Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

#EhrlicheEltern brauchen Freunde, keine Hashtags

© Picture AllianceMein Kind bohrt in der Nase – das ist nichts für Instagram, aber verschweigen muss man es auch nicht.

Kürzlich geisterte der Hashtag „#ehrlicheEltern“ durch Twitter. User gaben unter dem Begriff Einblick in ihr Familienleben. Darunter waren launige Anekdoten der Sorte „Bei uns gibt es eine Punktewertung fürs Rülpsen“ oder: „Seit ich Papa bin, verbringe ich viel mehr Zeit auf dem Klo, als ich müsste.“ Andere Einträge wiederum waren so gar nicht zum Lachen. Eine Frau berichtete, nicht gerne schwanger gewesen zu sein und sich selbst nach der Entbindung noch gefragt zu haben, ob das wirklich die richtige Entscheidung war. Eine weitere schrieb: „Stillen war nicht Liebe, sondern Hass.“  Eine dritte gab zu, ihren Sohn manchmal fernsehen zu lassen, weil sie aus Überforderung in der Küche heule und er das nicht mitbekommen solle. Ein Vater berichtete, die letzten vier Jahre „alles für meinen Kurzen und meine Frau getan, für mich selbst keine Zeit genommen“ zu haben. Am Wochenende, als der Stuhl zum dritten Mal mitsamt Kind umgekippt sei, sei er dann sehr laut geworden. „Die Kraft fehlte, noch leise Worte zu finden.“

Als Replik auf solche ernsten Einträge waren wiederum zahlreiche Dankesbekundungen anderer Eltern zu lesen: Es sei „richtig und wichtig,  mit eigenen Leiden rauszurücken und zu sehen, dass ich damit nicht allein bin“, schrieb einer. Oder: „Den Hashtag #ehrlicheEltern entdecken und sich endlich verstanden und nicht mehr alleine fühlen.“

Wir sind also nicht die Einzigen mit unperfekten Kindern in einem unperfekten Leben? Surprise! Danke, Twitter! Im Ernst: Mich hat das Ganze eher irritiert. Was ist schiefgelaufen, dass „ehrliche Eltern“ auf Twitter trenden? Warum müssen Eltern in die virtuelle Welt flüchten, um sich dort mal so richtig auszukotzen und ein bisschen Zuspruch zu bekommen? Es mag nicht für alle zutreffen, aber viele der Autoren haben ja selbst zugegeben, im „normalen“ Leben nicht offen über die hässlichen Seiten des Familienlebens sprechen zu können.

Es klingt vielleicht etwas harsch, aber mein Gedanke war: Haben diese Leute keine Freunde? Das geht nicht gegen die sozialen Medien als – zusätzliche – Kommunikationsplattform. Ich treibe mich dort selbst gern herum. Und einige der Anekdoten hätten glatt von mir sein können – die (nicht immer launigen) Schnipsel aus dem täglichen Wahnsinn, die schrägen Kindersprüche, meinetwegen auch die unappetitlichen Sachen mit Dreck und Mief und Bazillen. Aber es gab eben auch viele mit dem Unterton: Ich lasse hier jetzt mal raus, was mich insgeheim seit Jahren fertigmacht. Dabei sollte es dazu idealerweise gar nicht erst kommen.

Ich weiß, es gibt Leute, die interessieren sich schlicht nicht für das, was man im Familienalltag so erlebt – weder im Guten noch im Schlechten. Geschenkt. Und es gibt diese Elternpaare, denen man nicht ehrlich von den Höhen und Tiefen des eigenen Lebens erzählen mag, weil sie selbst immer nur von den Sonnenseiten des Familienlebens berichten (am überzeugendsten übrigens in Abwesenheit ihrer Kinder). Deren Nachwuchs seit dem zweiten Lebensmonat durchschläft, niemals krank wird, keine Schokolade mag, noch nie einen Wutanfall hatte und vermutlich die erste Klasse überspringt. Es gibt vielleicht sogar Eltern, bei denen das die Wahrheit ist. Allerdings gehört diese Spezies nicht zu unserem näheren Umfeld.

Und das hat auch einen guten Grund. Es war ein langer Weg, aber mit über 30 bin ich langsam so erwachsen und selbstbewusst, sagen zu können: Menschen, bei denen ich das ungute Gefühl habe, sie sind nicht authentisch zu mir und/oder ich kann nicht authentisch zu ihnen sein, die mich wissentlich oder unwissentlich unter Druck setzen, mit ihnen gleichziehen zu müssen, sortiere ich aus meinem Leben aus. Dabei heißt „Aussortieren“ einfach nur, keinen näheren Kontakt mehr zu suchen – und sich bei zufälligen Begegnungen auch nicht verpflichtet zu fühlen, zu beteuern, dass man sich aber UNBEDINGT bald mal wieder treffen müsse.

Ich habe mich viele Jahre lang bemüht, Leuten zu gefallen, nirgendwo anzuecken, immer einen guten Eindruck zu machen. Nicht immer habe ich mir damit einen Gefallen getan. Mittlerweile denke ich: Warum sollte ich Zeit mit Menschen verbringen, bei denen ich mich verstellen muss? Oder bei denen ich das Gefühl habe, nur von den instagramtauglichen Teilen ihres Lebens zu erfahren? Das nervt und zehrt unnötig an den Kräften, insbesondere, wenn es um Familiäres geht, weil das so einen großen Teil meiner Zeit und meiner Gedanken einnimmt. Es ist bizarr: Der Ego-Wettstreit „Mein Haus, mein Job, mein Auto“ wird unter Familien mitunter zum Wettkampf „Mein Instagram-Kindergeburtstag, meine vorbildliche Erziehung, mein perfektes Kind“. Gerade auch in den sozialen Medien, aber eben auch in der Realität, auf Kita-Fluren und Kindergeburtstagen und Spielplätzen. Ich mache da nicht mit. Könnte ich auch gar nicht. Das Baby mag noch pflegeleicht sein; unser Vierjähriger aber ist launisch, manchmal laut, wütend oder ungeduldig. Gleiches gilt für seine Eltern. Die Menschen, mit denen wir näher befreundet sind, wissen das und kommen damit klar. Es wäre auch unmöglich zu verbergen, denn Kinder tun einem ja selten den Gefallen, sich in Gesellschaft der Menschen, die man beeindrucken will, beeindruckend zu verhalten. Außerdem hilft es bekanntlich sehr, über Ärger und Sorgen zu reden. Dabei ist es ein Irrtum zu glauben, dass das Gegenüber dafür selbst Kinder haben muss. Es reicht ein offenes Ohr.  Und bisweilen ein guter Roter. Und wenn selbst das nicht hilft, braucht es vielleicht professionelle Unterstützung, was überhaupt keine Schande ist. Die gibt es aber auch nicht bei Twitter.

Ich behaupte nicht, dass es leicht ist, Leute zu finden, mit denen man seine guten und auch schlechten Momente teilen kann. Man muss sich dafür etwas öffnen und riskieren, an die Falschen zu geraten. Andererseits: Was gibt es zu verlieren? Das bisschen Applaus? Ich habe eine Freundin mit einem recht lebhaften, wunderbaren Kind, die sich enttäuscht mehr und mehr aus einer Whatsapp-Gruppe von Frauen ausklinkte, die sich im Geburtsvorbereitungskurs noch alle wunderbar verstanden hatten. Sie merkte nämlich, dass dort nur die lustigsten Anekdoten erzählt und die hübschesten Bilder verschickt wurden. Alle Eltern waren immer fröhlich, alle Kinder immer vorbildlich. Sie hatte das Gefühl, die Einzige zu sein, deren Kind sie gelegentlich an den Rand des Wahnsinns brachte. Dann traf sie uns … Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Ich verurteile die Eltern nicht, die sich unter „#ehrlicheEltern“ Luft gemacht haben. Jene von ihnen, die aus wirklicher Verzweiflung geschrieben haben, würde ich aber ermutigen, sich (auch) in der realen Welt Gehör zu verschaffen.  Und sich online wie offline von Leuten fernzuhalten, die ihnen das Gefühl geben, immer den Schein wahren zu müssen und nur von den Sternstunden des Elternseins erzählen zu dürfen. Dass es sehr viele Menschen gibt, die täglich kleine oder größere Katastrophen erleben, hat der kleine Twitter-Hype ja gezeigt. Es wäre aber schön, wenn „ehrliche Eltern“ kein Hashtag bliebe, sondern der Normalfall wäre.

Zugegeben, es bleiben vielleicht nicht viele Leute übrig nach dem Aussortieren. Aber dafür die Richtigen. Und wenigstens hat dann überhaupt mal einer aufgeräumt.