Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Praxissemester an der Schule: Und plötzlich bin ich doch überfordert

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Warum tut man sich das an – Lehrer werden? Ist Schule wirklich so schlimm? Im Praxissemester vor dem Referendariat stellt sich diese Frage mit Nachdruck. Erlebnisbericht eines Lehramtskandidaten. 

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© Britta Pedersen / dpaErleichterung, wenn das Horrorszenario in der Klasse ausbleibt

Montagmorgen, 8 Uhr – eine für die meisten Studierenden untypische Arbeitszeit: Ich sitze mit 23 Jahren wieder auf der Schulbank. Nicht weil ich eine Menge Extrarunden im Schulsystem gedreht habe, sondern weil ich auf die andere Seite im Klassenraum will, nämlich hinters Pult. Seit acht Semestern studiere ich Deutsch und Sozialwissenschaften fürs Gymnasiallehramt und befinde mich im Praxissemester kurz vorm Eintritt ins Referendariat. Ein knappes halbes Jahr werde ich nun wieder eine Schule besuchen. Mit dem Praxissemester sollen Studierende mehr auf den Schulalltag vorbereitet werden. Eine sinnvolle Entwicklung, denn nicht wenige Junglehrer berichten von einem Praxisschock zu Beginn des Berufslebens. Das Praktikum erlebt man in einem geschützten Raum. Anders als im Referendariat werden die zwei Unterrichtsbesuche nicht bewertet. Es folgt lediglich ein Feedback-Gespräch, in dem auch die Frage gestellt wird: Wollen Sie den Beruf tatsächlich ausüben? Wer die Frage mit „Nein“ beantwortet, muss sich mit seinem Lehramts-Master anderweitig orientieren.

Endlich nah am Traumberuf, endlich direkten Kontakt zu Schülern. Gerade letztere werden ständig schon fast als das personifiziertes Böse dargestellt, wenn man über den Lehrerberuf redet. „Warum tut man es sich heute noch an, Lehrer zu werden“, schallt die apokalyptische Frage bei Familientreffen oft aus allen Richtungen. Der Lehrerberuf wird als nervenaufreibend angesehen, als eine dauerhafte Konfrontation mit vermeintlich respektlosen Schülern – vor allem im ruhrpöttischem Duisburg. Sie könnten sich nicht benehmen, seien vorlaut und ohnehin wüssten sie nicht mal die einfachsten Sachen, keifen Schwarzseher, die nicht selten seit Jahrzehnten kein Schulgebäude mehr von innen gesehen haben.

Ein Spagat in mehrere Richtungen

Von meinem Tisch im hinteren Teil des Klassenzimmers aus habe ich einen guten Überblick über die sechste Klasse eines Duisburger Gymnasiums, die ich im Fach Deutsch begleite. 27 Schüler lernen dort gemeinsam. Durch meinen Kopf schweifen derweil Erinnerungen an meine eigene Schulzeit. Unsere Klasse war schlimm und schwankte zwischen Lethargie an guten – und Chaos an schlechten Tagen. Ein Horrorszenario für Lehrer, das ich aber bisher an keiner meiner Praktikumsschulen erlebt habe – unabhängig von Schulform oder Einzugsgebiet. So auch in der sechsten Klasse des Innenstadt-Gymnasiums, an dem ich mein Praxissemester absolviere: Gelegentliche Tuschelein mit dem Sitznachbarn und kindliches Gekicher sind das Schlimmste, was sich die Schüler hier zu Schulden kommen lassen. Ruhe kehrt schnell ein, wenn die Lehrkraft und ich entschlossen vor der Klasse stehen und ihr mahnende Blicke zuwerfen. Unterrichtsstörungen begegne ich hier deutlich stimmschonender als an einer Gesamtschule in einem Problemstadtteil, in dem ich eines meiner ersten Praktika gemacht habe. Mein Idealismus ist aber doch zu stark ausgeprägt, um im Referendariat die Flucht an ein gut betuchtes Gymnasium in der Hoffnung auf ein stressfreies Dasein anzustreben.

© dpaFür theoriebasierte Reflexion des Schulalltags bleibt später im Beruf oft nicht mehr viel Zeit

Der Fokus des Praxissemesters liegt – anders als im Referendariat, wo das Unterrichten im Vordergrund steht – eigentlich in der so genannten theoriebasierten Reflexion des Schulalltages. In drei Studienprojekten sollen Praxiserfahrungen wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Ich schaue mir zum Beispiel Unterrichtsmaterialien einer Politiklehrerin an und analysiere, ob sie dem Kontroversitätsgebot entsprechen, also die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Andere Studierende beschäftigen sich in ihren Studienprojekten zum Beispiel mit Unterrichtseinstiegen oder sprachsensiblem Unterricht. So sehr ich den Anspruch, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, gutheiße – schnell merke ich, dass es mich vor die Klasse zieht. Auch wenn das Lehramtsstudium eine akademische Ausbildung ist: Insgeheim wünsche ich mir, dass das Unterrichten mehr ins Zentrum rückt. Auf der Zielgeraden des Studiums brennt es mir unter den Nägeln, eigenständig zu unterrichten, sich auszuprobieren und Schülern dabei zu helfen, Themen zu verstehen und sie dafür zu faszinieren.

An meiner Schule gibt es für Praxissemester-Studierende Mentoren, deren Unterricht man begleitet und die mit Tipps zur Seite stehen. Dieses Glück haben nicht alle meiner Kommilitonen. Viele verbringen die knapp fünf Monate ausschließlich mit dem Hospitieren. Ich darf in meinen beiden Fächern je eine Unterrichtsreihe übernehmen – eine gute Gelegenheit, in die Rolle des Lehrers zu schlüpfen. Andererseits habe ich mir damit eine zusätzliche Belastung auferlegt. Statt selbständig zu unterrichten, sollen wir ja eigentlich an unseren Studienprojekten arbeiten. Außerdem ist die Schule, an der ich ungefähr 15 Stunden pro Woche verbringe, nicht der einzige Lernort im Praxissemester: Zusätzlich müssen Studierende begleitende Seminare in der Universität und im Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung besuchen. Nebenbei arbeiten zu gehen, ist schwierig – aber für einen Großteil der Studierenden notwendig, auch für mich.

Die größte Bestätigung

Ich stolpere beladen mit Schulbüchern vom Klassenraum in den Redaktionsraum der Studierendenzeitung akduell, bei der ich ebenfalls arbeite. Eine wirkliche Mittagspause habe ich nie. Die Straßenbahn funktioniere ich zum schlecht klimatisierten mobilen Büro um, damit ich nebenbei Kleinigkeiten für die kommenden Unterrichtsstunden vorbereiten kann. Nebenbei knabbere ich an einem Müsliriegel – in der Schule beendete der Gong die Pause, ehe ich die Orange überhaupt geschält hatte. Die Arbeit an den Studienprojekten verschiebt sich oft in den späten Nachmittag. Einige Studierende schaffen aber auch das nicht. Aufgrund der zahlreichen Belastungen im Praxissemester haben sie einfach keine Kapazitäten mehr dafür. Zeit ist während des Praktikums das wertvollste Gut. Nicht wenige lassen hunderte Umfragebögen von Freunden statt von Schülern ausfüllen, interviewen sich selbst anstelle von Fachlehrern und fälschen die Ergebnisse ihrer Projekte. Im Praxissemester werden moralische Grenzen genauso überschritten wie Belastungsgrenzen. In Zukunft wird die Anzahl der Studienprojekte aber reduziert – eine entlastende Entscheidung, die mehr Freiraum ermöglicht.

Welche Unterrichtsmaterialien sind geeignet?

Gerade die Unterrichtsvorbereitung frisst Zeit. In früheren Praktika stand ich natürlich auch schon vor Schulklassen und habe unterrichtet. Doch über mehrere Stunden hinweg zu planen und eine Unterrichtsreihe zu konzipieren, bedeutet eine Menge Arbeit – gerade für einen Junglehrer, der noch keinen großen Materialkorpus aufgebaut hat. Ich möchte den Schülern nicht einfach Texte aus dem Buch vorsetzen und sie mit Monologen berieseln. Das Zeitalter der Nürnberger-Trichter-Didaktik ist aus guten Gründen vorbei. Lernen auf Augenhöhe und das Ziehen am selben Strang weichen das hierarchische Gefälle im Klassenzimmer auf. Mit Anfang 20 klafft keine allzu große Alterslücke zwischen mir und den Schülern des Sozialwissenschafts-Kurses in der Jahrgangsstufe 11. Die Sorge, nicht als Lehrkraft ernst genommen zu werden, bewahrheitet sich glücklicherweise nicht.

Garniert mit aktuellen Bezügen beschäftigen wir uns mit den Facetten sozialer Ungleichheit. Den großen Wissensverfall kann ich nicht finden. Selbstverständlich fragt man sich, in welcher von Sozialen Medien und Nachrichten abgeschotteten Welt jener Schüler lebt, an dem die Existenz des SPD-Politikers Martin Schulz vorbeigegangen ist. Aber das ist auch schon der intellektuelle Tiefpunkt. Zumindest an meiner Schule. Ich habe das Glück, in einem lebhaften und diskussionsfreudigen Kurs unterrichten zu dürfen. Kommilitonen, die an Schulen in sozial schwachen Gegenden ihr Praxissemester absolvieren, berichten hingegen schon von einer ausgeprägten Null-Bock-Haltung der Schüler und geringem Allgemeinwissen. Kontroverse Debatten über Theorien, aber auch über Landes- und Bundespolitik, seien dort nur schwer umzusetzen – anders in meinem Kurs. Inhalte, die in der Uni noch theoretischer Natur waren, bekommen nun endlich ein praktisch anwendbares Antlitz. Das Studium hat mich dafür sensibilisiert, darauf zu achten, dass die Schüler interessiert sind und welche Unterrichtsmaterialien überhaupt geeignet sind. Moderierend dabei zuzusehen, wie die Schüler das Gelernte in völliger Selbstverständlichkeit in einer kontroversen und auch gerne mal hitzigen Diskussion anwenden, ist die größte Bestätigung dafür, dass die Stunden der Mehrarbeit sinnvoll genutzt waren.

Ungenügende Vorbereitung

Es kann aber auch anders zugehen. Jede Lerngruppe ist anders. Auch im Studium wird betont, wie wichtig der Umgang mit Heterogenität im Klassenzimmer ist. Konkrete Empfehlungen, wie man Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf helfen kann, erfuhr ich bis dato allerdings nicht. Nun sitzt unter den 25 Fünftklässlern, die ich für ein paar Stunden im Fach Politik unterrichten darf, eine Schülerin mit Lernbehinderung. Sie wird von einer Integrationshelferin begleitet, die sie bei der Bearbeitung von Aufgaben unterstützt. Alleine schafft sie es nicht, ihr Leistungsniveau liegt weit unter dem ihrer Mitschüler – und ich bin überfordert, wie ich mit ihr umgehen soll. Ich versuche, der Schülerin während der Einzelarbeitsphase zu helfen. Trotzdem habe ich einen gravierenden Fehler gemacht: Ich habe nur eine Version des Arbeitsmaterials erstellt. Dabei ist es die Aufgabe einer Lehrkraft, für jedes Kind eine gute Lernatmosphäre zu schaffen. Und dazu gehört auch, mehrere Arbeitsblätter innerhalb einer Lerngruppe anzufertigen, um den unterschiedlichen Leistungsständen der Schüler gerecht zu werden – Binnendifferenzierung heißt das Zauberwort.

Lehrer stehen vor großen Herausforderungen wie der Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher sowie der Inklusion. Konzepte dafür gibt es zwar – doch habe ich nicht den Eindruck, durch mein Studium gut darauf vorbereitet zu sein. Der Anteil dessen ist bestenfalls gering, oft aber überhaupt nicht vorhanden. Das Praxissemester offenbart mir: Es besteht enormer Handlungsbedarf. Am eigenen Leib spüre ich, dass angehende Lehrer vor eine Aufgabe gesetzt werden, auf die sie – wenn überhaupt – nur rudimentär vorbereitet sind.

Die Frage im Unterrichtsbesuch, ob ich Lehrer werden will, kann ich nach meinem halben Jahr Schulalltag mit einem lauten “Ja” beantworten. Trotzdem kehre ich mit der Hoffnung an die Universität zurück, noch ein paar wertvolle Handreichungen für den inklusiven Unterricht mit auf den Weg zu bekommen. Andernfalls steht eine lange Zeit des Selbststudiums an, ehe ich mich tatsächlich auf den Start ins Referendariat vorbereitet fühle. Learning by doing ist da vielleicht nicht die beste Methode. Als Lehrkraft trägt man große Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und allen voran gegenüber den Schülern. Und die sind garantiert nicht das Problem am Lehrerberuf. Die Strukturen sind es.