Eltern sind darauf programmiert, ihre Kinder toll zu finden. Sie können gar nicht anders, als sie ständig zu bewundern und jede neue Fähigkeit zu feiern, als sei es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass ein Kind sie erwirbt (und dann gleich so ausgesprochen perfekt beherrscht, nicht wahr?). Und so verwundert es nicht, dass auch mein Mann und ich große Fans unserer Kinder sind. Unser vierjähriger Sohn Ben ist, wie wir finden, ein aufgewecktes, empathisches, lustiges Kind. Ein echter Goldschatz. Außer manchmal. Da wird er zum Inferno.
Der Wutanfall kommt meistens aus heiterem Himmel, die Auslöser sind vielfältig. Ben muss zum Beispiel den Fernseher nach zwei Folgen „Dino-Zug“ (fragen Sie nicht) ausmachen. Es spielt keine Rolle, dass er weiß, dass er immer nur zwei Folgen gucken darf. Oder er muss sich die Schuhe anziehen (was er hervorragend selber kann, bestimmt besser als alle anderen Kinder in der Geschichte der Menschheit). Oder mein Mann oder ich beenden nach mehreren Verwarnungen das wilde, unfallträchtige Wettrennen, das er mit seinem Kumpel gerade durch die Wohnung veranstaltet. Manchmal ist es aber auch „nur“ der falsche Becher beim Abendessen, die falsche Hose für die Kita. Ein falscher Satz, der falsche Zeitpunkt für irgendetwas.
Natürlich rufen nicht immer die gleichen Situationen einen Wutanfall hervor, das wäre viel zu einfach, weil berechenbar. Manchmal laufen die genannten Szenen völlig konfliktfrei ab. Oft genug aber bricht für 10 bis 15 Minuten die Hölle los. Ben fängt an zu brüllen, entweder mit Text („Manno! Ich will aber noch eine Folge!“ /“Ich ZIEH mich aber nicht an!“/ „Du blöde Kackwurst!“) oder ohne, was fast noch schlimmer ist, weil das Brüllen einem schon rein akustisch durch Mark und Bein geht. Er wirft mit Gegenständen – bestenfalls mit Sofakissen, schlimmstenfalls mit hölzernen Eisenbahnschienen. Wenn es richtig doof läuft, wird auch noch gehauen und getreten.
Dass Ben mal sauer wird, ist nichts Neues. Als er kleiner war, gab es auch Heulattacken, aber die waren kurz und leicht erträglich, denn man wusste: Das Kind versteht vieles einfach noch nicht, es kann seine Bedürfnisse und seinen Frust nicht anders mitteilen, die Folgen seines Handelns noch nicht abschätzen etc.. Doch mit vier Jahren versteht Ben schon eine Menge. Er weiß, was er will, was er darf – und was weh tut. Deshalb ist es schwierig, ihm bei den beschriebenen Aggro-Attacken nicht bewusste Provokation und gar Boshaftigkeit zu unterstellen. Und das ist ungeheuer schmerzhaft: Mein geliebtes Kind, ein Scheusal? Dabei bemühen wir uns seit Jahr und Tag, Ben liebevoll, aber konsequent zu erziehen, ihm soziale Kompetenz und Rücksichtnahme zu vermitteln. Wir finden, dass das im Großen und Ganzen auch funktioniert. Doch die Ausraster kommen trotzdem.
Dass es sich um normale Entwicklungsphasen handelt, habe ich mir schon oft gesagt, um mich zu trösten, und höre den Satz auch oft von Freunden und Verwandten. Das stimmt wahrscheinlich auch, aber es hilft nicht wirklich weiter, weil man nie weiß, was genau für eine „Phase“ das dann gerade sein soll, wie lange sie dauert, ob und wie oft sie wiederkehrt und wie man sich als Elternteil darauf jeweils richtig verhält. Zum anderen klingt es auch nach einem allzu durchsichtigen Rechtfertigungsversuch: „Das ist nicht mein Kind, das ist nur eine Phase!“ Es verfängt nicht wirklich, wenn die „Phase“ einen gerade wieder einmal gerade mit einem großen Bauklotz nur knapp verfehlt hat. Auch der Erklärungsversuch „Das hat er sich in der Kita abgeguckt“ ist zwar verlockend, aber tröstet ebenso wenig. Es ist eben keine „höhere Macht“ und keine Ausnahme und kein anderes Kind, sondern wirklich mein Sohn, der sich so verhält.
Bemerkenswerterweise spielen sich die Wutanfälle fast immer nur bei uns zu Hause ab; die klassische Kernschmelze vor dem Süßigkeitenregal im Supermarkt haben wir bislang nicht erlebt. Auch in der Kita können sie es nicht fassen. Ben sei im positiven Sinne ein „unauffälliges“ Kind; zusammen mit seinen Kumpeln hecke er zwar manchmal Quatsch aus, aber nichts, was uns Sorgen machen müsste, heißt es von den Erziehern. Er könne sich lange selbst oder mit anderen beschäftigen, ohne dass sie intervenieren müssten; kleinere Konflikte könne er selbst lösen. Bens Kontakterzieherin hat uns kürzlich stattdessen eine erstaunliche Erklärung für seine Wutanfälle geliefert: „Er testet seine Grenzen aus – und das nur bei euch Eltern, weil er sich eurer Liebe immer sicher sein kann.“
Moment mal. Mein Kind weiß, dass ich es bedingungslos liebe und glaubt, dass es sich seine Amokläufe deshalb erlauben kann? Na toll. Was als Aufmunterung gemeint war, macht die Ratlosigkeit erst einmal nur größer. Denn das heißt ja, dass es mit den Wutanfällen weniger schlimm wäre, wenn Ben diese Gewissheit nicht hätte. Kann man seinem Kind zu viel Liebe geben? Fordern wir es dazu heraus, uns auf der Nase herumzutanzen, indem wir ihm signalisieren, dass wir es auch dann liebhaben, wenn es ein Kotzbrocken ist? Es gibt sicher Menschen, die das so sehen, noch vor nicht allzu langer Zeit war es geradezu ein Erziehungsgrundsatz: Zuneigung gegen Benehmen. Wer nicht parierte, den hatten sich die Eltern eben nicht richtig erzogen – und der wurde schlimmstenfalls nicht nur mit Liebesentzug, sondern auch mit Gewalt bestraft. Wie wir heute zum Glück wissen, ist das verheerend und hat mit Erziehung überhaupt nichts zu tun. Die Erzieherin hat mir mit ihrer Interpretation klargemacht: Es gibt nichts, das wir tun könnten, um die Wutanfälle zu verhindern, weil Kinder in einem gewissen Alter eben ihre Grenzen austesten und es keine Alternative dazu gibt, sie dabei mit Liebe zu begleiten. Wir müssen einfach da durch.
Im Grunde wissen mein Mann und ich auch ganz genau, wie das geht. „Ruhe bewahren, Ruhe bewahren!“, ich sage es mitunter sogar laut zu mir selbst, während der kleine Wutbürger um mich herum tobt. Bloß nicht schreien, sonst schreit er noch lauter. Auf Abstand gehen, aber ihm trotzdem zeigen, dass wir ihn nicht alleine lassen. Aber das ist nicht so einfach. Die Versuchung, seine Macht als Erwachsener auszuspielen, ist in diesen Momenten groß, und wir tun es auch: indem wir Konsequenzen androhen und umsetzen – beispielsweise alle Spielzeuge, die geflogen sind, für den restlichen Tag verschwinden lassen. Das wirkt mal besser, mal schlechter, aber wir ziehen es durch. Manchmal gehen mir allerdings zugegebenermaßen die Ideen für geeignete Konsequenzen aus, die idealerweise in logischem Zusammenhang zu dem Unfug stehen sollen, den Ben macht (beispielsweise: Wer keine Schuhe anziehen will, geht auch nicht auf den Spielplatz). Ich habe mich auch schon heulend aufs Sofa gesetzt und Ben gesagt, dass ich jetzt echt nicht mehr weiß, was ich machen soll. Das hat ihn so überrumpelt, dass er vergaß, sich weiter aufzuregen – aber das dürfte ein Einmaleffekt gewesen sein.
Ich wünschte, ich hätte nach all den Wutanfällen der letzten Monate nun endlich einmal eine Antwort darauf, was die richtige Reaktion ist und, besser noch, wie man sie verhindert. Doch letztlich kann uns wohl niemand sagen, wie man sich als Elternteil richtig verhält in dieser „Phase“, die sich Kindheit nennt. Wir müssen uns jeden Tag neu durchkämpfen und ausprobieren. Immerhin: Bens Wut schlägt am Ende von unendlich langen 15 Minuten oftmals schlagartig in enormen Kuschelbedarf um. Dann ist, schwupps, der kurzzeitig verlorene Goldschatz wieder da. Und mit ganz viel Glück ist der Becher beim Abendessen sogar auch mal genau der richtige.