Für einen Tag durfte ich mich wie Reinhold Messner fühlen. Frei. Ungebunden. Im Alleingang auf die Gipfel. Ohne Zuhilfenahme von Hilfsmitteln, im puristischen Alpinstil eben. Ohne den Aufwand einer Expeditionslogistik. Ja, denn so fühlt es sich normalerweise an, wenn meine Frau, unser 20 Monate alter Sohn Elias und ich im Hochgebirge unterwegs sind, und wir für den Kleinen Cracker, Früchte, Brot, Käse, Trinkflasche, Sonnenhut, Sonnencreme, Strumpfhose, Hose zum Wechseln, T-Shirt zum Wechseln, Fleece, Windeln und Regenjacke einpacken und eine Sonnenbrille, die er ohnehin niemals aufsetzt. Selbstredend bin ich dabei in Personalunion Gipfelaspirant und Basislager-Sherpa, schleppe genannte Utensilien wie ein Yak zwischen Baumgrenze und Gletscherseen und natürlich auch wieder zurück, da er die meisten Nahrungsmittel in der Höhe sowieso verschmäht.
Was hatte sich mir in der vergangenen Woche also eine Chance eröffnet, als mir meine Frau mitteilte, wegen ihrer Erkältung an diesem Tage nichts unternehmen zu können und doch lieber mit Elias im Tal bleiben zu wollen. Hosianna, eine argumentative Steilvorlage, um mit gutem Gewissen einen Ego-Trip ins Gebirge zu unternehmen. Ganz alleine! Ohne Vorräte für die nächsten drei Jahre, nur mein kleiner Rucksack und ich. Herrlich! Das Kind mitnehmen? Wäre doch unverantwortlich, was, wenn ich mir einen Fuß bräche, und der Kleine alleine auf sich gestellt plötzlich dort oben ausharren müsste? Nein, nein, das lassen wir mal lieber sein. Die Fakten sprachen definitiv für meinen Alleingang, und der elterlichen Vernunft soll man nicht widersprechen.
Vom Mölltal im österreichischen Kärnten stieg ich über die Nossberger Hütte und die Niedere Gradenscharte auf 2800 Metern Seehöhe zur Lienzer Hütte im Osttiroler Debanttal. Die schwere „Deuter“-Trage hatte ich zuhause gelassen, ebenso wie die schweren Gedanken, die sonst permanent beim Kind hinten in der Trage lagern: Ist dem Kleinen zu kalt? Warum schläft er so lange? Schadet ihm die Höhe? Einfach nur steigen, dem inneren Trott folgen, Alpenrosen anstarren, an vereisten Bergseen hocken und Murmeltiere erschrecken. Herrlich! Aber wie es so ist, hängen die Gedanken dann doch irgendwann wieder beim Kind: Wäre das nicht auch nett für den Kleinen hier? Und: Passen Kleinkinder und Hochgebirge überhaupt zusammen? Schwierige Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe – und die mir auch an diesem Tag wieder ins Bewusstsein rückte.
Wenige Meter unterhalb der drahtseilversicherten Scharte stieg mir ein Vater mit seinem schätzungsweise drei Jahre alten Sohn entgegen. Der Vater sah aus wie ein Bergführer oder wie Leute, die eben aussehen wollen wie ein Bergführer. Teure Funktionskleidung, die von „Mammut“, Gletscherbrille, sonnengebräunter Skilehrer-Teint. Der Sohn hockte lässig und entspannt auf den Schultern, während sich der Vater eher wie eine alte Dampfzahnradbahn am steilsten Streckenabschnitt den Berg hinauf quälte. Also doch kein Bergführer. Die beiden hätten ein tolles Paar für den Katalog „Unverantwortlich, aber größtmöglich cool“ abgegeben. Weiter unten schleppte ein Vater, im normalen Leben wohl eher couch potatoe denn Spitzenbergsteiger, seine vielleicht vier Jahre alte Tochter in einer Trage den Hang hinauf, schwitzend, schnaufend, schlecht gelaunt statt freundlich grüßend. Kurz darauf schob eine Mutter ihren sieben oder acht Jahre alten Sohn mit der flachen Hand unterm Hintern voran, und der Junge sah nicht so aus, als wolle er dem Geröllhang noch einen Höhenmeter abtrotzen. Ist das noch kindgerecht oder schon unverantwortlich?
Die Frage treibt mich um, seit wir mit dem kleinen Elias in die Berge fahren. Wahrscheinlich muss man sich selbst gegenüber so ehrlich sein und zugeben, dass es geeignetere Reiseorte für Klein- und Kleinstkinder gibt als alpine Regionen. Natürliche Strände, wo die Kinder buddeln können, und künstliche Badelandschaften zum Beispiel, wo sie in lustig-bunten Rutschen dem Wellental entgegen schlittern. Aber was nutzt es dem Nachwuchs, wenn der Vater wegen schlechter Laune im Spaßbad kurz vorm Amoklauf steht, weil er die ganze fritten- und chlorgeruchgeschwängerte Umgebung selbst unter Ausreizung sämtlicher Toleranzspeicher nicht eine Sekunde ertragen kann? Oder ihm der Bissen am Cluburlaub-Massenspeisungsbuffet im Hals stecken bleiben würde, so dass sich die Abneigung schon in bloßem Gedanken als psychologische Schmierinfektion in eine ernsthaft-somatische Magen-Darm-Erkrankung transformiert? Die gute Laune wäre ohnehin nur Fiktion, und aus dem Spaß- würde schnell ein Hassbad. Dieser Preis wäre selbst fürs Kindeswohl zu hoch.
Also fuhren wir im vergangenen Jahr in die Berge, obwohl der Kleine gerade einmal ein Dreivierteljahr auf dem Buckel hatte – und dieses Jahr wieder. Natürlich beherzigten wir die Regeln der Anpassung, schraubten unser Tourenprogramm bis zur Unkenntlichkeit auf das Mindestmaß herunter und sorgten für eine langsame Höhenakklimatisierung. Für Kleinstkinder sollte bei 2000 Höhenmetern Schluss sein, dort oben nimmt der Mensch in etwa so viel Sauerstoff im Blut auf wie in den künstlich erzeugten Druckverhältnissen im Flugzeug. Auch sollten sie nicht länger als vier Stunden am Tag bewegungsunfähig in der Trage sitzen, immer genügend trinken und vor der Sonne und Kälte geschützt sein. Hundertprozentig vernünftig haben wir uns damals nicht verhalten: Als wir Elias einmal auf 2500 Höhenmeter in die hochalpine Region mitnahmen, gefiel uns nach einer Zeit sein Allgemeinzustand nicht wirklich, er wirkte müder und passiver als sonst. Also stiegen wir sofort ab. Wären wir gleich besser in niedrigeren Gefilden geblieben. Passiert ist nichts, aber schön war anders.
Ein solcher Fehler ist uns nicht mehr passiert. Mittlerweile ist Elias mit seinen 20 Monaten ohnehin stabil genug fürs Hochgebirge. Kleinkinder wie er können bei entsprechender sorgfältiger Höhenanpassung bis zur 2500- oder (bei optimalen Wetterbedingungen) gar bis zur 3000-Meter-Marke aufsteigen, allerdings müssen Eltern unbedingt auf die Hitze und Kälte achten. Das Kind kühlt unheimlich schnell aus oder überhitzt. Solange Elias begierig in der Landschaft herumschaut und mit den Murmeltieren schäkert, kein Problem. Während er schläft, kontrollieren wir aber häufiger seinen Allgemeinzustand, sorgen zwischendrin für ausreichend Pausen und Abwechslung beim langem Sitzen in der Trage. Und für spannende Pausen in Alpenvereinshütten oder Almen, die was für Kinder bieten, wie Spielgeräte, Alpakas im Garten, oder Bäche vor der Tür, wo sich Staudämme bauen lassen. Das Hochgebirge ist eine abwechslungsreiche Spielwiese voller Kraxeleien und Aktivitätsangeboten – schöne Aussichten und Panoramen interessieren Kinder natürlich nicht.
Letztlich ist am wichtigsten, dass die Eltern kinderfreundliche Touren planen, die deutlich unterhalb ihrer eigenen Leistungsgrenze angesiedelt sind, damit immer Kraftreserven und genügend Erfahrung mit im Rucksack sind. Und dass die Touren insgesamt nicht länger als vier, fünf Stunden dauern und schnelle Abstiege jederzeit möglich sind. Über die Niedere Gradenscharte hätte ich Elias also locker mitnehmen können, über den Stüdlgrat am Großglockner, eine mittelschwere Kletterei, allerdings natürlich nicht. Wenn man das beherzigt, lassen sich die Interessen der Eltern mit denen der Kinder einigermaßen unter einen Hut bekommen. Nicht immer und nicht perfekt. Aber einigermaßen harmonisch. So harmonisch, wie der Besuch im Spaßbad niemals sein könnte. Dann schon lieber Murmeltiere erschrecken!