Pop-Anthologie

Charlotte Gainsbourg: „5:55“

Morgens um sechs ist die Welt noch nicht in Ordnung: In Charlotte Gainsbourgs Signatursong „5:55“ ist man ewig gefangen zwischen Traum und Trauma, bis die Musik  vielleicht doch noch Ruhe verheißt. 

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Was um 5.59 Uhr los ist, weiß man ja. Es sind die letzten Sekunden, bevor die Ziffern auf dem Radiowecker umklappen und Sonny & Cher wieder singen „I Got You Babe“. Der Murmeltiertag hat uns, immer gleich, immer wieder.

Wie aber sieht die Welt kurz davor aus, um 5.55 Uhr? „A cinq heures cinquante-cinq /  Awake with open eyes / Adrift upon the night / And miles away from land“, säuselt ein Wind uns ins Ohr. Es ist die Stimme von Charlotte Gainsbourg, so unwirklich wie ein Traum, eingespult in das wie ein Möbiusband rollende Klaviermotiv, getaktet von den watteweichen Beats des Electronica-Duos Air, das Gainsbourg 2006 einen Signatursound schenkte.

Wie ein Youtube-Nutzer treffend kommentiert: „It’s basically an Air song, featuring Charlotte Gainsbourg.“ Ja, es ist diese ewige Flughafenmusik von Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel, die Menschen mit geweiteten Augen am Gate ihres Lebens sitzen und hinter einer Glasscheibe andere einsteigen, abfliegen sehen lässt.

Der Text ist so redundant und fast nichtssagend, dass es schon wieder eine Kunst ist: „A cinq heures cinquante-cinq / Ante meridiem / Too late to end it now / Too early to start again“. Was beenden? Was anfangen? Man weiß es nicht. Wer weiß das schon um 5.55 Uhr? Eben darum geht es ja.

Immerhin etwas Konkreter wird es dann: Kann ich einen neuen Tag beginnen, bevor der alte erledigt ist, sich noch wehrt, abgeschlossen zu werden?, fragt das lyrische Ich. Hier bewegt man sich langsam, aber sicher in Richtung Psychoanalyse: Traumasuche und mögliche Verarbeitung. Hauchzart, weiterhin. Charlotte Gainsbourg hat bei den Aufnahmen angeblich unter einer Decke versteckt gesungen, so schüchtern sei sie gewesen. Wenn das nicht stimmt, ist es hübsch erfunden.

Dann kommt eine Stelle, die rätselhaft bleibt: „Like a beast awaits its fate /  Laid here with time to kill“. Welches wilde Tier erwartet sein Schicksal? In Verbindung mit der nächsten Passage könnte man fast annehmen, der Liedtext formuliere eine Antwort auf Lorcas Stierkampf-Gedicht „La cogida y la muerte“, besser bekannt unter der wiederkehrenden Zeile „A las cinco de la tarde“. Um fünf Uhr nachmittags erwartet den Stier der Tod in der Arena:

A las cinco de la tarde.
¡Ay, qué terribles cinco de la tarde!
¡Eran las cinco en todos los relojes!

Auf allen Uhren ist es bei Lorca „grausame fünf Uhr nachmittags“. Und auch bei Charlotte Gainsbourg endet es grausam. „A cinq heures cinquante-Cinq / Nothing will ever change“, heißt es zum Schluss, und: „On the altar of my thought / I sacrifice myself again and again“. 

Gedankenqualen plagen das schlaflose Ich, Kreisgedanken, deren Fixierung auf die Schnapszahl 5:55 das Lied wirken lässt wie eine Steigerung der schrecklichen Nachmittagsstunde zur noch schrecklicheren Frühmorgenminute, in der „time and space“ stillstehen. 

Die Musik dazu verkörpert die Redundanz, nicht aber den Schrecken des Textes. Ihre Lulle ist es, die den Ängsten der Sängerin zum Trotz vielleicht doch noch Schlaf verheißt, Erholung, Übergang. Und einen ganz neuen Tag, an dem nicht das Murmeltier der Vergangenheit grüßt.

A cinq heures cinquante-cinq
Awake with open eyes
A drift upon the night
And miles away from land
Five fifty five
Five fifty five
 
A cinq heures cinquante-cinq
Ante meridiem
Too late to end it now
Too early to start again
Five fifty five
Five fifty five
 
Soon the morning will arrive
Can I begin another day
Whilst this old day is still alive
Refusing to be put away
Five fifty five

No sleep tonight
Five fifty five
Like a beast awaits its faith
Laid here with time to kill
The very dead of night
Where time and space stand still
Five fifty five
Five fifty five
 
A cinq heures cinquante-cinq
Nothing will ever change
On the altar of my thought
I sacrifice myself again and again and again
Five fifty five
Five fifty five