Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wie mein Kind lernte, TikTok zu misstrauen

© Picture AllianceWo geht das Foto hin? Darüber machen sich viele keine Gedanken.

Wie alle Kinder müssen auch meine die pädagogischen Deformationen aushalten, die ihre Eltern in der eigenen Kindheit erlitten haben. Unsere älteste Tochter (12) bekommt zum Beispiel von mir zurzeit eine gehörige Portion Misstrauen eingeimpft. Das liegt wahrscheinlich daran, dass mir selbst als Kind oft und gern Gruselgeschichten erzählt wurden, und ich schon als Neunjähriger „Aktenzeichen XY ungelöst“ angeschaut habe (und zwar allein). Ich behaupte, dass mir das nicht geschadet hat – meine Frau sieht das anders. Jedenfalls halte ich es heute für eine meiner erzieherischen Hauptaufgaben, Misstrauen beim Nachwuchs zu säen. (Und zwar die richtige Art von Misstrauen!) Ich weiß, das kommt nicht gut an und ist das Gegenteil von dem, was einem Erziehungsberater empfehlen. Aber es ist notwendig – nicht nur bei Kindern.

Auslöser für meinen jüngsten Misstrauens-Schub war ausgerechnet eine Wirtschaftsmeldung. Und die seit einiger Zeit auffällig oft verschlossene Tür unserer Zwölfjährigen. In der Wirtschaftsmeldung ging es um das chinesische Unternehmen Bytedance, das kürzlich zum wertvollsten Startup der Welt erkoren wurde – noch vor Uber und Airbnb, von denen ich zumindest schon mal gehört habe. Aber Bytedance? Was machen die denn? Eine Frage, die sehr viel mit der verschlossenen Tür meiner Tochter zu tun hat, wie ich später feststellte.

Bytedance ist der Software-Konzern hinter „TikTok“. Wer TikTok (vormals Musical.ly) nicht kennt, frage einfach den nächstbesten Teenager. Der oder die wird dann in der Regel das Smartphone zücken und ein kurzes, selbstgedrehtes Filmchen zeigen können, in dem der gleiche Pubertierende in mehr oder minder ästhetisierter Umgebung mehr oder minder gekonnt ein paar Takte eines Songs im Full-Playback vorführt. Wikipedia beschreibt TikTok als Videoportal für die Lippensynchronisation von Musik- und anderen Videos. Meine Tochter hat mit mir auch einen Song aufgenommen – mein ganz persönliches Cover des „Human“-Songs von Rag‘n‘Bone Man. Das Ergebnis war grausam – eine Mischung aus einem Trailer für die Zombie-Apokalypse und einem Werbespot für betreutes Wohnen. Weshalb ich auf sofortige Löschung des Filmchens bestanden habe. Aber ist das Ding damit wirklich weg? Wirklich?

TikTok hat beeindruckende Nutzerzahlen. Schon im vergangenen Jahr hatte die App weltweit zwischen 500 und 800 Millionen aktive Nutzer. Und es werden immer mehr. Eine davon dreht gerade bei uns im Haus einen neuen Clip, der dann ihren Freundinnen und Freuden oder gar der ganzen Welt gezeigt wird. Deshalb ist ihre Tür im Moment auch zu.

Jetzt kann man solche und ähnliche Freizeitaktivitäten mit kulturpessimistischem Grollen bedenken, sie gelegentlich spitz kommentieren oder über irgendwelche Kontrollmechanismen nachdenken (Nutzung von Unterhaltungselektronik nur am Wochenende zwischen 7 und 8 Uhr morgens zum Beispiel, Einsatz von Spezialfiltern oder gänzliches Handyverbot). Aber das ist selten zielführend. Außerdem finde ich die Filmchen, die da entstehen, auch gelegentlich ziemlich cool. Vielleicht wird meine Tochter ja mal Filmemacherin, wer weiß.

Nur eines ist mir dabei wichtig: Dass sie misstrauisch ist, wenn wildfremde Menschen ihr scheinbar etwas schenken wollen. TikTok ist kostenlos und hat keine Anzeigen. Das mag sich irgendwann ändern, vielleicht aber auch nicht. (Wir haben uns ja alle daran gewöhnt, dass Internetzeug umsonst ist. Wir haben das gesunde Misstrauen verlernt, wenn es um kostenlose Apps und Internetplattformen geht, wir erwarten in der Regel keine niedrigen Beweggründe, sondern glauben in diesem Fall zu gern an Weihnachtsmann und Osterhase). Ich kenne die Menschen hinter Tiktok bzw. Bytedance nicht, genauso wenig wie ich die Menschen hinter Snapchat, Whatsapp, Instagram, Facebook, Google, usw. kenne. Ich will ihnen nichts abgrundtief Böses unterstellen – aber auch nicht chronischen Altruismus. (Das wäre nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre mit Social Media auch reichlich naiv.) Vor allem aber will ich, dass meine Tochter diesen Satz hier verinnerlicht: Nur weil etwas funktioniert und kein Geld kostet, das das eigene Leben im Moment bequemer oder spaßiger macht, bedeutet das nicht, dass es dich nichts kostet. An Privatheit, an Chancen (ach, hätte ich als Jugendlicher nur nicht so viel an meinem C64 gedaddelt, sondern mehr Gitarre geübt!), an Lebensqualität, vielleicht sogar an Freunden (wenn das ganze Community-Gequatsche hässlich endet). Prägnanter ausgedrückt, wenn auch für Zwölfjährige nicht so geeignet: „TANSTAAFL!“ Es spricht ja nichts dagegen, dass man trotzdem noch all diese tollen, kostenlosen, trendigen Anwendungen gelegentlich nutzt – aber eben mit spitzen Fingern (und Fantasienamen zum Beispiel) und ohne den Irrglauben, man bewege sich darin nur unter Freunden.

So viel elterliche Weisheit ist natürlich für Kinder unverdaulich. Deshalb muss man sie selbst darauf kommen lassen. Stück für Stück. Und deshalb säe ich Misstrauen, wann und wo sich die Gelegenheit bietet. Ich habe übrigens meine Strategie für das Misstrauen-Säen bei meiner Tochter im Laufe der Zeit verfeinert: Früher knurrte ich etwas von „die wollen nur deine Daten“, wenn meine Tochter eine neue App auf ihrem Handy installieren wollte. Das ist natürlich eine denkbar schlechte Herangehensweise – besserwisserische, miesepetrige Väter werden ungern als Gesprächspartner akzeptiert. Inzwischen zeige ich mich erst mal neutral bis aufgeschlossen, setze mich mit ihr hin und wir schauen zum Beispiel die Berechtigungen an, die eine App für eine Installation fordert. Wichtig dabei: Nicht vorlesen, sondern das Kind selbst lesen lassen! Wenn das Kind dann beim Lesen zwischendurch Sätze wie „Die wollen ja ganz schön viel“ oder „Ich will das gar nicht wissen“ oder „Das ist ja gruselig“ sagt, ist die Impfung mit Misstrauen erst mal erfolgreich abgeschlossen. Jetzt als Erziehungsberechtigter bloß nichts sagen, nichts kommentieren, sondern das Ganze einfach wirken lassen. Das Misstrauen ist gesät, mehr ist nicht zu machen. Denn erstens versteht weder das Kind noch der Erziehungsberechtigte, was die App wirklich auf dem Handy macht. Zweitens würde die App ohnehin installiert werden, egal welche Berechtigungen vorgelesen wurden. (So wie bei uns Erwachsenen eben auch!)

Der Rest ist Vertrauen – nicht in die App oder die Videoplattform und den guten Willen ihrer Macher. Sondern in die eigenen Kinder. Die haben vielleicht durch die Misstrauens-Impfung eine kleine Ahnung bekommen, dass der Mensch auch des Menschen Wolf ist – und nicht nur Teil einer tollen Community von Usern.