Pop-Anthologie

Procol Harum: „A Whiter Shade of Pale“

Zwischen Chaucer und Dylan: Über kaum ein Lied ist so viel gerätselt worden wie über Procol Harums „A Whiter Shade of Pale“. Wovon handelt es eigentlich – und wie konnte daraus ein solcher Hit werden?

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Procol Harum 1967

Eine Gruppe, die sich eben erst gefunden hat, ein Song, der ruck-zuck geschrieben, produziert und über Piratensender verbreitet wird, um innerhalb eines Monats den Gipfel der britischen Charts zu erreichen und sich dort sechs Wochen lang auszuruhen – so sollte es laufen. Schneller Ruhm, schnelles Geld, großes Glück.

Manchmal lief es tatsächlich so, in den sechziger oder siebziger Jahren, doch wahrscheinlich hätte niemand darauf gewettet, dass ausgerechnet ein Mängelexemplar wie „A Whiter Shade of Pale“ es auf diese Weise schafft. Die Lyrics ergeben doch überhaupt keinen Sinn! Der Name der Gruppe peinliches Falschlatein! Das Video das dümmste aller Zeiten, wenn nicht das zweite Video womöglich noch dümmer wäre. Der Misserfolg schien garantiert.

Stattdessen: Ein Wunder. Gleich der erste Ton lässt die Mängel hinter sich, man könnte auch sagen: macht sie zu Vorzügen, da sie irgendwie und unerklärbar zu dem Orgelklang passen, der langsam und in ungescheutem Pathos himmelwärts steigt. Die Melodie folgt Bachs „Air auf der G-Saite“ und schlängelt sich als Ohrwurm von maximalem Wiedererkennungswert ins Hirn, noch ehe der Sänger zum ersten Mal den Mund auftut. Ganz klar: Die Instrumentierung macht’s. Und Johann Sebastian. Und der Text, jawohl. 

Wahrscheinlich gab es bis 1967 kaum einen Song, dessen Verse größere Rätsel aufgaben und ausführlicher diskutiert wurden. Immer neue Auslegungen bevölkern das Netz bis heute, fast alle behaupten, dass eine Liebesgeschichte erzählt werde und dass die Schlüsselwörter dies oder jenes bedeuten und sich zu einer Geschichte verbinden. Dabei liegt doch das Verstörende gerade darin, dass „A Whiter Shade of Pale“ keine Geschichte erzählt.

In einem Interview mit dem Musikmagazin „Uncut“ sagt der Songwriter Keith Reid:

„I was trying to conjure a mood… With the ceiling flying away and the room humming harder, I wanted to paint an image of a scene. I wasn’t trying to be mysterious with those images, I was trying to be evocative. I suppose it seems like a decadent scene I’m describing. But I was too young to have experienced any decadence, then. I might have been smoking when I conceived it, but not when I wrote. It was influenced by books, not drugs.“

Wie immer man den Wahrheitsgehalt der beiden letzten Sätze einschätzt, insgesamt trifft diese Selbstdeutung den Kern. Der Song beschwört eine Atmosphäre, keine Handlung, bietet vage Bilder, kein Ziel, wirkt weniger geheimnisvoll als evozierend und anregend, jeder Vers ein Stimulans. Der Gesamteindruck ist sehr wohl „dekadent“; die Begründung des Autors, er sei damals zu jung gewesen, um Dekadenz erfahren zu haben, trägt nicht. Ein bisschen Lektüre von Alice in Wonderland (Rad schlagen! Playing cards!) plus Oscar Wilde (Drinks! Waiter! Society-Rahmen!) inspiriert und tut es auch. Und kleideten sich die Pop-Prinzen in jenem „Summer of Love“ nicht wie zierliche Rokoko-Décadents? Das „Sergeant Pepper“-Cover, zwei Wochen nach „A Whiter Shade of Pale“ veröffentlicht, zeigt es vortrefflich, ebenso Procol Harums kindliches Video.

Von Bild zu Bild, von Szene zu Szene vermittelt die erste Strophe das Gefühl einer sachten Elevation, bis die Decke wegfliegt. Statt der erwarteten himmlischen Offenbarung materialisiert sich dann allerdings bloß der Kellner mit den Durstlöschern auf dem Tablett. In der zweiten Strophe dominieren die keuschen Priesterinnen der Vesta, und da sie unterwegs zur Küste sind und „vestal“ fast wie „vessel“ klingt, beginnt ein hehres Meer zu wogen. Der Müller hingegen, der mal wieder eine Geschichte erzählt, ist Chaucers sehr unkeuschen Erzählungen entsprungen. In den letzten Zeilen wird das Sehen mit dem Nicht-Sehen gleichgesetzt: ein passend benebelnder Schlusspunkt. Alle Bilder sind offen, das Ganze ein typischer Pop-Verschnitt von Anspielungen und Zitatfetzen, ähnlich wie Dylans „Desolation Row“, erschienen 1965.

Keith Reid war 21, als er Anfang 1967 vier Strophen plus Chorus schrieb, den Komponisten und Sänger Gary Brooker traf und den Keyboard-Spieler Matthew Fisher, der an der Hammond-Orgel für den entscheidenden Klang sorgte. David Knights (Bass) und Ray Royer (Gitarre) kamen dazu, als Sessiondrummer wurde Bill Eyden vom Produzenten Denny Cordell engagiert. Für ihre neue Band Procol Harum sollte es die erste Single werden, aufgenommen in einem für drei Stunden gemieteten Studio, wo zwei Takes entstanden, abgemischt in Mono – aus heutiger Sicht kommen einem die Tränen. Von den vier Strophen wurden zwei gestrichen, und zu dieser Entscheidung kann man der Gruppe – oder dem Produzenten? – nur gratulieren. Auf dem schmalen Grat zwischen Sinn und Unsinn, Logik und Beliebigkeit ist schwer zu balancieren, und wird der Song zu lang, gedeiht die Pflanze Überdruss. „A Whiter Shade of Pale“ schafft die perfekte Harmonie der Teile und bezaubert und verwirrt immer noch. What does it mean?, fragten und fragen die Hörer. Just a mood, sagt Keith Reid. Relax and enjoy.

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„A Whiter Shade of Pale“

We skipped the light fandango
Turned cartwheels ’cross the floor
I was feelin’ kinda seasick
But the crowd called out for more
The room was humming harder
As the ceiling flew away
When we called out for another drink
The waiter brought a tray

And so it was that later
As the miller told his tale
That her face, at first just ghostly
Turned a whiter shade of pale

She said there is no reason
And the truth is plain to see
But I wandered through my playing cards
And would not let her be
One of sixteen vestal virgins
Who were leaving for the coast
And although my eyes were open
They might just as well’ve been closed

And so it was that later…