Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Meine, deine, unsere Sachen

© Picture AllianceAuf einem Ohr hört man genug: Kinder sind Experten im Teilen.

Auf unseren Dachboden steigen zu müssen, kommt auf meiner Liste zu vermeidender Familienaufgaben noch vor Spülmaschine ausräumen und Wäsche sortieren, knapp hinter Kaugummi aus dem Papierkorb kratzen. Im Spätsommer rückt der Dachboden sogar auf Platz 1. Dann ist es da oben heiß und stickig, es riecht nach alten Kleidern, vor allem kann hinter jeder Kiste, jedem Dachbalken ein Wespennest hängen. Ein bewohntes. Wenn ich also tatsächlich im Spätsommer die Dachbodentreppe herunterklappe (und mir dabei ein Dutzend Fluginsekten-Leichen ins Gesicht fallen), dann mach ich das nur aus einem einzigen Grund: wegen des Geldes.

Dort oben lagert nämlich, in Kisten, Koffern und Plastiktüten verpackt, ein kleines Vermögen. Gewaschen, gefaltet und sortiert nach Größen, Saison und Anwendungszweck. „98/104“, „110/116“, „122/128“, „Kinderschuhe bis Gr. 30“, „Winterkleidung“ und so weiter. Meine Frau verwaltet dieses Vermögen, bildet regelmäßig neue Portfolios („130/140“ oder „Wandern/Sport“) und initiiert Vermögensumschichtungen, wenn ein Kind eine neue Kleidergröße hat. Begabungsgemäß beschränke ich mich dabei auf einfache Transport- und Handlanger-Dienste, andernfalls gäbe es auf dem Dachboden nur zwei große Müllsäcke: „alte Kinderkleider“ und „alte Kinderkleider – wird noch gebraucht“.

Warten auf ihren erneuten Einsatz: die Kleider der älteren Geschwister

Seit der Erfindung der Mehrkindfamilie – also schon sehr lange – ist das Auftragen von Kinderkleidern eine fest etablierte familiäre Disziplin, die früher offen, inzwischen eher verschämt praktiziert wird. Denn das Wort „auftragen“ ist leider aus der Mode gekommen (im Gegensatz zu Second-Hand-Kinderläden und Flohmärkten). Dabei bezeichnet das Wort eine der besten Nachhaltigkeitsstrategien, die Familien – aber auch jedem anderen Konsumentenhaushalt – zur Verfügung steht. Der Duden definiert „auftragen“ so: ein Kleidungsstück so lange tragen, bis es völlig zerschlissen ist. So weit gehen wir bei uns nicht, aber ich arbeite daran. Ich finde, man muss keine neuen Kinderjeans mit Löchern kaufen, wenn die Löcher auch so kommen. Und shabby chic kriegt man auch hin, wenn jüngere Kinder ihre Möbel von den älteren übernehmen.

Der Vorteil der Mehrkindfamilie ist tatsächlich, dass sie die Abschreibungsdauer von Kleidern, Spielsachen, Büchern, Möbeln deutlich erhöhen kann. Besonders wenn man – wie bei uns mit drei Mädchen– auf Geschlechtsdifferenzierung verzichten kann: Pinkfarbene Unterhosen mit Prinzessinnen und Einhörnern können so meist ohne Widerstände weitergereicht werden. Bis sie nur noch in die Restmülltonne passen. Wenn irgendwo ein Nachhaltigkeitssiegel draufgeklebt werden sollte, dann bitteschön auf die staubigen Kisten, Koffer und Tüten auf unserem Dachboden.

Sicher, es gibt auch die oben erwähnten Second-Hand-Kinderkleider, gut erhaltene Einzelstücke, bei denen die verkaufenden Mütter die Lippen zusammenpressen, wenn man mit ihnen um den Preis feilschen will. Aber diese Second Hand Kleider vom Flohmarkt oder aus dem Laden oder von Ebay (oder von wohlmeinenden Freunden) sind in Wirklichkeit Neuware. Wirklich alt ist nur, was in der eigenen Familie schon mal getragen wurde. Das hat psychologische Gründe. „Daran erinnere ich mich noch“, sagt die Elfjährige zur Vierjährigen, der ich gerade ein „neues“ Kleid in der neuen Kleidergröße anziehe. Die Vierjährige braucht etwas Zeit, um diese widersprüchlichen Aussagen zu verarbeiten: Ein „neues Kleid“, das schon die ältere Schwester getragen hat! Dann schaut sie an sich herunter und sagt stolz: „Das ist jetzt meins, das ist jetzt meins!“ Glück gehabt! Es klingt fast so, als hätte sie noch „Ätsch“ sagen wollen. Das hätte auch anders ausgehen können. Die ältere Schwester schweigt – sie weiß, dass sie als Kleidergrößen-Pionierin immer im Vorteil ist und die meiste Neuware bekommt.

Das Eigentum an den Sachen und die Individualität – das klingt wie eine Philosophie-Hausarbeit, ist aber das unterschwellige Grundproblem der familiären Sharing-Economy: Ist das Kleid jetzt wirklich das Kleid der Jüngsten, auch wenn Oma es mal der Ältesten geschenkt hat? Wem gehören die Playmobil-Pferde, wenn alle drei Kinder die Herde zu verschiedenen Zeiten bestückt haben? Wer darf ab wann ungestraft („ohne fragen“) mit welcher Puppe spielen? Wieso gehen Eltern so selbstverständlich davon aus, dass Geschwisterkinder ihre Habe miteinander teilen oder abgeben müssen beziehungsweise die abgelegten Kleider und Spiele und Figuren der Älteren übernehmen sollen? Vor allem: Was tun, wenn die Jüngste – wie bei uns – Rosa als Kleiderfarbe total doof findet? Ist nicht jeder Mensch einzigartig?

An dieser Stelle wird es Zeit, den Bogen zum großen Ganzen zu spannen. Zur Politik, zum Planeten, zur Menschheit. Denn was unsere Vierjährige da gerade lernt, müssen auch wir Erwachsene endlich akzeptieren. (Und zwar schnell, sonst braucht sich die nächste Generation über Kindererziehung keine Gedanken mehr zu machen):
1. Knappe Ressourcen – in der Familie wie in der Welt – lassen sich nicht nach Lust und Laune oder bei Bedarf vervielfachen. Sie lassen sich nur effizienter nutzen.
2. Auch andere Menschen wollen an Ressourcen teilhaben. (Weltweit sind das über 7,6 Milliarden Menschen, um es mal für Erwachsene verständlich zu machen).
3. „Meins“ und „Deins“ sind verhandelbare, zeitabhängige Vereinbarungen zwischen Menschen, das Ergebnis von Machtverteilung. Keine Naturgesetze, nicht gottgegeben. Kinder wissen das noch, Erwachsene vergessen oder verdrängen das.
4. Individualität hängt nicht davon ab, ob ich eine Ressource gemeinschaftlich nutze oder exklusiv, ob ich sie immer zur Verfügung habe oder nur eine Zeit lang. (Auch im Kleid der Ältesten würde ich unsere Jüngste nie mit der Schwester verwechseln).

So weit die Theorie – es gibt da nur ein Problem, sowohl im globalen Kontext als auch im Familienalltag: Es fehlen in der Regel die Vorbilder. Kinder erkennen schnell, ob Erwachsene tatsächlich teilen, ob sie wirklich Ressourcen gemeinsam nutzen, ob sie persönliche Eigentumsansprüche hintanstellen, auf die „Selbstverwirklichung“ in den Dingen verzichten – oder ob sie nur ihre elterliche Macht einsetzen, um Schwächere zu einem kooperativeren Verhalten zu drängen: „Ihr könnt doch beide mit den Playmobil-Pferden spielen! Die gehören nicht nur einem Kind!“ Fakt ist: Die Sozialisation in ein strenges „Meins“ und „Deins“ findet unabhängig von solch andersklingenden Predigten der Eltern statt. Und sie ist vollständig. Denn irgendwann durchschauen Kinder die Ausreden der Erwachsenen.

Natürlich ahnen die Erwachsenen, dass auch sie teilen könnten. Autos zum Beispiel. Teilen müssten, wenn sie diesen Planeten retten wollen. Aber sie haben sich zu bequem eingerichtet, um das heilige Band zwischen der eigenen Person und den Dingen zu zerschneiden.

Meine Lieblingsausrede zum Beispiel, um meinen Computer und mein Tablet nicht teilen zu müssen, sind „Computerviren und Hacker“. Die könnten sich in die Elektronik schleichen, wenn ich nicht immer aufpasse. Und das kann ich nur, wenn ich meine Elektronik nicht in andere Hände gebe. Die Ausrede funktioniert bei den Kindern. Noch. Meiner Frau habe ich zu Weihnachten ein eigenes Tablet geschenkt, um Ruhe zu haben. Die Kinder bekommen ab und zu mein altes Tablet. Wir haben also jetzt drei Tablets, einen PC und zwei Laptops in der Familie. Auf dem Dachboden steht aber noch mehr, in Kisten mit der Aufschrift „alte Computer/Laptops“ und „alte Kabel“. Irgendwann hol‘ ich die runter. Für die Kinder. Zum Auftragen.