzung. Schauen wir auf die Exzellenz-Cluster an unseren Universitäten, die enorm viel Geld kosten. Dieses Geld fließt an Universitäten, die allein dadurch einen großen Reputationsgewinn verzeichnen, der mit der Forschung, die dort geleistet wird, zunächst nicht viel zu tun hat. Investition und Wertschätzung stehen miteinander in Verbindung, selbst wenn objektiv gesehen der entstehende Mehrwert gar nicht so groß sein mag. Das sind Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Seins, die sich über die Jahrtausende hinweg nicht verändert haben. Etwas, in das man mächtig investiert hat, möchte man ungern als gescheitert betrachtet sehen.

Was wäre das moderne Äquivalent zur altorientalischen Wahrsagekunst?

Es ist völlig klar, dass Mittel, die in der alten mesopotamischen Kultur funktioniert haben, in ein gegenwärtiges Weltbild nicht passen und daher auch nicht plausibel sind. Ich habe in meinem Buch versucht zu zeigen, dass eine Gesellschaft ohne prognostische Verfahren kaum in der Lage ist, halbwegs vernunftgeleitet in die Zukunft zu gehen. Das gilt für die Gegenwart genau so wie für die Vergangenheit. Prognosen in unseren heutigen Gesellschaften beziehen ihre Plausibilität aus anderen Kontexten. Das wissenschaftliche System spielt heute eine große Rolle. Es hat Plausibilität, weil es in den Gesellschaften Vertrauen in Wissenschaft als ein objektives Medium gibt, das vernunftgeleitet einen Standpunkt generieren kann. Wenn das grundsätzlich in Frage gestellt wird, und wir wollen jetzt nicht über alternative facts sprechen, dann könnte diese Plausibilität obsolet werden.

Sie haben auch das Gilgamesch-Epos übersetzt, eine der ältesten schriftlich fixierten Erzählungen. Sie ist noch immer unvollständig – gibt es neue Funde zu verzeichnen?

Ich leite ein großes Forschungsprojekt, in dessen Rahmen die schriftlichen Hinterlassenschaften Assurs, eine der altorientalischen Metropolen, katalogisiert und klassifiziert werden. Dort wurden alleine 12.000 Tontafeln gefunden. Darunter haben wir erstaunlich viel neues Material zum Gilgamesch-Epos entdeckt, in den letzten Jahren weit über zehn Tafelbruchstücke, teilweise mit substanziellen, noch unbekannten Passagen. Die nächste „Gilgamesch“-Edition wird wohl erheblich erweitert werden müssen. Eine große Schwierigkeit unserer Arbeit liegt nicht zuletzt darin, einen Text rekonstruieren zu müssen, der sogar uns unbekannt ist.

Video: Stefan Maul liest den Beginn des Gilgamesch-Epos in deutscher und babylonischer Sprache.

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Wer hat die Erfolgsgeschichte der mesopotamischen Kultur beendet?

Wenn Sie einen Althistoriker fragen, sagt der vielleicht: der griechische Geist. Aber das ist mir zu einfach. Die hellenistische Kultur ist ja ganz wesentlich getragen von den Erkenntnissen, die über Jahrtausende in den altorientalischen Kulturen akkumuliert wurden. Vielleicht war die Kultur des Alten Orients um die Zeitenwende so alt und unflexibel geworden, dass sie weniger gut als andere auf veränderte ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen reagieren konnte?

Warum soll man heute Altorientalistik studieren?

Jede Universität, die sich wie die meine als Volluniversität versteht, sollte wissen, dass die erste Hälfte städtischer Kultur nur von diesem Fach beobachtet werden kann und dass in dieser ersten Hälfte städtischer Zivilisation die Weichen gestellt wurden für alle folgenden Ausprägungen von Religion, von Herrschaftsformen, von Administration, von forschendem Denken. Die Schrift kommt von dort, und die Anfänge der Wissenschaften, seien es die Mathematik, die Astronomie oder die Philologien sind dort zu beobachten. Seriöses Reflektieren über die Geschichte menschlichen Denkens und Handelns wird auf die Altorientalistik nicht verzichten können, auch nicht, wenn es darum geht, Lösungsstrategien für komplexe Probleme zu finden. Denn anhand der schriftlichen Hinterlassenschaften des Alten Orients können wir wie in einem Großversuch über Jahrtausende hinweg Gelingen und Scheitern von Denkmodellen, Strategien und Problemlösungen beobachten, um Lehren daraus zu ziehen.

Das klingt so, als bräuchten wir mehr Altorientalisten.

Schaden würde es gewiss nicht.

Wie blicken Sie auf die Entwicklung des “neuen Orients”? Politikberatung scheint dort heute notwendiger als irgendwo sonst.

Der Vordere Orient wird erst dann zu Stabilität und Ruhe finden, wenn es gelingt, gewachsene Traditionen mit den Anforderungen der Moderne in überzeugender Weise zu verbinden. Bei diesem Prozess, der leider noch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird, sind nicht allein die fundamentalistischen Bewegungen des Islam ein großes Hindernis, sondern auch die seit Generationen anhaltenden rücksichtslosen Versuche des Westens, zu eigenen Gunsten Einfluss zu nehmen.

 

Das Gespräch führte Uwe Ebbinghaus

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Stefan Maul studierte Assyriologie, Vorderasiatische Archäologie und Ägyptologie an der Universität Göttingen, wo er 1987 bei Rykle Borger promoviert wurde. Von 1987 bis 1992 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und bis 1995 als Assistent an der FU Berlin, wo er sich 1993 habilitierte. Seit 1995 ist er Ordinarius für Assyriologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seit 2004 leitet Maul die Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften “Edition literarischer Keilschrifttexte aus Assur”. 1997 wurde er mit dem Leibnizpreis für seine Forschungstätigkeit ausgezeichnet. Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien.

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Maya-Untergang: Es war nicht das Klima, es war die Politik https://blogs.faz.net/blogseminar/es-war-nicht-das-klima-es-war-die-politik/ https://blogs.faz.net/blogseminar/es-war-nicht-das-klima-es-war-die-politik/#comments Sat, 14 Jan 2017 10:10:17 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=1936 Dass die Hochkultur der Maya wegen einer Dürre kollabierte, ist eine verbreitete Ansicht. Doch eine Ausstellung in Speyer widerspricht dem. Ein Gespräch mit dem Maya-Forscher Nikolai Grube über die Rätsel der “Mais-Menschen”. Vierter Teil unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”. *** Video: Prof. … Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Dass die Hochkultur der Maya wegen einer Dürre kollabierte, ist eine verbreitete Ansicht. Doch eine Ausstellung in Speyer widerspricht dem. Ein Gespräch mit dem Maya-Forscher Nikolai Grube über die Rätsel der “Mais-Menschen”. Vierter Teil unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.

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Video: Prof. Nikolai Grube von der Universität Bonn führt durch die von ihm wissenschaftlich beratene Maya-Ausstellung in Speyer.

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F.A.Z.: Herr Professor Grube, warum ist die Hochkultur der Maya in Mittelamerika denn nun zwischen 700 und 950 nach Christus kollabiert? Welche neuen Erkenntnisse haben Sie in den letzten Jahren gewonnen?

Nikolai Grube: Gut, dass sie den Zeitrahmen so weit abstecken. Das ist wichtig, weil das eben kein Kollaps von heute auf morgen war. Es war ein Prozess, der sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte erstreckt hat. In der Ausstellung sprechen wir verschiedene Thesen an. Die meisten lassen sich relativ schnell widerlegen, darunter auch die Dürre-Hypothese, die im Moment unter vielen Kollegen Anhänger hat, wohl weil das Thema “Klimawandel” im politischen Diskurs derzeit so gut etabliert ist. Es ist auch unbestreitbar, dass es in dem betreffenden Zeitraum eine Klimaveränderung gegeben hat, es hat Trockenperioden gegeben, Dürreperioden. Sie können aber nicht erklären, warum die ersten Städte, die verlassen worden sind, ausgerechnet jene waren, die an den Ufern von Seen und Flüssen lagen. Und die Städte, die am weitesten von der Ressource Wasser entfernt waren, waren diejenigen, die am längsten ausgehalten haben. Ein weiteres Argument ist, dass wir in allen Gesellschaften der Welt nach großen Katastrophen feststellen, dass sie sich bald danach wieder erholen oder zumindest ein Teil der jeweiligen Gesellschaft, die Reichen, die Etablierten, der Adel. Bei den Maya ist das aber eben nicht passiert – was mich und eine Gruppe von Kollegen darüber nachdenken lässt, welche anderen Gründe es gegeben haben könnte. Auffällig ist, dass die ersten Bereiche, die verlassen wurden, die Königspaläste waren. Als erstes brach die höfische Kultur zusammen, das politische Zentrum der Maya. Das ging teilweise so schnell, dass die Handwerker ihre Artefakte, ihre Skulpturen nicht mehr fertigstellen konnten, der Adel ließ Trinkgefäße und andere Gebrauchsgegenstände in den Palästen zurück. Das alles spricht dafür, dass es interne, politische Gründe für den Untergang der Maya-Kultur gegeben hat.

karte© Peter Palm (auf Grundlage einer Zeichnung von Nikolai Grube)Karte des Maya-Tieflands mit den wichtigsten Städten und den Daten ihres Zusammenbruchs

In der Ausstellung in Speyer machen Sie sich für die Theorie einer Städterivalität stark.

Ja, ich sehe den entscheidenden Faktor im Auseinanderbrechen der beiden großen Machtzentren: Tikal und Calakmul. Das waren die beiden Städte, die in der klassischen Maya-Zeit das Tiefland dominiert und mit einem Netzwerk von Vasallen-Staaten dafür gesorgt haben, dass eine Art von politischem Gleichgewicht zwischen diesen beiden Supermächten, diesen Hegemonialgruppen entstand und  beibehalten wurde. Als Tikal aber mächtiger wurde und als es der Stadt gelang, den König von Calakmul gefangen zu nehmen, wurde dieses Gleichgewicht aus dem Lot gebracht. Calakmul verlor derart dramatisch an Macht, dass viele der Vasallenstaaten sich lösen konnten und ein Prozess in Gang kam, den wir in der politischen Anthropologie “Balkanisierung” nennen: das Zerbrechen von Infrastruktur, das Aufbrechen von lokalen Konflikten. Denn das siegreiche Tikal verfügte allein nicht über ausreichend Infrastruktur, um die hinzugewonnenen Gebiete zu sichern. Das wiederum ließ dort die Idee aufkommen: Wir könnten uns auch lösen und unseren Vasallenstatus, der immer auch mit Tribut verbunden war, ablegen. Sodass tatsächlich im achten Jahrhundert eine Gründung von vielen kleinen Staaten zu beobachten ist. Wie Pilze sprießen kleine politischen Einheiten aus dem Boden, gleichzeitig bekämpft man sich gegenseitig, es gibt eine Eskalation von Gewalt und Kriegen – eine ähnliche Entwicklung wie nach dem Zusammenbrechen des früheren Jugoslawien oder der Sowjetunion.

doppelseiter_tikal_staedte© Ricky López BruniLuftaufnahme von Tikal, Guatemala

Wie genau erklären Sie sich die Fluchtartigkeit des Verlassens? Lag dem eine Vertreibung zugrunde?

Ja, die Herrscher wurden wohl vertrieben und mussten ihre Haut retten. Man muss sich das so vorstellen, dass es bei den Maya viele Adelsfamilien gab, die miteinander konkurrierten. Aber eine hatte die wahre Macht. In dem Moment, in dem es die Möglichkeit gab, den Gottkönig zu stürzen, weil sein Machtverlust durch zusammenbrechende Handelsnetze und ähnliches offensichtlich wurde, wurden er und sein Hof wahrscheinlich in internen Aufständen und Konflikten vertrieben. Was nach dem Zeitpunkt des Verlassens geschah, wohin die Vertriebenen gingen, wissen wir noch nicht.

Ist diese Fluchtartigkeit auch im Vergleich zu anderen alten Kulturen ungewöhnlich?

Diese Form von Untergang und fluchtartigem Verlassen ist sehr ungewöhnlich.  Auch, wenn ich an das Buch von Jared Diamond denke, „Kollaps“, fällt mir kein weiteres Beispiel ein.

In Ihrer Ausstellung spielt das Konzept des göttlichen Königs eine große Rolle. Vieles lief auf diese eine charismatische Figur zu. War es deswegen von so großer Tragweite, dass dieses Konzept zerbrach?

Ja, da ist zum ersten Mal die Fassade abgebröckelt.

11_koenig© Museo Nacional de Arqueología y Etnología, Guatemala Foto: Historisches Museum der Pfalz/Ricky López BruniFigurine des Königs mit herrschaftlicher Pose aus dem Grabfund „Königlicher Hofstaat“ von El Peru (7. Jh. n. Chr.).

In der Ausstellung erwähnt wird auch das Konzept des Sternenkrieges: Wenn die Sterne in einer bestimmten Konstellation stehen, ist aus Sicht der Maya die Zeit für einen Krieg gekommen oder günstig. Schließen sich diese beiden Konzepte nicht gegenseitig aus?

Ich bin skeptisch, ob es den Sternenkrieg nach diesem engen Verständnis gegeben hat – obwohl die Hieroglyphe für „Krieg“ aus einem Stern besteht. Letzteres war wohl der Grund dafür, dass eine der großen frühen Maya-Forscherinnen, Linda Schele, von „star wars“ gesprochen hat. Die Durchsetzung von Machtinteressen hat aber wohl eine größere Rolle gespielt als die Sterne. Man kann im Maya-Tiefland Kriege eigentlich auch nicht nach den Sternen planen. Dafür spielt die Witterung eine zu große Rolle, und wenn wir uns anschauen, wann Kriege wirklich stattgefunden haben, fallen sie alle in die Trockenzeit, in Neumondperioden, in denen es schön dunkel war. Was noch wichtig zum Thema “Krieg” ist: Es ging bei den Maya nie um Zerstörung und Auslöschung des Feindes, sondern im Vordergrund stand, den Angegriffenen zu einem Vasallen zu machen und sich letztlich seiner Arbeitskraft zu bedienen.

In einer ARD-Dokumentation, an der sie beteiligt waren, wurde der Untergang der Maya auf eine machtbesessene Königin zurückgeführt. In der Ausstellung scheint sie keine große Rolle mehr zu spielen.

Wir konnten in der Ausstellung leider nicht alle Aspekte darstellen. Von den 200 Königen, die wir kennen, waren nur acht Frauen. Die mächtigste Königin, von der wir wissen, ist “Sechs Himmel”, das war so eine Art Margaret Thatcher, sehr machtbewusst, sie hat ihren Raum überaus entschieden definiert.

In der Dokumentation war ihre Rolle stark dramatisiert. Ist das nicht ein grundsätzliches Problem für die Maya-Forschung, dass es für durchhaltbare Geschichts-Dramaturgien eigentlich noch zu früh ist?

2_jademaske© Fundación La Ruta Maya, Guatemala Foto: Historisches Museum der Pfalz/Ricky López BruniKleine Jademaske, die vielleicht als Verzierung einer Gürtelschnalle verwendet wurde (250–800 n. Chr.).

Es ist schon ein Problem, aber ein Problem, das es auch in der Ägyptologie oder in anderen Altertumswissenschaften in ihrer Frühzeit gab. Wir schöpfen mit unseren Bildern und Metaphern noch aus der Frühzeit der Ägyptologie. Die vielen Neuentdeckungen in der Forschung sind eigentlich gar nicht in unser populäres Verständnis von Ägypten eingeflossen. Und in der Maya-Forschung stehen wir gerade da, wo die Ägyptologie vor hundert Jahren war. Naja, ein bisschen weiter sind wir schon, aber wir sind eine sehr junge Wissenschaft. Natürlich ist es immer gefährlich, mit starken Bildern zu arbeiten, auf der anderen Seite: Was sollen wir denn sonst machen?

Jede neue Entdeckung kann eine Anpassung des Systems notwendig machen?

Ja genau (lacht). Das macht unsere Wissenschaft aus und das macht sie auch so spannend. Als ich angefangen habe, mich für Archäologie zu interessieren, noch als Kind, war ich ganz breit angelegt. Ich bin in Köln groß geworden, da war natürlich römische Archäologie angesagt, die Ausgrabungen in der Kölner Altstadt fand ich ungeheuer spannend. Mir wurde aber auch bald klar: Das ist halt noch eine römische Villa mit noch einem Mosaik darin, aber eigentlich kennt man das schon.

Wie sind Sie zu den Maya gekommen?

Auf die Maya bin ich zum ersten Mal aus Zufall gestoßen, durch das Lesen von Cerams “Götter, Gräber und Gelehrte”. Damals war ich elf Jahre alt. Das letzte Kapitel heißt “Das Buch der Treppen”, dort gab es vier oder fünf Seiten über die Maya. Vor allem aber stand dort, dass ihre Schrift noch nicht entziffert ist. Das hat in mir eine Flamme ausgelöst: Das will ich machen. Ich hatte schon damals Spaß daran, schwierige lateinische Texte zu entziffern, auf Vasen und ähnlichem. Und was die Maya angeht: Noch in den siebziger Jahren gab es kaum Erkenntnisse. Die Forschungsergebnisse des Russen Knorosow waren noch nicht bis in den Westen durchgedrungen. Ich habe dann mit einem kleinen Zeichenkatalog begonnen und schon in der Schulzeit bestimmte Muster erkennen können. Ich bin in Kontakt getreten mit einem Professor aus Tübingen, der mich zu sich eingeladen und mir Bücher gegeben hat. Das war für mich eine tolle Anerkennung. Ich habe dann auch meinen amerikanischen Kollegen geschrieben und angefangen, erste Publikationen zu machen. So bin ich dann in die Maya-Forschung hineingerutscht.

24_panelcancuen© Fundación La Ruta Maya, Guatemala Foto: Historisches Museum der Pfalz/Ricky López BruniWandtafel 1 aus Cancuen (799 n. Chr.) – weitere Informationen gibt es in dem Eingangsvideo zum Interview.

Das klingt so ähnlich wie die Laufbahn von David Stuart, der ja schon als Teenager eine wichtige Figur in der Maya-Forschung war.

Ja, wir kamen sehr früh zusammen. In den achtziger Jahren waren wir mit Linda Schele eine Gruppe von Leuten, die sich in den Zeiten vor Email und Fax regelmäßig Briefe geschrieben hat über unsere Entzifferungen. In dieser Zeit haben wir im Grunde das ganze Syllabal entziffert.

Gibt es denn heute noch neue Textträger zu entdecken?

Auf jeden Fall. Das Kerngebiet in Südmexiko und Guatemala würde ich auf die Größe von Nordrhein-Westfalen und Hessen schätzen. Da mag es noch Dutzende versunkene Städte im dichten Urwald geben. Hier haben vor mehr als tausend Jahren Millionen Menschen gelebt. Die Städte waren nicht dicht besiedelt, das waren eher Gartenstädte, das sieht man auch gut in der Ausstellung, aber auf dem Land war die Bevölkerungsdichte sehr hoch, höher als irgendwo in Europa zu dieser Zeit.

Digitale Rekonstruktion einer Maya-Siedlung (Ausschnitt) © Historisches Museum der Pfalz/ Rekonstruktion: Fritz Göran Vöpel

***

Wie ist die Universität Bonn, an der Sie unterrichten, zu Ausgrabungen in der vor Jahren wiedergefundenen Maya-Stadt Uxul gekommen?

Ich hatte mir immer gewünscht, in dieser Region zu graben. Mein Kollege Iván Sprajc aus Slowenien, mit dem ich seit langem in engem Kontakt stehe, hat Uxul auf einer Expedition nach mehreren Wochen des Durchkämmens  gefunden. Er kletterte auf die dortige Pyramide und rief mich an.

Anschließend ist wahrscheinlich die Finanzierung entscheidend.

Ja, die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Vorhaben über sieben Jahre hinweg unterstützt und diese Forschung, die auch in die Speyerer Ausstellung eingeflossen ist, möglich gemacht.

Wie viele Stelen haben Sie in Ihrer Karriere gefunden oder vor Ort ausgelesen?

In Uxul gibt es 22 Stelen. Wie viele es insgesamt waren, kann ich nicht sagen. Mich interessieren alle Stelen, ich habe auch alle gelesen.

stele89© Rautenstrauch-Joest-Museum, Kulturen der Welt, KölnStele Nummer 89 aus Calakmul zeigt den König Yukno’m Took’ Kawiil in vollem Ornat

Wie viele sind bisher entdeckt worden?

Schriftträger insgesamt gibt es 12.000, Stelen und Keramik. Aber die Zahl wächst wirklich wöchentlich.

Gibt es immer noch neue Zeichen zu entdecken?

Ja, das kommt immer wieder vor. Leider wissen wir immer noch nicht, wie viele Schriftzeichen es wirklich gibt, im Moment stehen wir bei etwa 800. Aber wir haben bei der Arbeit an unserem in den nächsten Jahren an der Universität Bonn entstehenden “Wörterbuch des Klassischen Maya” gerade herausgefunden, dass die Zeichenkataloge, die bereits existieren, im Grunde falsch aufgebaut sind, weil sie von einer falschen Vorstellung von Maya-Schriftzeichen ausgehen. Maya-Schriftzeichen sind komplexer als vielfach angenommen. Aus diesem Grund wird die Zeichenzahl in unserem Katalog reduziert sein.

Die Entschlüsselung der Maya-Schrift ist ja ein ungemein spannendes Stück Forschungsgeschichte, sehr gut dargestellt in der Dokumentation „Der Maya-Code“, in der Sie auch eine Rolle spielen. Es dauerte lange, bis man entdeckte, dass die Maya-Schrift sowohl aus Logogrammen als auch aus Silbenzeichen besteht und dass die gleiche Silbe durch ganz verschiedene Zeichen dargestellt werden kann. Was sind die Gründe für die jeweilige Zeichenverwendung? Sind sie ästhetischer Natur?

Ja, es ging bei den Maya darum, schön zu schreiben und mit möglichst viel Aufwand, genau das Gegenteil eigentlich von dem, was wir heute unter Schrift verstehen. Es hat in den größtenteils nicht erhaltenen oder verbrannten Büchern wohl auch eine Schnellschrift gegeben, dafür gibt es auf den Keramiken Hinweise. Da sie aber nicht überliefert ist, kennen wir sie nicht. Wir kennen nur die großen, offiziellen Verlautbarungen.

Auf der anderen Seite muss das faszinierend sein: Sie finden im Urwald eine neue Stadt und können sich die Geschichte derselben aufgrund von Stelen, die dort herumstehen, weitgehend erschließen.

Ja, das ist faszinierend. Wir wissen sofort, wie die Stadt heißt, welche Könige dort gelebt haben, wir wissen über die Daten Bescheid.

Wandtafel von 1,70 Metern Höhe mit der Darstellung einer Königin namens Ix Ook Ahiin (“Frau Krokodil-Fuß”, 650–750 n. Chr.), Material: Kalkstein© Collection Paul and Dora Janssen-Arts, The Arts & Heritage Agency of the Flemish Community and Museum aan de Stroom, Antwerpen (Belgien) / Foto: Hugo MaertensWandtafel von 1,70 Metern Höhe mit der Darstellung einer Königin namens Ix Ook Ahiin (“Frau Krokodil-Fuß”, 650–750 n. Chr.), Material: Kalkstein

Was sagt die Schrift noch über die Kultur der Maya aus?

Ich glaube, aus ihr spricht ein tiefer Respekt vor der Bildlichkeit, vor der Welt, die in Bildern enthalten ist. Für die Maya waren Bilder nicht nur Bilder, sondern das Abbild war der Gegenstand; man hatte einen Teil der Seele des Gegenstandes. Indem ich eine Schrift verwende, die sehr ikonisch ist, in der es auch sehr viele Kopfvarianten gibt, von Tieren, von Göttern, holt man diese Lebensenergie in die Schrift hinein. Die Maya-Schrift ist eine belebte Schrift gewesen, eine wirklich heilige Schrift. In den Texten waren die Götter und die Könige, um die es ging, enthalten, mit allem Respekt, mit allem Pomp.

Und zugleich durften sich die Schreiber und Steinmetze offenbar eine große Freiheit in der Ausgestaltung nehmen.

Ja, weil sie so hoch angesehen waren und eigene künstlerische Überzeugungen vertraten.

Wie viele Logogramme gibt es unter den 800 Zeichen, wie viele Silbenzeichen?

Ich würde schätzen, 250 Silbenzeichen und der Rest Logogramme.

Was war das letzte neue Zeichen, das Sie eingearbeitet haben?

Ein Zeichen für Opfertod, das zeigt einen Kopf, der in der Mitte gespalten ist, davor eine Obsidian-Klinge.

Das Maya-Lexikon, das gerade an Ihrem Lehrstuhl entsteht, wird das umfangreichste seiner Art sein?

Es wird nicht nur ein Lexikon der Schrift, sondern auch eines der Sprache sein. Wir wollen zeigen: Die Maya-Schrift gibt Sprache wieder, so ähnlich wie Ägyptisch oder Hethitisch. Wir erstellen ein sprachbasiertes Lexikon mit Vorkommensnachweis, es basiert auf dem Gesamtvorkommen sämtlicher Inschriften. Man wird das Lexikon frei im Internet aufrufen und eine Suche anfragen können wie: Ich möchte alle Inschriften haben, in denen das Wort “Haus” vorkommt, in einer bestimmten Konstellation. Um das beantworten zu können, müssen wir vorher aber noch viele Schritte gehen. So sind immer noch nicht alle Zeichen entziffert. Was machen wir mit denen, die noch nicht verstanden sind? Auch die müssen irgendwie erschlossen werden in einem Lexikon wie dem unseren und das geht nur, indem wir neue Konventionen erfinden. Außerdem wollen wir wissen: In welchem Zeithorizont kommt ein bestimmtes Zeichen vor? Wann tauchen positionelle Verben zum ersten Mal in der Maya-Schrift auf? Wie hat sich die Grammatik entwickelt? All das können wir auf dem amerikanischen Kontinent nur in der Maya-Sprache nachvollziehen. Daraus wiederum können spannende Kulturvergleiche entstehen, Vergleiche mit Sprachen der alten Welt.

visual-library-vi© Entwurf C. Prager / Zeichnung N. GrubeDie geplante Inschriftendatenbank mit Zeichnung, Textanalyse und Übersetzung von Stele 1 aus Uxul

Welche Rätsel der Maya-Kultur sind noch ungelöst, was wird die Forschung der kommenden Jahre beschäftigen?

Eine ganz simple Frage: Wie haben die Menschen auf dem Land gelebt, weit weg von den Städten? Hat es Grenzen gegeben? Wusste die Landbevölkerung genau: Ich gehöre zu diesem oder jenem Staat? Wie konnten sie Finsternisse voraussagen? Woher kommt der 260-zählige Ritualkalender? Warum hat es in der Präklassik, 300/400 vor Christus riesige Städte gegeben, aber keine Könige, keine Gräber? Warum setzt die Gründung der Königsdynastien erst um das Jahr 150 ein? Wie sahen die Beziehungen der Maya zu der Metropole Teotihuacán in der Nähe des heutigen Mexico City aus? Das letzte aktuelle Paradigma, das sich gerade verändert, ist, dass die Maya in Teotihuacán durchaus präsent waren. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass die Stadt das Maya-Gebiet beeinflusst hat. Jetzt sehen wir: Es hat ein Stadtviertel gegeben in Teotihuacán, wo Maya gelebt haben, die Hauswände sind mit Maya-Schrift bemalt, und unter den neuen Ausgrabungen meines Kollegen Sergio Chávez befinden sich 50 Schneckentrompeten mit Maya-Motiven. Das ist sensationell. Ich habe gerade Bilder bekommen und schreibe an einem Artikel darüber. Das wirft ein ganz neues Bild auf die Maya-Beziehungen.

Wie reagieren die Nachfahren der Maya, deren Zahl auf 8 Millionen geschätzt wird, auf die Rekonstruktion ihrer Geschichte, die ihnen ja von den spanischen Eroberern genommen wurde?

Der Maya-Experte Prof. Dr. Nikolai Grube von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn bei Grabungsarbeiten im mexikanischen Uxul.© Dr. Kai DelvendahlProf. Nikolai Grube bei Grabungsarbeiten im
mexikanischen Uxul.

Die Reaktionen sind sehr stark, gerade in Guatemala gibt es eine ganz ausgeprägte Maya-Bewegung, die sich in Opposition gegen die Diktatur und den mit ihr verbundenen Völkermord formiert hat. Das begann schon lange vor unserer Arbeit als Wissenschaftler. 1992, mit der 500-Jahresfeier anlässlich der Entdeckung Amerikas und der Verleihung des Friedensnobelpreises an Rigoberta Menschú, wurde diese Bewegung auch weltweit allgemein sichtbar als politische Kraft. Die Bewegung ist ganz stark auch auf dem Land. Die Bevölkerung dort sucht nach ihren Wurzeln und grenzt sich ab von den Nicht-Maya. Meine Kollegin Linda Schele und ich gehörten zu den ersten, die angesprochen wurden, mitzuarbeiten. Seit 1989 führen wir Workshops zur vorspanischen Geschichte durch. Wir lesen gemeinsam Hieroglyphentexte, sprechen über Maya-Astrologie, die Rolle der Frau in der Maya-Gesellschaft oder über die Legitimation von Macht.

Das Gespräch führte Uwe Ebbinghaus

 

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Die Ausstellung “Maya – das Rätsel der Königsstädte” ist noch bis zum 23. April im Historischen Museum der Pfalz in Speyer zu sehen.

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von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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https://blogs.faz.net/blogseminar/es-war-nicht-das-klima-es-war-die-politik/feed/ 16
Nerdalarm: Wie man menschliche Bewegung fernsteuert https://blogs.faz.net/blogseminar/nerdalarm-wie-man-bewegung-programmiert/ Thu, 05 Jan 2017 13:11:25 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=1895 Eigentlich ist Thomas Seel Ingenieur. Sein aktuelles Projekt an der TU Berlin reicht jedoch weit in die Medizin hinein. Er und seine Kollegen entwickeln Algorithmen, die verlorene Bewegungen bei Menschen zurückrufen und dabei gänzlich neue Sinneseindrücke erzeugen. Dritter Teil unserer … Weiterlesen

von michaelggromotka erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Eigentlich ist Thomas Seel Ingenieur. Sein aktuelles Projekt an der TU Berlin reicht jedoch weit in die Medizin hinein. Er und seine Kollegen entwickeln Algorithmen, die verlorene Bewegungen bei Menschen zurückrufen und dabei gänzlich neue Sinneseindrücke erzeugen. Dritter Teil unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.

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Ein Inertialsensor an der Hand gehört für Thomas Seel zur Berufskleidung.© Michael GromotkaEin Inertial-Sensor an der Hand gehört für Dr.-Ing. Thomas Seel zur Berufskleidung.

F.A.Z.: Ihr Forschungsgebiet heißt „Geregelte Neuroprothetik“. Was verbirgt sich dahinter, das Menschen ins Staunen versetzen könnte?

Thomas Seel: Wir bringen Muskeln und Körperteile, die eigentlich gelähmt sind, wieder zur Bewegung. Das heißt: Unter bestimmten Bedingungen gelingt es uns, wieder funktionale Bewegungen zu erzeugen – zum Beispiel das Fahrradfahren, Greifen oder das Ausführen einer Armbewegung.

Welchen Personenkreis haben Sie bei der Anwendung im Blick?

Unsere Entwicklungen zielen vor allem auf Querschnittsgelähmte und Schlaganfallpatienten. Wir entwickeln so genannte Neuroprothesen, die diesen Patienten helfen sollen, die verloren gegangenen Bewegungen wieder auszuführen. Beispiele sind Fahrradfahren bei Querschnittsgelähmten oder die Unterstützung von bestimmten Bewegungen im Gang von Schlaganfallpatienten.

Könnten Sie auch jemanden, dessen Beine komplett gelähmt sind, und der im Rollstuhl sitzt, wieder gehend machen?

Das ist leider nicht der Fall. Wir regen die Muskeln künstlich durch Oberflächenelektroden an, die wir auf die Haut aufkleben. Zum Gehen werden jedoch sehr viele Muskeln benötigt, die wir auf diese Weise nicht gut erreichen können, weil sie nicht an der Körperoberfläche liegen. Aber es gibt Schlaganfallpatienten, die durchaus noch viele Dinge können, die sie zum Gehen brauchen würden. Allerdings fehlt ihnen eine Sache, wie beispielsweise die Fähigkeit, den Fußheber zu benutzen. Die Folge ist, dass solche Patienten trotz eines in Teilen erhaltenen Bewegungsapparats oft dennoch nicht gehen können. Durch künstliche Anregung des Muskels, die so genannte „neuromuskuläre Stimulation“, kann man diese Fußhebung wiederherstellen.

Wie geht das konkret?

Wir messen, wie die Bewegung gerade aussieht und vergleichen diese dann mit einer vom Mediziner definierten Bewegung. Aufgrund dessen errechnet das System eine elektrische Stimulation, also die künstliche Aktivierung des Muskels. Diese wird fortwährend angepasst, um die gewünschte Bewegung zu erzeugen. So lernen unsere Neuroprothesen, sich dem jeweiligen Patienten und seiner Muskeldynamik anzupassen und so seine individuellen motorischen Schwächen zu kompensieren.

Bringen Sie da ganz viel Technik am Menschen an – oder was ist erforderlich, damit ihr System funktionieren kann?

Erforderlich sind drei Dinge, die einem Menschen bis zu dem Moment, bei dem das zentrale Nervensystem entweder durch einen Schlaganfall oder bei Querschnittslähmung beschädigt wurde, ganz selbstverständlich vorgekommen waren. Das ist zum einen die Propriozeption, also die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Andererseits fehlt die Muskelaktivierung, also die Fähigkeit, jeden Muskel anzusteuern und die Kraft dosieren zu können. Zwischen diesem Input der Sensorik und dem Output der Aktorik hat jeder Mensch außerdem einen Haufen lernender Algorithmen, die ständig dafür sorgen, dass bestimmte Bewegungsabläufe entstehen. Das ist die dritte Komponente, die ebenfalls ersetzt werden muss.

Mithilfe von Inertialsensoren lässt sich die Position jedes Körperglieds erfassen. © Michael GromotkaMithilfe von Inertial-Sensoren lässt sich die Position jedes Körperglieds erfassen.

Und das ist Ihre Programmierung, also hier haken Sie ein?

Wir versuchen, all diese drei Komponenten so gut, wie es momentan geht, zu ersetzen. Zum einen bringen wir Sensoren am Körper der Patienten an, welche die Propriozeption ersetzen. Diese so genannten Inertial-Sensoren, die Sie ganz ähnlich aus Ihrem Mobiltelefon kennen, sollen in Echtzeit ermitteln, an welcher Stelle bestimmte Körperteile sind und wie schnell sie sich bewegen. Dann benutzen wir die bereits erwähnten Oberflächenelektroden, mit denen wir die Muskeln aktivieren. Zwischen diese beiden Systeme der Sensorik und der Aktorik legen wir schließlich unsere lernenden Regelungsalgorithmen. Das ist die ganze von uns programmierte Intelligenz, die versucht, das, was unser zentrales Nervensystem tut, so gut wie möglich nachzuempfinden.

Was können wir Menschen denn sensorisch, was wir uns im Alltag gar nicht bewusst machen, und was Sie jetzt ersetzen müssen?

Auf der sensorischen Seite geht es um die Wahrnehmung der Orientierung und der Lage der Körperteile im Raum. Die meisten Menschen sind zum Beispiel in der Lage, mit geschlossenen Augen die Finger vor dem Gesicht zusammenzuführen. Dieses Wissen um die Lage und Bewegung ist die bereits angesprochene „Propriozeption“ und funktioniert unabhängig von Ihren sonstigen Sinneswahrnehmungen. Wenn ein Mensch nun nicht mehr spürt, wo sein Bein oder seine Hand ist, dann kann er diese auch erheblich schlechter bewegen. Wir ersetzen das, indem wir an jedes Körpersegment, das gegenüber einem anderen beweglich ist, einen solchen Inertial-Sensor anbringen. Wenn man auf die Daten dieses Sensors geeignete mathematische Algorithmen loslässt, dann kann man daraus berechnen, wie beispielsweise Hand oder Arm gerade positioniert sind.

Kann ich mir das so vorstellen, dass Sie Posen oder Bewegungen auf dem Computer grafisch abbilden können? Können Sie also auf einem Bildschirm sehen, was die Person gerade tut?

Genau. Sie können auf dem Bildschirm einen Avatar darstellen, der sich genauso bewegt wie der Patient, der gerade die Sensoren trägt.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gewinnen Sie dadurch?

In dem Moment, in dem Sie eine Körperbewegung vom Arm oder Bein sichtbar machen können, können Sie zweierlei Dinge tun. Entweder Sie machen nur diese Bewegung wieder sichtbar, spürbar oder erlebbar für einen Patienten, der nur seine Sensorik verloren hat. Das ist eine sinnvolle Sache: Sie lassen beispielsweise jemanden, der an der Fußsohle nichts mehr spürt, wieder erfahrbar machen, ob mehr Druck auf dem Ballen oder auf der Ferse lastet, indem Sie es an einer Stelle am Oberschenkel vibrieren lassen. Schon fühlt man wieder indirekt, was unter der Fußsohle geschieht, obwohl man es ja eigentlich nicht mehr spüren kann. Diese Behandlungsmöglichkeit nennen wir „Bio-Feedback“.

Im Erleben spürt der Patient das aber trotzdem unter dem Fuß?

Nach einer sehr langen Zeit, in der das Gehirn trainiert, kann man das wieder so spüren, als wenn es unter dem Fuß wäre. Unser Gehirn gewöhnt sich daran. Ähnlich verhält es sich, wenn Sie eine Brille aufsetzen, in der oben und unten vertauscht sind. Dann sind Sie eine relativ lange Zeit weitgehend orientierungslos, aber irgendwann interpretiert Ihr Gehirn diese Signale völlig neu.

Mit dieser Arm-Neuroprothese erforschen Arne Passon und Thomas Seel Armbeugung, Armstreckung, Handgreifen und Handöffnung. © Michael GromotkaMit dieser Arm-Neuroprothese erforschen Arne Passon und Thomas Seel Armbeugung, Armstreckung, Handgreifen und Handöffnung.

Was wäre die zweite Behandlungsmöglichkeit der künstlichen Körpersensorik?

Sie können auch einem zusätzlich motorisch gelähmten Menschen helfen, den kompletten Kreis von Wahrnehmung bis zur Regelung und Steuerung der Bewegung abzubilden – das wären dann unsere „Neuroprothesen“.

Wie geht das vor sich?

Stellen Sie sich zum Beispiel einen Schlaganfall-Patienten vor, dem die Fußhebung und die Kniebeugung fehlen, der aber zum Beispiel seine Hüfte noch angemessen bewegen kann, um damit laufen zu können. In diesem Fall müssten wir eine Neuroprothese bauen, die einerseits erkennt, wo wir uns gerade im Schrittablauf befinden, ob also zum Beispiel das rechte oder das linke Bein als nächstes einen Schritt machen soll. Anschließend muss das System dann erkennen, ob das Knie gerade hinreichend gebeugt ist oder mehr gebeugt werden muss, und ob der Fuß hinreichend gehoben ist. Anhand dieser Daten entscheidet die Neuroprothese in Echtzeit, ob die Kniebeuge- und die Fußhebermuskeln mehr oder weniger stimuliert werden müssen – je nachdem, ob hinreichend Kniebeugung und Fußhebung vorhanden ist.

Welche Technik kommt dabei zum Einsatz?

Hier kommen unsere etwa lindenblattgroßen Oberflächenelektroden zum Einsatz, die wir auf der Haut anbringen. Zwischen jeweils zwei Elektroden werden winzige Stromimpulse verabreicht, die dann in den Nerven, die unter der Haut liegen, so genannte Aktionspotentiale auslösen. Diese lassen dann den Muskel kontrahieren. Es gehen außerdem Signale hoch zum Gehirn, weshalb man es tatsächlich auch spürt, dass gerade stimuliert wird. Es entsteht so ein sehr unbestimmter, eigenartiger Sinneseindruck, den man so noch nicht kennt.

Wie darf ich mir dieses Gefühl vorstellen? Geht es eher in Richtung Schmerz, oder ist es ein Kitzeln?

Es ist nur schwer vergleichbar. Es werden ja unter der Haut relativ beliebig Nerven gereizt, die an anderen Sinneszellen anliegen und eigentlich andere Signale weiterleiten, wie etwa die des Tastsinns. Die Signale, die durch die Reizung zum Gehirn geschickt werden, sind daher nicht exakt die gleichen, wie bei einer Berührung, einem Stich oder einem Kitzel, sondern es ist etwas Neues. Unser Gehirn hat jedoch die Eigenschaft, neue Reize im Körper immer sehr stark darzustellen. Mit zunehmender Gewöhnung wird jedoch immer weiter herunter reguliert. Die meisten Patienten tolerieren das Gefühl bereits nach einer sehr kurzzeitigen Anwendung.

Die Fähigkeit, beispielsweise wieder gehen zu können, wird also unter Umständen mit einer Art Schmerz erkauft?

Nein, das Gefühl ist kein Schmerz im eigentlichen Sinne. Der Effekt ist ein wenig mit jenem bei Menschen vergleichbar, die nach langer Taubheit durch eine Behandlung mit Cochlea-Implantaten nach zwanzig oder dreißig Jahren ihren ersten Ton hören können. Man würde ja denken, dass sich die meisten darüber freuen würden. Tatsächlich überwiegt jedoch zunächst die Überraschung, wie intensiv das Gehirn den bisher unbekannten Hörreiz darstellt. Die Patienten haben daher beim ersten Einschalten oft das Bedürfnis, dieses Gerät, das ihnen eigentlich hilft, sofort wieder auszuschalten.

Der erste Schritt der praktischen Umsetzung besteht darin, dass Sie die Neuroprothesen an sich selbst ausprobieren, bevor Sie damit an den Patienten gehen. Sie selbst tragen ja auch im Moment auf dem Handrücken einen Sensor.

Genau. Sowohl die Wissenschaftlichen Mitarbeiter als auch die Studenten, die bei uns in der Forschung mitarbeiten, testen die Programme immer erst an sich selbst, bevor wir damit gemeinsam mit unseren wissenschaftlichen Partnern in der Medizin unter streng festgelegten Bedingungen an den Patienten gehen.

Dieses Demo-Video der TU Berlin zeigt, wie durch die Verabreichung bestimmter Stromimpulse Muskeln ferngesteuert werden.

***

Wenn Sie simulieren möchten, dass ein Teil des Gehapparats nicht mehr funktioniert, dann müssen Sie sich ja selbst dazu bringen, den fehlenden Teil nicht selbst auszuführen. Wie gelingt Ihnen das – durch Meditation?

Das ist nahezu unmöglich. Vor einigen Jahren hatten wir aber tatsächlich einmal einen Studenten, dem es nach wochenlangem Training einigermaßen erfolgreich gelungen ist, beim Gehen den Fuß nicht selbst absichtlich zu heben. Ansonsten sind die Mechanismen jedoch so stark eintrainiert, dass das kaum gelingt. Ob etwas wirklich funktioniert, werden Sie also immer erst am Patienten sehen.

Das bedeutet, dass Sie immer auch an der medizinischen Anwendung interessiert sind. 

Das stimmt. Auch wenn wir Methoden entwickeln, entwickeln wir sie immer mit einer gewissen Anwendung im Hinterkopf. Hier im Fachgebiet Regelungssysteme von Prof. Raisch gibt es auch Kollegen, die sehr theoretisch arbeiten und rein mathematisch neue Theorien und Beweise entwickeln. Aber selbst die haben in weiter Denkferne immer die Idee, dass diese Methoden einmal an einem praktischen Beispiel eingesetzt werden. Bei der Neuroprothesen-Entwicklung sind wir besonders nah an der Anwendung. Hier arbeitet jeder Kollege ganz konkret darauf hin, für eine bestimmte Gruppe von Patienten ein möglichst intelligentes technisches Hilfsmittel zu entwickeln, das sich automatisch dem individuellen Patienten und dessen Situation anpasst. Weil kein Patient wie der andere ist, muss alles, was sensorisch erfasst werden kann, möglichst intelligent genutzt werden, so dass sich das System möglichst gut anpassen kann. Das fängt schon bei der Anbringung der Sensoren an. Wir kleben diese in relativ beliebiger Orientierung auf den Körper. Nachdem man sich ein wenig bewegt hat, finden die Sensoren selbst heraus, wie sie angebracht sind – ähnlich wie ein Baby in seinen ersten Lebensmonaten herausfindet, was die Signale, die von den Propriozeptoren kommen, überhaupt bedeuten, wann also beispielsweise der Arm gebeugt oder gestreckt ist. Ohne eine solche Herangehensweise wäre unser System nicht in der Breite anwendbar.

Und das ist es auch, was Sie persönlich so daran fasziniert? Wir sind ja an einer Technischen Universität und Sie sind Ingenieur. Ich spüre aber auch ein ganz starkes Interesse am Patienten und an der Individualität der Menschen, auf die Sie jetzt hinarbeiten.

Ja, es ist natürlich außerordentlich faszinierend, wenn Sie an einer Schnittstelle von zwei Wissenschaften arbeiten können. Ich glaube, das geht vielen Menschen so. Bei uns ist die Medizin ständig präsent. Von dieser Wissenschaft können wir als Ingenieure zwar immer nur begrenzt viel wissen, und wir sind immer auf medizinische Experten angewiesen. Aber wir dürfen eben in die Nachbarwissenschaft hineinschauen, und wir dürfen versuchen, die von uns entwickelten, teilweise sehr mathematischen Methoden so gut wie möglich in der Praxis nutzbar zu machen. Das ist sehr spannend, wenn Sie vom mathematischen Algorithmus bis zum Patientenexperiment die gesamte Kette abdecken.

Können Sie tatsächlich den kompletten Weg mitgehen?

Das ist der übliche Weg, den hier fast alle Wissenschaftlichen Mitarbeiter gehen können. Die meisten werden mindestens einmal einen ganz konkreten mathematischen Algorithmus für ein Problem – beispielsweise diese automatische Erkennung der Sensoranbringung – auf dem Papier entwickeln, ihn dann in Form von Quellcode am Computer umsetzen und an sich selbst testen. Anschließend werden sie die Hardware so optimieren, dass dieser Algorithmus seine Wirkung entfalten kann und dann tatsächlich am Patienten Experimente durchführen.

Das heißt, die Kooperation mit der Medizin und Ihnen als Ingenieure ist wirklich mit Leben gefüllt.

Wir arbeiten viel mit der Charité und dem Unfallkrankenhaus Berlin zusammen und haben gute Beziehungen zur Brandenburgklinik. Dabei versuchen wir darzustellen, was technisch möglich ist, und die medizinischen Partner versuchen darzustellen, was medizinisch notwendig, sinnvoll und hilfreich ist.

Wie nah sind wir schon an der Umsetzung Ihrer Erkenntnisse in der Breite?

Gute Frage. Da müssen wir die Erwartungen der Patienten leider oft etwas bremsen. Es gibt einige Bereiche, in denen aktive Bewegungsunterstützung mit Elektrostimulation bereits als Produkt existiert; zum Beispiel gibt es seit sehr langer Zeit so genannte Fallfuß-Stimulatoren. Die Fußhebung kann also schon seit längerem von Geräten unterstützt werden – aber nur von solchen Geräten, die immer dann, wenn Sie die Ferse heben, die Fußheber stimulieren. Das tun sie jedoch immer in ein und demselben festgelegten, oftmals zu starken Maße, um sicherzugehen, dass die Fußhebung auch wirklich ausreichend erfolgt. Diese Systeme besitzen also keine Intelligenz und sind nicht in der Lage, sich anzupassen. Die dritte Komponente, die wir entwickeln und die ich vorhin beschrieben habe, fehlt also – nämlich die automatische, lernende Anpassung der Muskel-Aktivierungsmuster basierend auf den sensorischen Signalen, welche die ausgefallene Aktivität des zentralen Nervensystems ersetzt. Nun haben wir in einem Projekt einen intelligenten Fallfuß-Stimulator und damit eine echte Fallfuß-Neuroprothese entwickelt. Ein auf diesem Prinzip basierendes Gerät wurde gerade von einer Firma als Industrie-Prototyp weiterentwickelt. Das könnte dann wiederum an eine Firma gehen, die den Prototyp kaufen und dann erst einmal ein serienreifes Produkt daraus entwickeln muss. Das sind relativ lange Entwicklungszüge. Wenn wir eine Forschung zu einem System beendet und den Nutzen eines neuen Funktionsprinzips nachgewiesen haben, braucht es Firmen, die sich mit Medizinproduktezulassung und Marketing auskennen und die Produkte kompakt und attraktiv in der Handhabung machen können. Das ist etwas, das wir als forschende Uni ja nicht leisten können. Man muss also wissen, dass es, nachdem wir unsere Forschungsarbeiten vollständig abgeschlossen haben, noch mindestens fünf Jahre braucht, bis tatsächlich ein fertiges Produkt an den Patienten kommt. Und dazu kommt es auch nur, wenn es eine Firma gibt, die den Biss und den Drive hat, sich mit einem neuartigen System gegen konventionelle Ansätze durchzusetzen.

Die Gangunterstützung erproben die Wissenschaftler zunächst an sich selbst.© Michael GromotkaDie Gangunterstützung erproben die Wissenschaftler zunächst an sich selbst.

Welche Projekte haben Sie schon erfolgreich abgeschlossen?

Zum Beispiel das zur intelligenten Fußhebung. Da haben wir gezeigt, welche Vorteile eine intelligente Anpassung des Stimulationsmusters hat. Aber auch die Erzeugung von funktionellen Armbewegungen in der wiederholungsintensiven Armrehabilitation ist etwas, das wir erfolgreich können, ebenso das Fahrradfahren von Querschnittsgelähmten. Schließlich ist einem Team um Thomas Schauer und Rainer Seidl sogar die Unterstützung des Schluckvorgangs mit neuromuskulärer Stimulation gelungen. Also grundsätzlich: Die Machbarkeit von solchen Konzepten konnten wir und auch andere Forschergruppen erfolgreich zeigen. Was und täglich beschäftigt, ist die Frage, wie wir den medizinischen Nutzen und die Intelligenz dieser Systeme weiter verbessern können. Damit meine ich zum Beispiel die Weiterentwicklung der Sensornetzwerke mit dem Ziel, dass die Einzel-Sensoren selbst herausfinden, wie und wo sie angebracht sind: “Ach, ich bin heute gar nicht am Oberschenkel, sondern am Unterschenkel, da habe ich heute einen neuen Job”. Die automatische Anpassung geht aber noch viel weiter; unsere Neuroprothesen können beispielsweise auch merken, wenn ein Patient an einem Tag einmal eine viel deutlichere Spastik hat als sonst und die Muskelaktivierung entsprechend neu dosieren. In der Zukunft sollen sie unter anderem auch genau erkennen, wie aktiv sich der Patient gerade an der Bewegungserzeugung beteiligt und Rückschlüsse auf seine Absichten ziehen.

Aber das bedeutet ja auch, dass sich der Mensch immer mehr zumindest in seinem Bewegungsapparat als Maschine begreifen lässt, den man in einen größeren maschinellen Zusammenhang einbinden kann. Dabei könnte es aber auch zu missbräuchlicher Verwendung kommen. Eigentlich könnte man ja in letzter Konsequenz sogar einen Menschen fernsteuern, nicht wahr?

Das ist immer wieder eine interessante Idee, mit der wir konfrontiert werden. Ich glaube aber, dass das ein sehr unrealistisches Szenario ist. Niemand würde ein Unterstützungssystem mit neuromuskulärer Stimulation entwickeln, das nicht vom Patienten jederzeit ein- oder ausgestellt, beziehungsweise stärker und weniger stark eingestellt werden kann. Eine Vollautomatisierung findet nicht statt. Sie nehmen dem Patienten vielleicht die Mühe ab, jedes Mal, wenn er über die Straße geht, den Stimulator stärker einzustellen, weil der Stimulator merkt, der Patient ist nervös, die Aktivität der “störenden” Muskeln nimmt zu, ich muss jetzt stärkere Impulse geben. Aber Sie würden niemals die Knöpfe zum Ein- und Ausstellen weglassen. Sie würden, ähnlich wie in einem selbstfahrenden Auto, immer noch ein Gaspedal und eine Bremse haben. Es gibt kein noch so autonomes Auto, bei dem das weggelassen wird.

Aber theoretisch denkbar wäre es doch, oder?

In einem phantasievollen futuristischen Szenario könnte man vermutlich einen Menschen nehmen, ihm sehr viele Stimulatoren implantieren und einen Großteil seiner Bewegungen dann tatsächlich fernsteuern. Aber das ist eher etwas für Filmstudios und hat nichts mit unserer Forschung zu tun. Deshalb sage ich ganz klar, verantwortungsvolle Entwicklung in diesem Bereich heißt: Der Patient erhält die volle Kontrolle.

Welche Therapiemöglichkeiten aufgrund Ihrer Technologie wären in zwanzig Jahren denkbar?

Begrenzt werden wir dadurch, dass wir nicht an jeden Muskel herankommen, weil er unter Umständen nicht an der Oberfläche liegt. Und wir können auch nicht jeden Muskel beliebig stark aktivieren. Das bedeutet, dass man bei den allermeisten Patienten den Verfall von Muskeln, selbst wenn man sehr früh einschreitet, nicht so richtig aufhalten kann. Wenn es diese Einschränkungen nicht gäbe, wenn Sie also die Muskelmasse erhalten könnten, die der Patient vor seinem Unfall hatte, und dann auch noch tatsächlich alle Muskeln effizient ansteuern könnten, wäre es theoretisch möglich, einen vollständig gelähmten Patienten gehen oder vielleicht sogar Tango tanzen zu lassen.

Und wie steht es mit spontanen willentlichen Bewegungen wie etwa zeigen und greifen?

Wir streben natürlich auch das Ziel an, alle Bewegung vom Willen auslösen zu lassen. Wenn Sie aber an ganz spontane Bewegungen denken, wie etwa: Jetzt möchte ich zum Stift greifen!, dann müssen Sie ein anderes Signal vom Körper ableiten. Dann können Sie entweder ein so genanntes „Brain Computer Interface“ nutzen, das Signale aus dem Gehirn ableitet. Hier gibt es aber noch keine besonders hohen Erkennungsraten und auch selten mehr als ein Ja/Nein oder ein Links/Rechts. Was aber mit recht gutem Erfolg probiert wurde, ist, dass Sie an anderen Stellen, an denen vom Körper mehr Informationen als nötig abgegeben werden, Signale abgreifen. Sie können zum Beispiel die verschiedenen Anteile der Brustmuskulatur dazu benutzen, um Ihre Hand zu bewegen. Damit geben Sie dem Gehirn die Möglichkeit, eine spontane Bewegung für einen eigentlich gelähmten Körperteil über die Aktivierung eines Muskels vorzugeben, den das Gehirn noch relativ willkürlich ansteuern kann. Auf diesem Wege sind vielleicht sogar Bewegungen in relativ feinen Abstufungen möglich.

Virtuelles Ballspiel: Werden Übungen zum Muskelaufbau spielerisch organisiert, werden sie häufiger ausgeführt und der Behandlungserfolg ist größer.© Michael GromotkaVirtuelles Ballspiel: Werden Übungen zum Muskelaufbau spielerisch organisiert, werden sie häufiger ausgeführt und der Behandlungserfolg ist größer.

Wie fühlt sich die teilweise Fremdsteuerung der Muskeln etwa beim Gehen beim Patienten eigentlich an? Ich weiß nicht, ob das in irgendeiner Form vergleichbar ist, aber Patienten, denen ein fremdes Organ implantiert wird, haben ja oft ein Fremdheitsgefühl. Gibt es bei den Neuroprothesen ebenfalls ein Fremdheitsgefühl, auch wenn wir nur von Elektroden sprechen, die auf die Haut geklebt sind?

Das kann ich Ihnen gar nicht genau sagen. Ich weiß nicht, ob es dazu psychologische Untersuchungen gibt. Ich glaube, die Patienten erleben die Neuroprothesen vor allem als Hilfsmittel. Das System ist auch nicht mit einer Beinprothese vergleichbar, die anstelle eines verlorenen Glieds angesetzt wird. Wir nennen es zwar „Neuroprothese“, weil wir Funktionen des neurologischen Systems ersetzen und übernehmen. Aber wir ersetzen sie ja nicht in dem Sinne, dass wir tatsächlich ihren Körper ergänzen. Was das Leben den Patienten genommen hat und was wir versuchen zu ersetzen, ist ja die Möglichkeit, bestimmte Bewegungen auszuführen.

Ich würde gern noch einmal die Frage der tatsächlichen Umsetzung Ihrer Forschung für den Patienten vertiefen. Wäre es für Sie nicht wünschenswert, ihre Produkte selbst mit bis zur Marktreife zu führen?

Das Beste, was uns passieren könnte, wäre, mit einem Medizin-Produkte-Hersteller, der neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen ist, eines unserer Systeme in einem produktnahen Entwicklungsprojekt zu realisieren. So könnte man die sonst sehr langen Entwicklungszeiten vielleicht verkürzen. In einer idealen Welt würde jede hilfreiche Neuerung sofort als Medizinprodukt verfügbar gemacht werden, aber da sind wir leider noch nicht. Und vergessen Sie nicht, dass auch nach der Entwicklung des marktreifen Prototyps das Produkt noch nicht am Patienten ist. Die nächste, nicht zu unterschätzende Klippe ist nämlich noch die Zulassung des Medizinprodukts und die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis.

Wie vermitteln Sie das Ihren Probanden?

Das ist bitter, wenn der Patient am Ende einer Untersuchung zu uns sagt: Ja, das hat aber wirklich schön funktioniert! Kann ich das mit nach Hause nehmen oder kann ich es kaufen oder wann bekomme ich es von einer Krankenkasse? Dann kommen die traurigen Antworten.

Was empfinden Sie dabei?

Das beschäftigt mich schon sehr. Wir können als Forscher leider nur zeigen, welche neuen Ansätze wie gut funktionieren und was momentan möglich ist. Ebenso ärgert es mich, wenn ein vielversprechender Ansatz bei einem bestimmten Patienten am Ende doch nicht funktioniert. Aber selbst wenn ein bestimmtes System nur einem Bruchteil aller Schlaganfallpatienten helfen könnte, dann wären das immer noch Tausende, denn wir haben ungefähr eine Viertelmillion Schlaganfälle pro Jahr in Deutschland.

Was sind denn noch Nüsse, die für Sie zu knacken sind? Woran sitzen Sie gerade?

Eine ganz konkrete Nuss ist es, durch Stimulation der Muskeln im Unterarm einen präzisen Dreifingergriff auszuführen. Wir können die Muskeln ja nicht einzeln ansteuern. Stattdessen verwenden meine Kollegen Christina Salchow und Markus Valtin eine ganze Matrix von Elektroden. Da müssen wir erst einmal herausfinden, welche Kombination von Kanälen, welche Art „gemischter Ton“ erzeugt werden muss, damit sich tatsächlich die Spitzen von Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger berühren. Das wäre Wahnsinn, das ist momentan noch nicht erreicht, eine so präzise Bewegung zu erzeugen.

Sie halten es aber für möglich, dorthin zu kommen?

Ja. Wir hoffen und wir glauben, dass wir das erreichen werden. Immerhin können wir derzeit schon die Hand öffnen und schließen. Damit können Sie ja wenigstens schon einmal greifen, wenn auch nur grob. Das feine Greifen, der so genannte „Pinzettengriff“, das ist das nächste Ziel.

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Nerdalarm: Pilze werden total unterschätzt https://blogs.faz.net/blogseminar/nerdalarm-pilze-werden-total-unterschaetzt/ https://blogs.faz.net/blogseminar/nerdalarm-pilze-werden-total-unterschaetzt/#comments Sun, 04 Dec 2016 19:19:37 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=1597 Seit 25 Jahren erforscht die Frankfurter Biologin Meike Piepenbring die Pilze der Welt. Über die Mykologie der Tropen hat sie ein Standardwerk geschrieben. Ein Gespräch über Lebewesen, um die sich kaum einer kümmert, ohne die aber die Wälder sterben würden. … Weiterlesen

von Joachim Müller-Jung erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Seit 25 Jahren erforscht die Frankfurter Biologin Meike Piepenbring die Pilze der Welt. Über die Mykologie der Tropen hat sie ein Standardwerk geschrieben. Ein Gespräch über Lebewesen, um die sich kaum einer kümmert, ohne die aber die Wälder sterben würden. Zweiter Teil der Interview-Reihe “Nerdalarm”.

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piepenbring-2© jomMeike Piepenbring in ihrem Labor der Goethe-Universität

F.A.Z.: Frau Piepenbring, Pilzforscher sind selten berühmt, trotzdem klingt Ihr Name  für Naturwissenschaftler vertraut.

Meike Piepenbring: Als Biologe kennen Sie wahrscheinlich den anderen Piepenbring. Der hat neue Pflanzenarten beschrieben.

Hat er sie inspiriert, es zuerst mit der Botanik zu versuchen statt mit Pilzen?

Nicht wirklich. Der war lange gestorben, bevor ich mit Botanik angefangen habe.

Ist es nur der Name, der Sie mit ihm verbindet?

Piepenbring hat neue Arten beschrieben, wie ich. Wenn man das tut, stellt man seinen eigenen Namen dahinter, allerdings abgekürzt. Und diese Abkürzungen müssen eindeutig sein. Ich habe recherchiert und seinen Namen gefunden. Deshalb muss ich jetzt alle neuen Arten, die ich beschreibe, mit der Abkürzung „M. Piepenbr.“ versehen.

Wie viele Artnamen tragen inzwischen dieses Kürzel am Ende?

Ich zähle sie schon nicht mehr. Mehr als zwanzig Pilze sicher, vielleicht schon dreißig.

Was hat Sie aus der schönen Botanik vertrieben? Oder waren die Pilze einfach zu verlockend als unbekannte Lebensform?

In der Botanik gibt es noch viel zu entdecken. Aber ich habe früh gemerkt, dass es bei den Pilzen noch viel mehr zu entdecken gibt. Die Pilze sind noch weit vielfältiger als die Pflanzen und noch schlechter bekannt. Wenn man in die Tropen geht, ist es viel einfacher einen neuen Pilz zu finden als eine neue Pflanze.

Das klingt, als wäre es eine leichte Übung, zur Pilzentdeckerin nach Linnés Vorbild  zu werden?

Nein, das ist viel Arbeit. Der Pilz, den ich finde, kann durchaus für mich neu sein, aber er ist für die Wissenschaft in anderen tropischen Gebieten bekannt. Das muss ich immer erst aufwändig recherchieren.

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Video: Pilze – unterschätzte Überlebenskünstler / von Philip Gerhardt und Joachim Müller-Jung

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Sie gehen also wie frühe Naturforscher in die fremde Welt und graben ständig die Erde um nach neuen Pilzen?

Auf den Spuren Alexander von Humboldts sozusagen. Der eigentliche Antrieb für mich war immer der Urwald. Davon hatte ich als Jugendliche schon geträumt. Und dann habe ich im Studium nach einer Nische gesucht, wo ich nicht so viel Konkurrenz habe, wenn ich daraus einen Beruf machen möchte. Die Pilze kamen mir da gerade recht. Ich habe früh gemerkt, dass es da viel zu entdecken gibt, und dazu gibt es viele Anwendungsaspekte.

So gesehen, sind Sie also sehr rational vorgegangen bei ihrer Hinwendung zu den Pilzen, aber wenn man wie sie praktisch Rund-um-die-Uhr-Mykologin ist, muss es doch etwas gegeben haben, das sie endgültig da reingezogen hat.

Das kam, als ich in den Tropen war. Ein Biologe aus München hatte uns damals nach Costa Rica eingeladen. Als ich die tropische Natur kennen lernen durfte, war ich hin und weg buchstäblich. Das Fieber hat mich bis heute nicht losgelassen. Anfangs war ich für ein, zwei oder drei Monate dort, bin herumgereist und habe die Brandpilze Costa Ricas studiert. Bevor ich dahin kam, wusste man nicht, wo diese parasitischen Pilze wachsen. Deshalb habe ich viele Orte besucht und Herbarien, wo ich nach den Wirtspflanzen für die Brandpilze gesucht habe. Ich bin wirklich viel herum gekommen. Zu der Zeit kannte ich Costa Rica viel besser als Deutschland. Es war eine sinnvolle Aufgabenteilung für uns. Einer in unserer Arbeitsgruppe in Tübingen  kümmerte sich um Rostpilze, auch das Parasiten, und die Brandpilze sind die Schwestergruppe. Ich bin auch erst mit dem Rostpilzfachmann mitgelaufen. An den Wegrändern, in Sümpfen und Savannen, da haben wir die krautigen Wirtspflanzen gefunden und die zugehörigen Pilze auch.

Sie sind auf ihren Reisen also praktisch immer haarscharf am Habitat ihrer Träume, dem Urwald, vorbeigeschrammt?

Die Pilzwirte kommen nicht im Wald vor, aber natürlich konnte ich das verbinden, ich bin auch in den Wald gegangen.

Was haben Sie gefunden auf ihrer ersten Reise?

Anfangs habe ich leider gar nichts gefunden. Es sollte ja eine Promotion werden, deshalb war das problematisch. Ich bin dann nochmal zu einer anderen Jahreszeit hingefahren, dann hatte ich mehr Erfolg. Und einen guten Tutor. So habe ich gelernt, die Wirtspflanzen, Süß- und Sauergräser sicherer zu erkennen. Ich habe in den Herbarien auf den Etiketten der Pflanzen die entscheidenden Hinweise gefunden, wo ich suchen muss.

Sind Brandpilze so schwer zu erkennen?

Eigentlich nicht. Die befallenen Pflanzen sehen wirklich aus wie verbrannt. Wenn man sie anfasst, bekommt man die braunen Sporen an die Finger, das sieht aus wie Kohlestaub. An meinen ersten Pilzfund kann ich mich sehr gut erinnern. Das war am Wegrand an Panicum maximum (Anm. der Red: Guineagras), die Tilletia ayresii oder Conidiosporomyces ayresii. Das war schon etwas sehr Besonderes. Obwohl ich ihn danach noch sehr oft gefunden habe. Ich habe Fotos gemacht, die Blütenstände abgeschnitten und in eine Tüte gesteckt, damit sie nicht so schnell verwelken, danach habe ich das Ganze zwischen Zeitungspapier gelegt, um es schließlich in eine Presse zu legen und das Präparat zu trocknen. Natürlich habe ich den Pilz auch mikroskopiert und gezeichnet. Ich habe mir unter dem Rasterelektronenmikroskop die Ornamentik angeschaut. Damals wurde auch angefangen, molekulare Daten zu sammeln. Einzelne Forscher haben schon Pilze sequenziert. In Kooperation mit Mitarbeitern in Tübingen haben wir Gensequenzen aus den Pilzen erhalten. Darüber dann kann man die systematischen Zusammenhänge noch besser aufklären. Die molekularen Daten geben einfach noch mehr Argumente als die reine Morphologie und Wirtsverwandtschaft. Mein Ziel war eine Kartierung der Brandpilze Costa Ricas.

Was ist so faszinierend an den Pilzen, außer dass manche gut schmecken?

Es ist die Vielfalt der Strukturen, die Vielfalt der Wirtspflanzen und der Habitate. Auch ein Schimmelpilz ist schön, wenn man den unter das Mikroskop legt. Er hat wunderschöne Ornamente, zeigt eine faszinierende Musterbildung. Die Pilze werden aber auch in der Interaktion mit anderen Organismen unterschätzt. Ich habe mich schon gefragt, was passieren würde, wenn wir dem Wald die Pilze wegnähmen. Der Wald würde an seinen Abfällen ersticken, weil etwa das ligninhaltige Holz nur von den Pilzen abgebaut werden kann. Die Nährstoffkreisläufe würden zusammenbrechen, das System kollabieren. Das gleiche gilt für andere Pilzgruppen, die Mykorrhizapilze, die in Symbiose leben mit den Pflanzen.

Haben Sie schon beim ersten Mal in den Tropen eine neue Art entdeckt?

Es hat eine Weile gebraucht, bis ich wusste, ob eine Art neu war, aber ja, es waren neue Arten dabei. Die erste war Entyloma doebbleri. Der Name bezieht sich auf den Kollegen aus München, der uns nach Costa Rica eingeladen hatte. Die Pilzcommunity für Brandpilze ist sehr überschaubar. Zwei, drei Wissenschaftler sind das, mehr nicht.

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Sie sprachen vom Anwendungscharakter. Worin liegt der bei den seltenen Brandpilzen?

Brandpilze befallen auch unsere Nutzpflanzen. Es ist schon wichtig zu wissen, wann ein Parasit von der Wildpflanze auf die Nutzpflanze überspringt. Mich interessieren die Organismen selbst, aber den Anwendungsaspekt brauche ich vor allem dann, wenn ich Anträge schreibe. Dann muss ich schreiben, dass es die wichtigsten Pilze überhaupt sind.

Wie viele Arten sind bekannt?

Beschrieben sind heute etwa 120.000 Pilze. Aber es gibt vermutlich mehr als fünf Millionen auf der Welt. Wir können Bodenproben nehmen und die DNA-Sequenzen ermitteln, dann können wir sehen, dass es bei den Pilzen viele gibt, die wir noch nie gesehen haben. Ich konzentriere mich im Moment nicht mehr ausschließlich auf das Beschreiben neuer Arten. Mein Interesse ist inzwischen viel breiter. Im Moment fasziniert mich besonders die Chemie der Pilze, ihre Naturstoffe. Für die verschiedenen Nischen, die die Pilze besiedeln können, gibt es unterschiedliche interessante Substanzen. Dazu bin ich mit Chemikern und Biotechnologen in Kontakt.

Endlich mal jemand, der sich um neue Antibiotika kümmert?

Langfristig vielleicht schon. Erst einmal will ich aber wissen, welche Stoffe überhaupt produziert werden, und wozu sie gut sind. Die Vielfalt der Pilze hilft da sehr. Vielfalt bedeutet, dass die einzelnen Arten sich durchsetzen müssen und dafür etwas Eigenes haben. Jede einzelne Art ist anders gestrickt. Nach meiner Habilitation habe ich zwei Jahre in Panama gelebt und begonnen, ein Inventarisierungsprojekt zu starten. Da bin ich jeden Monat an dieselbe Stelle gegangen, nicht weit von  meinem Haus, und habe die Pilze gesammelt. Und jedes Mal, wenn wir gesammelt haben, auch nach zwei Jahren noch, haben wir für das Areal neue Arten entdeckt. Wir haben auch eine Artensammelkurve für die Wirtspflanzen gemacht und hatten da sehr bald eine Sättigung erreicht bei etwa dreihundert Arten. Bei den Pilzen dagegen haben wir jedesmal neue Arten gefunden. Das zeigt diese enorme Vielfalt und zeigt auch, dass wir so viele Arten noch immer nicht kennen.

Fühlt man, wenn man so lange und tiefschürfend in der Wildnis unterwegs ist, etwas von dem Humboldtschen Geist?

Ja sehr. Seine Sichtweise auf die Natur ist der meinen schon sehr ähnlich, wenn ich unterwegs bin. Ich achte gerne auf die Geographie, die Geologie und die Ethnomykologie. Ich treffe viele indigene Gruppen auf meinen Reisen.

Sind Sie beim Pilzesammeln im Urwald auch schon in Gefahr geraten?

Zum Glück nicht. Es ist immer ganz wichtig in den Tropen, dass man schaut, wohin man tritt, und wo man hinfasst. Klar, wir haben Schlangen gesehen, aber immer rechtzeitig. Im steilen Gelände habe ich einmal einen Baum vor mir genutzt, um mich abzustützen, und da habe ich im letzten Moment eine hochgiftige Bothriechis schlegelii (Anm. der Red: Lanzenotter)  entdeckt. Die hat allerdings überhaupt nicht reagiert, wir konnten sie sogar fotografieren, ohne dass sie angegriffen hätte.

Sie zieht es also gar nicht mehr hinein ins Biologielabor?

Doch, ich genieße es, beides zu kombinieren. Dadurch, dass ich die Labordaten auch nutze, wird das Ganze nochmal spannender. Zum Glück sind Pilze überall.

Hier auch im Raum?

Auch im Labor. Wenn ich den Deckel einer Kulturschale öffne und ihn kurze Zeit später wieder schließe, kann ich nach einer Weile beobachten, wie die Sporen sich vermehren und der Pilz im Nährmedium wächst. Pilzsporen sind überall in der Luft.

Und zwischen den Zehen am Fuß, wenn es schlecht läuft. Gibt es auch bei den mikroskopischen Fußpilzen eine Vielfalt?

Es gibt viele Arten. Einzelne sind zwar dominant, aber wenn das Gewebe erstmal geschädigt ist, fühlen sich da viele Pilze wohl. Einer meiner Doktoranden hat jüngst dazu promoviert. Er hat Nagelläsionen und Hautschuppen von verschiedenen Patienten in Panama kultiviert und zweihundert Pilzstämme isoliert. Das ergab dann 44 unterschiedliche Fußpilzarten, darunter auch völlig neue.

Und obwohl das Thema so alltagsrelevant ist, gibt es so wenige Mykologen?

Wissenschaftler, die ausschließlich an Pilzen als Gruppe arbeiten sind wirklich selten, aber wir haben natürlich viele Kollegen in der Zellbiologie, der Genetik und der Medizin, die im Labor mit Pilzen arbeiten. Das sind ziemlich viele. Außerhalb der Uni gibt es allerdings auch sehr viele Leute, die sich hervorragend mit Pilzen auskennen und sich in der Freizeit damit beschäftigen. Die treffen wir dann beispielsweise auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Mykologie. Diese Leute haben eine ungeheure Artenkenntnis und ökologische Erfahrung. Gelegentlich begleiten uns solche Fachleute auch in den Wald.

Ärgern Sie sich über Landwirte, die mit Fungiziden genau die parasitischen Pilze bekämpfen, an denen ihr Herz hängt?

Schon, aber ich weiß auch, dass wir die Weltbevölkerung nicht ernähren könnten, wenn die Landwirte das nicht machen würden.

Wie beginnen Sie im Hörsaal ihre Vorlesungen über Pilze?

Mit dem Champignon auf der Pizza. Leider werden Pilze in der Schule komplett vernachlässigt, deshalb muss ich ganz vorne anfangen. Mit den Champignons habe ich erstmal die Aufmerksamkeit. Danach erzähle ich, wozu die Pilze in den einzelnen systematischen Gruppen gut sind. Anschließend ist mir wichtig, dass die jungen Leute auch rausgehen und Spaß haben auf den Pilzexkursionen.

Haben Pilzforscher auch Visionen?

Ja, aber das geht bei mir schnell über die Pilze hinaus. Ich möchte, dass die Menschen wieder ein Gespür entwickeln für die Naturschätze, die wir noch haben. Deshalb ist mein Lehrbuch auch mit so vielen Bildern ausgestattet. Ich beobachte überall, wo ich rausgehe, dass die Vielfalt der Ökosysteme zerstört wird. Viele davon sind sehr speziell und haben ihre eigenen Arten. Es ist also völlig klar, dass jedes dieser Ökosysteme, das zerstört wird, den Verlust von Arten bedeutet, die es nirgendwo sonst gibt und die wir nie gesehen haben.

Können Sie irgendwohin gehen, ohne nach Pilzen zu suchen?  

Das ist schwierig. Wir verschleppen heutzutage durch unsere Reisetätigkeit viele Arten, das ist ein wichtiger ökologischer Aspekt heute. Es gibt sie wirklich überall und zu jeder Zeit, sogar im Winter und im Schnee. Ja, wir gehen also auch im Winter raus in die Natur. Für uns interessant sind dann vor allem die Pflanzenteile, die aus dem Schnee herausragen. Auch das ist eine interessante Nische für die Pilze. Und damit auch für mich.

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meike-mit-buch-pma-aug-2015-8Meike Piepenbring mit ihrem Buch “Introducción a la Micología en los Trópicos” und dem Forschungsgegenstand

Meike Piepenbring ist Professorin am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität im Fachbereich Biowissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Ihr zweiter Lebens- und Forschungsmittelpunkt liegt in Panama, wo sie ein Haus im tropischen Tiefland umgeben von Trocken- und Galeriewaldresten   bewohnt.

von Joachim Müller-Jung erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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https://blogs.faz.net/blogseminar/nerdalarm-pilze-werden-total-unterschaetzt/feed/ 6
Nerdalarm: Was verraten die Trommeln der Schamanen? https://blogs.faz.net/blogseminar/was-verraten-die-trommeln-der-schamanen/ https://blogs.faz.net/blogseminar/was-verraten-die-trommeln-der-schamanen/#comments Thu, 29 Sep 2016 10:52:28 +0000 http://blogs.faz.net/blogseminar/?p=1099 Michael Oppitz ist einer der bedeutendsten Ethnologen unserer Zeit. Sieben Jahre lang hat er in Nepal die Schamanen im Himalaya studiert. Ein Gespräch über lebende Trommeln, die Wiederkehr der Toten und heilsames Entertainment. Weiterlesen

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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Der Ethnologe Michael Oppitz kann jede Schamanentrommel Asiens und Europas bis auf 15 Kilometer genau ihrem Herkunftsort zuordnen. Ein Gespräch über lebende Trommeln, die Wiederkehr der Toten und heilsames Entertainment. Auftakt der Interview-Serie “Nerdalarm”.

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mags-8408-35-37© Michael OppitzMichael Oppitz im Gespräch mit dem Schamanen Bal Bahadur – das Foto von 1984 schoss ein Dorfbewohner

F.A.Z.: Sie haben sieben Jahre lang in Nepal gelebt – sind Sie jemals von einem Schamanen behandelt oder geheilt worden?

Michael Oppitz: Ja, ich bin einmal behandelt worden, mir fehlte aber nicht viel. Im Grunde wollte ich nur einen Gesang hören, den ich vorher noch nicht auf Tonband hatte aufnehmen können. Ich wusste, dass dieser Gesang eventuell kommen würde, wenn ich sagte: Ich habe die und die Bauchschmerzen. Und tatsächlich kam er dann auch.

Wie kamen Sie zu den Magar in West-Nepal, woher wussten Sie, dass Sie ausgerechnet dorthin wollten?

Ich wollte eine ethnographische Untersuchung im Himalaya machen, nicht bei den Sherpa, bei denen ich schon 1965 gewesen war, und auch nicht bei einer tibetischen Gruppe, sondern bei einem der alten Völker des Himalaya. Ich bin dann einfach zu Fuß rumgereist, bis ich von einem Linguisten, der bei den Magar gewesen war, ein Geschichte hörte, die mich sofort faszinierte. Er erzählte mir von Heilern, die nachts im Ritual und in Trance gelegentlich das glühende Dreibein auf dem Feuer mit den Händen packten und in den engen Raum, gefüllt mit Menschen, schleuderten. Das fand ich eine irre Geschichte, das wollte ich sehen. Man musste acht oder neun Tage gehen, um dahin zu kommen, es ist weit abgelegen, es gab keine Straße, keine Piste, nichts. Das habe ich auch gerne gemacht. Dieses langsame Herangehen ist eine besondere Art der Vorbereitung, man übt sich total physisch und stimmungsmäßig ein. Man bekommt die Pflanzenwelt mit, die Tierwelt, man lernt verschiedene Völker kennen, man weiß, wie es da riecht. Man spürt den ungeheuren lokalen Reichtum. Ich bin dann bei den Magar angekommen und merkte sofort: Das ist der richtige Ort.

mag© Michael OppitzDer Schamane Bedh Bahadur mit herzförmiger, Lata mit runder Trommel

In welchen Fällen riefen die Magar nach ihren Schamanen? Hätte es eigentlich auch Krankenhäuser als Alternative gegeben?

Krankenhäuser gab es nicht in der Gegend. Die westliche Medizin war den Magar bekannt, besonders in Form von Medikamenten, weniger von Operationen. Die Menschen dort sehen die westliche Medizin aber nicht als Konkurrenz an, auch die Schamanen übrigens nicht. Einer sagte mir mal: Wir sind froh, wenn die westliche Medizin kommt, aber wir machen natürlich weiter. Im Grunde überschneiden sich diese beiden Arten des Umgangs mit Krankheit nicht. Bei den Schamanen geht es auch um Unheil, Depression, alles, was dazu führt, dass die Menschen nicht glücklich sind, weil sie Angst haben. Die aufgeklärte westliche Medizin auf der anderen Seite ist stark gegen die  Glaubensheilung angetreten, besonders in Sibirien und in Südamerika. Da hieß es: Das ist Quacksalberei.

Schamanen, männliche wie weibliche, sprechen über ihr Selbstbild – Ausschnitt aus Michael Opitz’ Film “Schamanen im Blinden Land”

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Welche Heilungen haben Sie persönlich miterlebt?

Die unterschiedlichsten. Sehr oft ging es um Depression. Bei allen Fällen, bei denen es um psychische Ursachen von physischem Leid ging, verzeichnet diese Praxis aus meiner Sicht große Erfolge. Das Gemeinschaftserlebnis „Ritual“ spielt hierbei eine große Rolle. Auch die Tatsache, dass sich Schamanen teilweise zwei bis drei Tage ganz einem Menschen widmen und dass die Patientenfamilie tief in die Tasche greifen muss, trägt zur Heilung bei. Häufig wurden auch Schwergeburten behandelt. Für Frauen, die keine Kinder bekommen, gibt es spezielle Rituale. Und auch alles, was mit dem Tod zu tun hat, ist eine Domäne der Schamanen. Menschen, die vorzeitig gestorben sind, durch einen Unfall etwa, werden als gefährlich betrachtet. Die Magar denken, dass sich diese Menschen in böse Geister verwandeln, die andere ebenfalls in den vorzeitigen Tod reißen wollen. Das produziert Angst. In solchen Fällen sind die Rituale der Schamanen sehr wirksam.

Wobei es hierbei um die Glaubensheilung von Ängsten ginge, die ohne den entsprechenden Glauben nicht oder nicht in diesem Maß entstanden wären.

Ja, hier wird Glauben mit Glauben geheilt.

15© Casper MillerDer Schamane Rite Kami hat mit der Trommel zunächst sich selbst in Trance gespielt, jetzt folgt ihm die Patientin.

Welche körperlichen Gebrechen werden von Schamanen behandelt? Auch so etwas wie Rückenschmerzen?

Unterschiedliche Gebrechen fordern unterschiedliche Rituale. Bei Rückenschmerzen zum Beispiel sind sogar die Utensilien andere: Statt der Trommel, die in fast allen Ritualen zum Einsatz kommt, benutzt man Pfeil und Bogen – den Pfeil als Schlegel und die Saite als Membran. Die Krümmung des Bogens erinnert an den gekrümmten Rücken.

Wie lebendig ist der Schamanismus heute noch in Nepal?

Er ist nach wie vor stark verbreitet, in erster Linie in den abgelegenen Gebieten. Neu ist, dass auch viele Menschen in den Städten sich für Schamanismus interessieren, die wollen das auch mal ausprobieren. Ein wenig so wie in Korea, wo es viele Schamaninnen gibt, die ihre Rituale über das Telefon, sogar übers Handy vollziehen.

Eine irre Geschichte habe ich gerade von einem meiner Studenten gehört, der im vorigen Jahr in Nepal war, mitten im Epizentrum des großen Erdbebens, in einem Dorf mit zweihundert Häusern, die alle zerstört wurden. Er hat nur durch einen Zufall überlebt. Kürzlich war er wieder da, und die Dorfbewohner haben ihm erzählt, dass die Häuser alle zerstört worden seien, nur die Schamanentrommeln seien unversehrt geblieben, ja sie hätten aufrecht in den Trümmern gestanden. Das hätten die Überlebenden als ein Zeichen gelesen. Mein Gewährsmann hat die Trommeln freilich nicht gesehen, es wurde ihm nur davon erzählt, und er hat es mir erzählt. Man muss nicht glauben, dass das stimmt, das ist auch nicht der Punkt. In der Ethnologie ist allein entscheidend, was die Menschen unter bestimmten Bedingungen glauben. Mein Glaube spielt dabei keine Rolle.

Männer reißen am 29.03.2016 die Reste eines zerstörten Hauses im Distrikt Dolakha in Nepal ein. Bei dem gewaltigen Erdbeben am 25. April 2015 wurden mehr als 600.000 Häuser in dem Himalaya-Staat zerstört. Foto: Doreen Fiedler/dpa (zum dpa Themenpaket vom 19.04.2016 zum Jahrestag des Erdbebens in Nepal) | Verwendung weltweit© Doreen Fiedler/dpaMänner reißen im März die Reste eines zerstörten Hauses in Nepal ein. Bei dem Erdbeben im April 2015 wurden mehr als 600.000 Häuser zerstört.

Was hat das Erdbeben des vergangen Jahres verändert?

Vor allem politisch hat sich etwas verändert. Die Nepalesen können nicht glauben, dass die ganze Welt ihnen Gelder geschickt hat, und den Repräsentanten des Staates gelingt es nicht, diese Gelder vernünftig einzusetzen. Das ist eine Katastrophe zweiter Ordnung. Der Glaube an die Staatsmacht ist ein weiteres  Mal gesunken. Doch die Religiosität ist weiterhin tief ausgeprägt, bei den Buddhisten, bei den Hindus und bei den alten Völkern mit einer namenlosen Religion, die wir jetzt mal Schamanismus nennen wollen.

Was ist Schamanismus?

Das ist natürlich eine gigantische Frage. Schamanismus ist erstmal ein Etikett, ein Etikett, unter das man alles Mögliche fassen kann, sodass manche Forscher sogar sagen: Es ist ein nutzloses Etikett. Alternative Begriffe für den Schamanen wären „Glaubensheiler“ oder „ritueller Spezialist“. Das sind aber auch wieder Etiketten. Entscheidend ist meiner Ansicht nach, dass die Leute, die man als Schamanen bezeichnet, zumindest in Eurasien und auch in Nordamerika und Südamerika eine Sache gemeinsam haben, nämlich, dass sie zum Wohle ihrer Gemeinschaft ein Wissen besitzen, von dem sie glauben, damit den Menschen nützen zu können. Die entsprechende Aktivität verändert sich von Ort zu Ort, weil die Gesellschaften sich an verschiedenen Orten unterschiedlich begreifen. Es gibt Gegenden, da lebt in jedem Dorf eine andere Ethnie. Und bei den Bergvölkern ist es manchmal so: Sie gehen über einen Hügel und befinden sich plötzlich in einer anderen Sprache, gar Sprachfamilie. Von Deutschland aus müssen sie weit über Persien hinaus reisen, um das zu erleben – es sei denn, Sie gehen zu den Basken. Ich sage: Es gibt ebenso viele Schamanismen, wie es Gruppen gibt, wie es Praktikanten gibt. Das ist die Minimaldefinition.

057_mags-8408-31-24© Michael OppitzMeister Bel Bahadur mit erhobener Erzählhand beim mythischen Vortrag

Ist Schriftlosigkeit eigentlich ein durchgängiges Merkmal von schamanischen Gesellschaften?

Ja, das würde ich sagen. Obwohl es Ausnahmen gibt: In der Mandschurei leben die Schamanen in einer Schriftkultur, haben auch eigene, schriftlich niedergelegte Texte. In Korea und Nordjapan ist es ähnlich. Im Himalaya gibt es auch einige wenige schamanische Praktiker, die lesen können. Sie verwenden die Schrift aber niemals im Zusammenhang ihrer Praxis. Diese wird nach wie vor mündlich weitergegeben. Für diese Völker ist die Trommel das Buch, das kann man in dieser Überspitzung sagen. Mit ihr wird das Wissen sozusagen animiert, im Gedächtnis in Bewegung gesetzt. Aber es ist ein komplett orales Wissen. Erst durch Leute wie mich, die diese Texte aufzeichnen und transkribieren, wird die orale Tradition zu einer schriftlichen.

Es gibt auch keine Exegese bei den Schamanen, schreiben Sie. Die Glaubensheiler denken über ihre eigene Praxis erst nach, wenn sie dazu befragt werden.

Sie haben ein sehr mobiles Wissen, das sich durch die Persönlichkeit des Praktizierenden verändert. Das ist ein Fluidum des Wissens, ein Fluidum der Praxis.

Jeder Novize hat immer zwei Lehrer, auch dadurch kommt Bewegung in die Geschichte.

So ist es. In manchen Gegenden kann es sogar mehr als zwei Lehrer geben. Aber das ist ein wichtiger Punkt: Der Jung-Schamane internalisiert die beiden Variationen eines bestimmten Wissens und macht eine eigene Fassung daraus. Und wenn er älter wird, wird er dann zum Lehrer. Allein durch den einfachen Mechanismus der Weitergabe gibt es eine ständige minimale Veränderung des Grundwissens, eine permanente Transformation.

Wie lautet eigentlich die Erklärung, wenn eine Heilung nicht stattgefunden hat?

Bleibt bei einem Heilungsversuch der Erfolg aus – was wie in der westlichen Medizin, vorkommt – dann wird nicht der Heiler beschuldigt, vielmehr bescheinigt man dem Krankheitsverursacher, also einem Geistwesen, ein ausgeprägtes Täuschungsvermögen. Und es liegt am Schamanen, nun mit noch mehr Raffinesse vorzugehen.

mags-8408-19-21© Michael OppitzSchamanen tanzen um die sogenannte Weltenmatte und suchen nach der verlorengegangenen Patientenseele.

Wie wird man Schamane?

Man wird es nicht. Man wird berufen durch ein Erlebnis, das sich irgendwann im Leben eines Menschen ereignen kann. Der jüngste initiierte Schamane, den ich erlebt habe, war elf Jahre alt, der älteste war über 50. Der damals Elfjährige, Dilman, ist übrigens vor wenigen Tagen gestorben, wie ich soeben durch ein E-Mail erfuhr.

Was sind das für Erlebnisse?

Das sind Irritationen des Körpers oder der Person, oft mit merkwürdigen Traumvisionen verknüpft.  Diese Personen fangen zum Beispiel in bestimmten Situationen an zu zittern.

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Anfangsszene der Dokumentation “Schamanen im Blinden Land” von Michael Oppitz

In Kürze soll bei Arthaus Musik eine DVD-Edition mit der englischen und deutschen Fassung von “Schamanen im Blinden Land”, neueren Kurzfilmen sowie einer CD mit drei vollständigen Ursprungsmythen, gesungen von den Schamanen Bal Bahadur und Bedh Bahadur erscheinen – mit Transkription und Übersetzung.

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Das sieht man auch in Ihrem berühmten Dokumentarfilm „Schamanen im Blinden Land“ von 1980.

Ja, da fängt ein ebenfalls Elfjähriger während einer Zeremonie zu zittern an und die anwesenden Schamanen sagen: auf den müssen wir aufpassen, das könnte einer sein, der berufen wird – man wird berufen von jemandem, der tot ist, wir haben es hier mit einem Reinkarnationssystem zu tun. Das ist übrigens eine meiner Thesen, die ich noch nicht schriftlich festgehalten habe: dass der tibetische Buddhismus die Reinkarnationsvorstellung von den schamanischen Religionen übernommen hat.  Die Tibeter haben auch ein ähnliches System der Probe. Wer in der schamanischen Gesellschaft durch Zittern, merkwürdige Traumbegegnungen oder willentliche Isolation von den Anderen Anzeichen einer Berufung zeigt – von dem nimmt man an, dass ihm das durch einen verstorbenen Schamanen widerfährt, und in einer ausgedehnten Serie von Tests muss herausgefunden werden, ob das zutrifft und wer der Vorgänger war. Das kann ein kurz zuvor, aber auch ein vor mehreren Generationen verstorbener Heiler sein. Einer der Tests besteht darin, dem Prüfling eine Anzahl von Gegenständen vorzulegen, von denen einer dem verstorbenen Vorgänger gehörte. Dieses Objekt muss der Anwärter als das Seine identifizieren, genau wie im buddhistischen Findungsritual.

Wobei viele die Reinkarnation gar nicht wollen, denn Schamane sein ist ein harter Job, den man annehmen muss. Wenn sich herausstellt, dass Du eine Wiedergeburt bist, kannst Du nicht „nein“ sagen. Ich kenne eine Reihe von Schamanen, die mir erzählt haben: „Lieber wäre ich keiner geworden, aber was soll ich machen?“ Man muss sich das vorstellen, die haben alle eine andere Tätigkeit nebenher. Viele sind Bauern und müssen, wenn sie gerufen werden, Nächte lang als Schamane durcharbeiten, manchmal vier Nächte hintereinander. Das zehrt. Wir haben das auch beim Drehen gemerkt – nach zwei, drei Nächten kommt man in so eine Unterwasser-Wahrnehmungssituation, dann wird übrigens die Kamera erst richtig gut, das ist dann wie Traumfilmen.

Wie geht es nach der Findung weiter mit dem angehenden Schamanen?

mags-8105-05-19© Michael OppitzRituelle Geburt auf dem Lebensbaum

Als nächstes kommt die Initiation in einem großen, dreitägigen Fest zu seinen Ehren, in Anwesenheit vieler Schamanen, das sind riesige Volksfeste. Der Initiand muss auf einen Nadelbaum klettern, mit verbundenen Augen, und dort etwa vier Stunden ausharren. Wenn er das hinter sich gebracht hat, geht er in die praktische Lehre, er geht mit einem Meister zu einer ersten Séance. Schamanen gehen niemals von sich aus irgendwohin, sie werden gerufen. Als erstes machen sie eine Diagnose, der oft eine Art Psychoanalyse vorausgeht. Sie sagen anschließend aber nicht: „Du hast eine Leberzirrhose“, sondern etwas wie: „Du hast einem Geist etwas angetan, also tut er Dir etwas an“. Jetzt geht es darum, mit dem Geist, der beleidigt ist, ins Geschäft zu kommen. Der Geist hat dem Kranken eine oder mehrere Seelen geraubt, die müssen jetzt zurückgewonnen werden. Bevor der Schamane sie suchen kann, muss er wissen, wer sie geraubt hat und warum das so ist. Er geht also auf die Suche, aber nicht physisch, er unternimmt vielmehr eine Gedankenreise, eine Suche, die in Form eines Gesanges zahlreiche geographische Orte passiert, bis das Versteck der Seele gefunden ist. Bei der viel zitierten Schamanenreise bleibt der Heiler fest auf dem Boden des Patientenhauses sitzen.

11.000 Verse müssen Schamanen beherrschen, schreiben Sie, sieben bis zehn Jahre dauert die Ausbildung. In dieser Zeit kann man ja Mediziner werden.

Ja, das kann man miteinander vergleichen. Nur die Schamanen pauken nicht Stoff für später, die praktizieren von Anfang an. Das Lernen der Versmassen läuft nach einem einfachen Prinzip ab: Der Schamane singt eine Zeile vor, und der Schüler muss sie nachsingen. Am Anfang kann er das noch nicht, dann summt er nur mit. Er lernt jedoch Schritt um Schritt vom Meister, aus der Werkstatt des Singens. Und irgendwann geht er dann mit dem anderen Meister mit. Gelernt wird durch Machen, es gibt keine Trockenübungen.

Wie oft ist ein Schamane im Einsatz?

Ich würde sagen: hundert Nächte im Jahr.

Und die Séancen finden immer im Haus statt und immer nachts?

Das Hauptgeschäft muss in der Dunkelheit passieren. Es gibt aber auch Aktionen außerhalb des Hauses, auch bei Tag. Wenn böse Kräfte verjagt werden müssen, werden sie etwa in einen Fluss geworfen oder an der Dorfgrenze werden Tiere geopfert. Mein Film zeigt ja einige Blutopfer. Denn das musste ich den Schamanen vorher versprechen, dass der Film im Grunde auch ein Ritual ist – und zur Vollständigkeit eines Rituals gehört ein Blutopfer, das mit gezeigt werden muss. Das habe ich gemacht – und habe sehr viel Ärger mit dem Tierschutz bekommen.

In entscheidenden Situationen wird, wie es im Film heißt, von den Schamanen fiktives Tibetisch gesprochen. Was hat es damit auf sich?

Das ist eine Art rituelle Prestigesprache, die sie im losen Kontakt mit tibetischen Lamas aufgeschnappt haben, aber nicht wirklich beherrschen, so wie Kinder mit breitem Mund Amerikanisch nachahmen. Da wird den Klienten eine Kenntnis vorgespielt, die sie streng genommen nicht haben. Es sei denn, sie murmeln mantras, die sich ebenfalls wie Tibetisch oder Sanskrit anhören und es in verballhornter Weise auch sind.

Bedh Bahadur und Man Bahadur beim Vortrag eines Schöpfungsmythos'© Michael OppitzBedh Bahadur und Man Bahadur beim Vortrag eines Schöpfungsmythos’

Hat der Schamanismus nicht eine Menge mit Entertainment zu tun? Die Frage stellt man sich beim Anschauen des Films: Wie die Schamanen da zuweilen sitzen, eine Zigarette im Mund, den Kopf wiegend und einen Wechselgesang vollführen – das erinnert an eine Jamsession mit John Lee Hooker.

Auf jeden Fall. Die Schamanen haben einen ungeheuren Humor, und gerade Künstler waren von meinem Film immer besonders beeindruckt. Sigmar Polke hat sich krank gelacht. Warum? Weil die Rituale so eine irdische Qualität haben. Die Religionspraxis ist sehr theaterhaft, sehr unterhaltsam. Die Menschen dort haben ja sonst auch nicht viel dergleichen. Mitten im Ritual hat man manchmal das Gefühl, als säßen da Leute zusammen und würden sich Witze erzählen. Dort ist es auch nie leise, es ist meist laut, sogar sehr laut. Das ist nicht wie in der Kirche.

Welche Rolle spielt Alkohol? Die Schamanen in ihrem Film sehen schon manchmal etwas benebelt aus.

Eine große. Die saufen gewaltig, einmal so eine Art Bier, aber auch scharfe Schnäpse, beides wird durcheinander getrunken. Das müssen sie auch tun. Nicht, weil sie es angeboten bekommen, sondern weil die Luft so schlecht ist. Auf kleinstem Raum sitzen mehr als dreißig Leute, die ausdünsten, es gibt ungeheuer viel Rauch, dann sind da noch Tiere, die Luft kannst Du schneiden. Da muss man einfach trinken. Aber ich habe es eigentlich nie erlebt, dass ein Schamane während eines Rituals nicht mehr konnte. Alkohol ist Gesellschaftskitt und auch das Schmieröl der Arbeit. Drogen hingegen gibt es nicht, außer gelegentlich Haschisch.

Joseph Beuys sagte, nachdem er Ihren Film 1980 gesehen hatte: „Diese Schamanen haben praktisch alles bei mir geklaut, wirklich alles.“ Ein toller Satz.

Es ist im Grunde eine Umkehrung der Verhältnisse. Denn der Einfluss des Schamanismus auf Beuys war beträchtlich: Er zeigt sich in seinen frühen Zeichnungen ebenso wie in seinen Aktionen und Auftritten. Ich habe das sehr genau dokumentiert. Der Einfluss manifestierte sich auch in seiner Lektüre, wir haben uns intensiv über die einschlägigen Schriften zum Thema unterhalten. Mein Film war eigentlich die Illustration dessen, was er sich zuvor gedacht und angelesen hatte. Das hat ihn gewaltig bewegt – und er hat die Verhältnisse in einem humoristischen Spruch gedreht. So etwas konnte er gut.

Mit großer Leichtigkeit und einem Lächeln trägt der Schamane Bal Bahadur die „Begrüßung der neun Hexen“ vor (Ausschnitt aus “Schamanen im Blinden Land”).

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Den Film haben Sie mit 500.000 D-Mark für den WDR gedreht. Die Fassung, die Beuys gesehen hat, war mehr als 34 Stunden lang, die im Fernsehen und 2014 auf der Berlinale gezeigte fast vier Stunden. Beim Anschauen fällt auf, dass darin viel gelacht wird. In Abwandlung eines Buchtitels von Paul Veyne könnte man fragen: Glaubten die Schamanen an ihre eigenen Mythen? Sieht man in dem Film nicht eine erstaunlich große Distanz zum eigenen Ritual?

Ich könnte dazu nicht viel sagen, wenn ich nur zum Filmen bei den Magar gewesen wäre. Aber ich war ja ein Jahr zuvor auch schon ohne Kamera dort gewesen. Da gab es auch schon diese Distanz zum eigenen Tun, ohne dass dadurch die eigene Ernsthaftigkeit in Frage gestellt worden wäre. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Da der Ernst einer Situation im Ritual nie ernst ist, war der Unterschied zwischen ernst und unernst, zwischen sakral und profan sozusagen aufgehoben. Wenn wir mit der Kamera dabei waren, gab es sicherlich Situationen, in denen sie sich wie auf der Bühne, auf dem Tablett empfanden und diese Empfindung noch verstärkten. Das verschwand dann aber bald wieder, da Kameramann, Tonfrau und ich komplett integriert waren.

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In Ihrem Buch „Morphologie der Schamanentrommel“ gibt es eine weitere bemerkenswerte Stelle. Sie lassen sich von einem Schamanen seinen Reinkarnationsglauben erklären, er tut es ernsthaft, sagt dann aber „Ob das nun stimmt oder nicht, das weiß ich nicht“ und lacht.

Ja, so war das. Ich bin übrigens fest davon überzeugt, dass diese Einstellung ein sehr gutes Kriterium für die Festigkeit des Glaubens ist: dass man ihn auch in Frage stellen kann. Aber eine Gefährdung der Praxis ist das keinesfalls. Die Gefährdung kommt daher, dass immer mehr Leute das Dorf dauerhaft oder für mehrere Jahre verlassen. Das verringert den Zusammenhalt in der lokalen Gesellschaft und es löst unmerklich die Traditionen auf. Die einen gehen als Migranten, als ausgebeutete Hilfskräfte in die Golfstaaten, die anderen erliegen den Verheißungen der Stadt, etwa Kathmandu, Pokhara oder den wachsenden Städten in der Ebene. In der Ferne lässt sich die Tradition nicht pflegen, sie braucht eine vertraute landschaftliche Aura. Ja, diese Bewegungen und die modernen Kommunikationsmittel bringen die Traditionen ins Wanken.

Humor wird für etwas sehr Kultiviertes gehalten. In Ihrem Film aber zeigen die vermeintlich Unkultivierten, die Menschen ohne Schrift, einen ungemein ausgeprägten Humor.

Ja, und ich würde an die Decke gehen, wenn man ernsthaft sagte, dass die Magar unkultiviert seien. Die sind hochkultiviert, nur ganz anders. Die sind nicht mit Nivea-Creme und Seife kultiviert, die haben keinen Kulturbeutel. Sie haben aber sehr ausgeprägte Umgangsformen, allerdings andere als unsere. Sie kennen zum Beispiel das Wort „Danke“ nicht. Sie sagen auch nicht „Bitte, gib mir!“ Sie sagen „Gib mir!“ und dann bekommen sie es. Manchmal ist das schon eine harte Kultur, an die man sich erst gewöhnen muss.

Der kosmologische Mythos, der am Anfang des Films rezitiert wird, wirkt überaus komplex, dagegen sind, provokativ gesprochen, die griechischen Mythen fast unterkomplex.

Sagen wir es so: Die Mythologie der Magar kann sich neben der griechischen durchaus sehen lassen, sowohl, was ihren Umfang, als auch, was ihren poetischen Reichtum anlangt.

Geschichte der Göttertochter Somarani (Ausschnitt aus dem Film “Schamanen im Blinden Land”)

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Besonders beeindruckend fand ich die Geschichte von dem Himmelsmädchen, das auf die Erde kommt, einen Irdischen heiratet, später zwei verbotene Schachteln öffnet – und plötzlich sind, aus diesen Schachteln heraus, neun Sonnen und Monde in der Welt.

Ja, das ist phantastisch. Das sind Schöpfungsmythen, von denen in jeder Nacht eine bestimmte Anzahl in einer bestimmten Kombination gesungen werden. Beides wird festgelegt durch die Diagnose, die der Schamane stellt. Das Ritual setzt sich dabei zusammen aus Sprache und Aktionen. Es gibt auch keinen festen Altar, Altäre entstehen aus der Situation heraus, mit Schnüren und Schnitzwerk, und werden anschließend auch wieder vernichtet. Aus der Kombination der unterschiedlichen Modulteile kann man auf die Krankheit rückschließen, an der der Patient leidet, gesagt wird es aber nicht. Das hat bei mir endlos lange gedauert, bis ich das kapiert hatte. Es hat auch sehr lange gedauert, bis ich die Gesänge nicht nur aufgezeichnet, sondern auch verstanden habe.

Wie lange haben Sie gebraucht, um die Sprache der Magar zu lernen?

Das kann ich nicht sagen, das war ein Prozess. Ich beherrsche übrigens die Sprache der Texte besser als die Umgangssprache. Und für die Übersetzung habe ich immer Hilfe in Anspruch genommen. Es gibt einen Magar aus dem Dorf, mit dem ich seit vierzig Jahren zusammenarbeite. Es gab ja keine Wörterbücher und keine festgehaltene Grammatik. Inzwischen hat sich ein Linguist dessen angenommen, aber zu meiner Zeit gab es beides noch nicht.

Wie lange waren Sie bei den Magar?

Zwei Jahre durchgehend, dann drei mal drei Monate mit der Kamera.

29-09© Margaret RiglingDie neue und die alte Trommel

Wie hat sich Ihr Interesse auf die Schamanentrommel verlegt?

Die Trommel ist das interessanteste Instrument, das die schamanische Praxis zu bieten hat, weil sich in diesem Gegenstand die gesamte Religion spiegelt. Jede Schamanentrommel ist ein Unikat, das spezifisch für eine Person hergestellt wird. Wenn ein Schamane stirbt, wird die Trommel zerstört, es sei denn, er schenkt sie einem Ethnologen wie mir. Alle Schamanentrommeln, die im Umlauf sind, sind Rahmentrommeln. Der Holzrahmen stammt von einem Baum, der von dem Initianten gesehen wurde. Eine Latte aus diesem Baum wird gebogen, in die Erde gelegt, für drei Tage in die Unterwelt geschickt, bevor sie ans Tageslicht kommt. Und sie hat eine Membran, von einem wilden Tier, das auf spezielle Weise getötet werden muss. Um eine Trommel herzustellen, braucht man also zwei Lebewesen, die ihr Leben lassen müssen, damit die Trommel leben kann. Die Trommel wird als ein Lebewesen aufgefasst, nicht als rein materielles Objekt. Und zwar als ein Individuum, genau wie ihr Besitzer, für den sie speziell hergestellt wurde. Daraus leitet sich auch die Ansicht ab, dass sie als Lebensbegleiter ihres Besitzers verstanden wird. Die Trommel ist also auf der einen Seite ein unwiederbringliches Unikat, eine unaustauschbare Persönlichkeit und als solche in ihrer physischen Gestalt auch erkennbar, auf der anderen Seite sind alle Schamanentrommeln des gesamten euroasiatischen Kontinents, ja sogar bis nach Nordamerika hin, Varianten eines einzigen Grundtypus’. Diese Spannung war es, die mich fasziniert und zu meinen Forschungen angetrieben hat. Jedes Exemplar ist einmalig und zugleich Glied einer endlosen Kette.

Kompakteinführung in die Morphologie der Schamanentrommel

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Was kann die Schamanentrommel alles?

Die Trommel begleitet den Gesang oder sie begleitet den Tanz (hier einige Hörbeispiele). Sie ist Rhythmusgeber für das Metrum des gesungenen Verses oder sie ist Rhythmusgeber für die Tanzschritte. Das ist eine uralte Form der religiösen Praxis, die nachvollziehbar in 3500 Jahre alten sibirischen Felszeichnungen zu sehen ist. Auch im Himalaya ist die Praxis sehr alt, älter als die monotheistischen Religionen. Und mein Versuch war es, zu zeigen, dass es eine Regelmäßigkeit in der Veränderung dieses Instrumentes über große Areale hinweg gibt. Jedes Stück ist individuell und gleichzeitig festlegbar durch seine Form. Ich kann den Herkunftsort von jeder Schamanentrommel bis auf 15 Kilometer genau bestimmen.

Was wiederum Rückschlüsse auf den Schamanismus zulässt: die Tatsache, dass er diese Mannigfaltigkeit zulässt.

Ja.

Wie erklären Sie sich den wiedererkennbaren Grundtypus der Trommel?

Zunächst muss man sich die Trommel als Gegenstand einmal anschauen. Es ist eine geniale Erfindung und es ist eine genial einfache Erfindung. Sie brauchen etwas, das man überall findet: Holz und Tiere. Was nicht überall vorhanden ist, ist Eisen, das aber wurde durch Handel erworben. Die Trommeln sind entweder rund oder oval, je nach lokalem Stil und den Möglichkeiten, die das geschnittene Holz bietet. Der Griff ist entweder nach innen verlegt oder sitzt, bei der zweiseitig bespannten Variante, außen. In Sibirien gibt es nur die einseitig bespannte Trommel, mit einer kleinen Ausnahme, ganz im Nordosten gibt es eine einseitig bespannte mit einem Außengriff, bei den Tschuktschen. Von den Tschuktschen führt der Weg zu den Eskimos, wo sie überall die einseitig bespannte mit Außengriff finden, im gesamten Eisgebiet Nordamerikas, bis nach Grönland, bis fast nach Europa. Die einseitig bespannte Rahmentrommel führt aber auch nach Europa und zwar nach Lappland. Dort ist die schamanische Praxis im 17. Jahrhundert vernichtet worden durch die christliche Religion. Aber es gibt historische Stücke.

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Es muss also einen Austausch gegeben haben.

Ja, das ist meine These: Ohne Austausch kann man sich nicht vorstellen, dass die Schamanentrommel an so vielen Orten und über solch gigantische Areale hinweg immer wieder neu und mit identischem Grundtyp erfunden wurde. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie mehrmals in ähnlicher Weise konzipiert und gebaut wurde und dann von diesen Ausgangspunkten aus sich zu anderen Orten hin ausgebreitet hat. Mit den Wanderungen haben die Veränderungen stattgefunden. Die Transformationstheorie dahinter hat also mit stafettenartigen, räumlichen Bewegungen zu tun. So verhält es sich auch mit den Mythen, übrigens über sprachfamiliäre Grenzen hinweg.

Wie geht der Austausch zwischen Sprachfamilien vor sich?

Ganz einfach, durch Menschen, die mehrere Sprachen beherrschen, auch solche aus mehreren Sprachfamilien. Das finden sie heute noch im Himalaya. Die Gegenthese wäre: es muss eine archetypische Idee geben. Davon halte ich gar nichts. Natürlich denken Menschen überall gleich gut oder gleich schlecht. Für mich hat die Archetypenlehre aber mit Denkfaulheit zu tun. Mir reicht es ja, wenn ich auf einem riesigen räumlichen Feld sehe, dass eine Stetigkeit der Veränderung vorliegt, letztere ist für mich ein besseres Erklärungsmodell. Dieses Modell erlaubt es mir, auf dem Boden der sichtbaren Welt zu bleiben, im Bereich der Evidenz.

Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus

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Michael Oppitz führt einen schamanischen Begrüßungsgesang  vor:

Michael Oppitz war bis zu seiner Emeritierung Professor an der Universität Zürich und Leiter des Zürcher Völkerkundemuseums.

Er schrieb Bücher über die Sozialordnung der Sherpa, die Dreierallianz bei den Magar (“Frau für Fron”) und das Heiratssystem einer Lokalkultur des Himalaya (“Onkels Tochter, keine sonst”). Außerdem verfasste er ein Standardwerk über den Strukturalismus (“Notwendige Beziehungen”) und das mehr als 1200 Seiten umfassende, zweibändige Werk “Morphologie der Schamanentrommel” (2013).

Als er hörte, dass er die Interview-Serie “Nerdalarm” eröffnen soll, sagte er: “Find’ ich gut”.

von Uwe Ebbinghaus erschienen in Blogseminar ein Blog von FAZ.NET.

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