Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Nehmt die Kinder mit ins Erwachsenenkonzert!

Staatsoper für alle? Vielleicht wollen auch Kinder Barenboim hören.

Kurze Vorbemerkung: Es gibt wirklich ganz hervorragende Konzerte speziell für Kinder, zu kindgerechten Tageszeiten und in kindgerechter Länge. Herausragende musikpädagogische Programme, in denen Kindern die Welt der Musik altersgerecht nahegebracht wird. Mit Orchester-Musikern, die ihre Instrumente erklären (oder sogar anfassen lassen) – und offensichtlich Spaß dabei haben. Mit KiKA-Moderatoren, die locker und phantasievoll durch klassische Musikprogramme führen können. Mit Geschichten- und Märchen-Setting, Publikums-Interaktionen, Ausmalbildern.

Und das alles beschränkt sich nicht auf Klassiker wie „Peter und der Wolf“ oder „Karneval der Tiere“ – heute scheut kindergerechte Musikvermittlung auch nicht davor zurück, „Klang- und Geräuscheabenteuer“ aus hermetischeren Werken schwer auszusprechender russischer Komponisten vorzustellen. (Meist werden die Kinderkonzerte übrigens „Familienkonzerte“ genannt, damit sich die Erwachsenen nicht so uneingeladen vorkommen.) Ich finde das alles wunderbar. Und ich beneide meine Kinder darum, dass sie theoretisch diese Möglichkeiten haben, sich eine Welt spielerisch und unverkrampft zu erschließen.

Es gibt da nur ein Problem: Wenn ich mich daran erinnere, dass ich mich mal für die Kinder um Karten für eines dieser kindgerechten Konzerte kümmern könnte, sind diese Veranstaltungen längst schon ausverkauft. Selbst wenn ich eine Woche vorher dran denke. Was also tun?

Die Lösung ergab sich kürzlich an einem Dienstagabend ganz spontan.
„Will eine von euch heute Abend mitkommen?“ Die Zwölfjährige schaute nur müde von ihren Hausaufgaben auf und winkte ab. Die Neugier der Neunjährigen aber war geweckt: „Was denn machen?“ „Mama und ich gehen heute ins Konzert.“ Mehr sagte ich erst mal nicht.  Aus mir nicht mehr erfindlichen Gründen hatte ich vor sechs Monaten (!) drei Konzertkarten für diesen Abend gekauft, vielleicht hatte ich eine Freundin oder einen Freund bedenken wollen. Egal, jetzt war die Karte übrig. Und da war ein neugieriges Kind.

Eine Neunjährige während der Schulwoche abends in ein Erwachsenenkonzert mitzunehmen ist, sagen wir mal, herausfordernd. Drei Gründe sprechen eindeutig dagegen, sich auf dieses Wagnis einzulassen: Erstens, das Kind muss nach dem Konzert wahrscheinlich schlafend nach Hause getragen werden, zumindest aber wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem Rückweg quengeln. Zweitens, das Kind wird am nächsten Morgen unausgeschlafen sein, zumindest aber mit hoher Wahrscheinlichkeit den ganzen Folgetag über quengeln. Und, drittens, wenn die Musik dem Kind nicht gefällt, wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit schon während des Konzerts quengeln.

Zumindest einmal ausprobieren

Andererseits sollte man unbedingt mit Kindern in Erwachsenenkonzerte gehen – der Kinder wegen, vor allem aber wegen der Erwachsenen. Zumindest einmal ausprobieren. Was aber ist überhaupt ein „Erwachsenenkonzert“? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Erwachsenenkonzert zu definieren: Es findet üblicherweise zur Kinderschlafzeit statt; es gibt in der Pause alkoholische Getränke; kaum ein Besucher eines Erwachsenenkonzerts dirigiert mit oder zeigt mit dem Finger auf ein Instrument, das er erkennt, oder legt den Kopf auf der Lehne des Vordermanns ab. Die einfachste Definition eines Erwachsenenkonzerts ist: Es ist ein Konzert ohne Kinder. An der Musik aber – und das ist vielleicht überraschend – entscheidet es sich meistens nicht, ob ein Konzert ein „Erwachsenenkonzert“ ist oder nicht. (Was den Verdacht erhärtet, dass es Kinder- oder Familienkonzerte vor allem deshalb gibt, damit Erwachsene in ihren Erwachsenenkonzerten ungestört bleiben können.)

Hier nun die Gründe, warum man Kinder trotzdem unbedingt ins Erwachsenenkonzert schleppen sollte, wenn sie nur einen Hauch von Interesse signalisieren:

1. Anders als bei Kinderkonzerten, bei denen Erwachsene meist nur in Unterspannung als Begleit- oder Aufsichtspersonen mitkommen, spüren Kinder, dass die Erwachsenen bei den Erwachsenenkonzerten selbst etwas aufgeregt sind. Sie merken: Da wird jetzt nichts „für Kinder“ produziert/inszeniert/vorgeführt, weder von engagierten Musikpädagogen noch von ambitionierten Erziehungsberechtigten – das ist jetzt „echt“, eigenes Erwachseneninteresse. Und Kinder lieben es, wenn etwas echt ist und nicht nur pädagogische Absicht dahintersteckt.

2. Keine Angst vor Überforderung! Kinder finden sehr schnell heraus, ob ihnen etwas gefällt oder nicht. Es ist da wie beim Essen: auch mal Neues, Unbekanntes anbieten, aber nicht zum Verzehr zwingen. Im Zweifel schlafen Neunjährige unbeschadet und seelenruhig selbst durch die Paukenschläge von Strawinskys „Le sacre du printemps“. Und nehmen das mit, was ihnen am besten gefallen hat: „Ich fand das toll, wie sich das Orchester eingestimmt hat, als der Dirigent noch nicht da war.“

3. Ein früher Besuch von Erwachsenenkonzerten verhindert, dass Kinder später einen Realitätsschock erleiden, wenn sie aus der unterkomplexen Konzertpädagogik entlassen werden.

Vor allem aber ist es, 4., so wohltuend und erfrischend, wenn zwischendurch das Zielgruppen-Geschwätz verstummt, das Marktsegmentierungs-Gedöns, das uns auseinanderdividiert. Und zwischen all den silberhaarigen Kultur-Abonnenten ein paar Kinderköpfe auftauchen. Vor allem ist es für die Musik gut.

Empfindsamere Erwachsene?

Und es gibt noch einen 5. Grund, meinen Lieblingsgrund: Kinder trauen sich, was Erwachsene auch gern machen würden, wenn sie von der Musik ergriffen sind. Vielleicht schaffen sie es sogar, die Erwachsenen wieder empfindsamer zu machen für das, was sie da gerade hören. (Als ich meine Tochter mitdirigieren sah, löste das sehr widersprüchliche Gefühle aus. Erst Sorge, dass sich andere Erwachsene daran stören könnten. Dann die bittersüße Erinnerung an die eigene Dirigententätigkeit in der Kindheit.)

Sicher, es gibt Punkte über die man sich intergenerationell verständigen muss. „Nein, wir sitzen nicht auf der Rückenlehne, um besser sehen zu können!“, „Die Brotdose bleibt im Rucksack – gegessen wird erst in der Pause!“, „Die Wasserflasche bleibt auch drin!!“.

Außerdem muss man den Exotenstatus mit einem Kind in einem Erwachsenenkonzert akzeptieren können, die Blicke der anderen Erwachsenen aushalten: „Das arme Kind schläft ja bald ein!“, „Wenn das jeder machen würde!“, „Das ist ja schon ziemlich unverantwortlich!“. (Okay, ich will auch nicht, dass jetzt in jedes Erwachsenenkonzert nicht sozialisierte Kinderhorden einfallen.)

Tatsächlich hat sich aber nur ein älterer Herr mit Anzug und Krawatte im Fahrstuhl des Konzerthauses nach dem Konzert direkt an unsere Tochter gewandt: „Das war großartig, oder? Einfach großartig! Und diese Pauken!“. Unsere Tochter war da gerade erst wieder fünf Minuten wach. Sie nickte stumm. Und ließ sich anschließend von mir zum Auto tragen.