Umbesetzungen sind in jeder Film- oder Theaterproduktion eine knifflige Sache. Das Zusammenspiel der Akteure muss neu geübt, die noch unbekannte Rolle verinnerlicht werden, der Text, die Übergänge. Selbst wenn die Rollen klar beschrieben sind – jeder füllt sie anders. Und manche Zuschauer müssen sich an das neue Gesicht gewöhnen. In unserer Familien-Soap haben wir jetzt eine radikale Umbesetzung: Meine Frau ist jetzt voll berufstätig, von Montag bis Freitag, von morgens bis abends weg, manchmal auch am Wochenende – und ich spiele vor allem die Rolle des Majordomus und Pater familias, vulgo: Ich muss zusehen, dass der Laden zuhause läuft, die Kinder nicht nur Reiswaffeln essen, wir nicht vermüllen und das richtige Kind zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankommt. Wenn das geschafft ist, darf ich arbeiten (sic!). Ich weiß: Andere machen das mit links. Oder sind alleinerziehend, voll berufstätig und müssen das alles ohne viel Bohei hinkriegen.
Aber ich habe Angst. Und das aus gutem Grund. Meine Frau und ich haben uns die Familien- und Haushaltsaufgaben bisher fair geteilt. Habe ich immer so geglaubt. So würde ich das zumindest bis vor kurzem beschrieben haben. Rückblickend weiß ich: Das hat nicht gestimmt. Sprache ist auch da verräterisch. Mein „Komm, ich helf dir bei der Vorbereitung des Kindergeburtstags (oder mit dem Termin für den Kinderarzt oder mit der Wäsche)“ war ja nichts anderes als das Eingeständnis, dass ich nicht zur regulären Besetzung gehöre. (Weshalb ich auf meine so freundlich gemeinten Hilfsangebote auch so selten ein ebenso freundliches Feedback bekam). Seien wir, jetzt da ich die Wahrheit kenne, mal ehrlich: Meistens gibt es in Familien keine gemeinsame Verantwortungsübernahme – einer oder eine hat die Chefkappe auf. Und die ist gleichzeitig die Dienstbotenmütze. Der oder die andere spielt dagegen das, was im Abspann von manchen amerikanischen Filmen oder Serien als „guest star“ oder „guest character“ erwähnt wird. „Ein Gastdarsteller ist ein Darsteller, der nur in wenigen Episoden oder Szenen wirkt. Im Gegensatz zu regulären Charakteren müssen die Gastdarsteller nicht mit allen ihren Auswirkungen sorgfältig in die Handlung integriert werden: Sie erzeugen ein Stück Drama und verschwinden dann ohne Folgen für die Erzählstruktur.“ (So die Übersetzung aus dem entsprechenden englischsprachigen Wikipedia-Artikel.)
Das bedeutet aber nicht, dass ich mich bisher haushalts- oder familientechnisch ausgeruht hätte. Es ist nur eben etwas ganz anderes, ob ich Kind 3 (weisungsgemäß) bei ihrer Freundin abliefere und wieder abhole – oder ob ich mit der Mutter der Freundin eine Woche vorher einen Termin abstimmen und die Frage von Ort und Logistik klären muss. Überhaupt ist das im Moment mein größter Horror: Plötzlich mit so vielen Menschen in Beziehung treten zu müssen, die ich bisher mit einem „Ja, ja, die lieben Kinder“-Lächeln abspeisen konnte oder bestenfalls mit zwei, drei Floskeln über das Wetter.
Ein erster Schritt, sozusagen das Propädeutikum für die neue Rolle, ist das Namenlernen. Wer spielt überhaupt mit? Wie heißen die anderen Kinder in der Kindergartengruppe unsere Jüngsten? Wer geht (seit vier Jahren!) in die gleiche Klasse wie unsere Mittlere? Wer ist bei der Ältesten dabei? (Fortgeschrittene merken sich dann auch gleich die Vornamen der Eltern, zumindest der Eltern der besten Freundinnen, aber so weit bin ich noch nicht. Noch lange nicht.)
Zugegeben: Es ist mühsam, all diese vielen Menschen nachträglich abzuspeichern. Und es ist peinlich, wenn ich dem eigenen Kind in der Kita-Garderobe meine Fragen zuflüstern muss: „Wie heißt das Mädchen da drüben?“, „Wie heißt die Erzieherin, die immer nur freitags kommt?“, „Wer ist das nochmal, der gern zu uns zum Spielen kommen möchte?“ Und es ist einigermaßen demütigend, wenn andere Eltern meine Tochter ganz selbstverständlich mit Namen begrüßen. (Diese elenden Streber!) Aber jeder gelernte Name ist ein kleiner Sieg.
Leider habe ich keine Einarbeitungszeit für meine neue Rolle, das heißt die Umbesetzung findet bei laufender Produktion statt. Praktisch bedeutet das, ich muss jetzt schon hochkomplexe Organisations- und Logistikentscheidungen treffen („Kann die Mutter von Mitschülerin X nächste Woche Tochter 2 nach Hause bringen, während ich Tochter 3 zum Klavierunterricht bringe und Tochter 1 mit ihren Freundinnen bei uns zuhause Muffins backt?“), dabei ständig Kosten, Nutzen und Risiken abwägen („Soll ich wirklich vier pubertierenden Mädchen unsere Küche unbeaufsichtigt überlassen? Wer putzt? Was zahlt die Versicherung?“) und gleichzeitig immer noch die Basisqualifikationen für meine neue Rolle erwerben („Wo ist die verdammte Telefonnummer von dieser Mutter?“).
Natürlich gibt es bei solchen Umbesetzungen, sagen wir mal: Friktionen. Mails von Klassenlehrern, die auf eine Rückmeldung oder die Überweisung für die Klassenkasse warten; Whatsapp-Anfragen von anderen Eltern, ob es bei der Verabredung der Kinder bleibt (Welche Verabredung um Himmels willen?!); enttäuschte Gesichter beim Abendessen, weil es wieder nur Käsebrote gibt statt der angekündigten Pizza; Möbeloberflächen, auf deren Staubschicht man ganze Kolumnen schreiben könnte; Fußböden und Teppiche, auf denen genug Anzuchterde liegt, um Kresse darauf zu säen; Wäscheberge, die Zimmer in Mittelgebirge verwandeln; Einkaufs-, Besorgungs-, Reparatur- und sonstige To-Do-Listen, bei denen seltsamerweise immer wieder die Haken verschwinden, die ich schon gemacht habe. Friktionen eben.
Aber im Großen und Ganzen zeigen sich meine Mitspielerinnen bisher sehr geduldig. Was man von mir nicht unbedingt behaupten kann: Tatsächlich habe ich in dieser Umbesetzungsphase eine gewisse Dünnhäutigkeit entwickelt, die sich vor allem in einer sehr rigiden Nulltoleranzpolitik äußert. Irgendwo fallen- oder liegengelassene Kleidungsstücke der Kinder zum Beispiel werden von mir jetzt zeitnah und kommentarreich an die Verursacher zurückgeliefert. Das nervt zwar die Empfänger, hilft aber meinem seelischen Gleichgewicht in dieser schwierigen Umbruchzeit. (Außerdem verhindert ja nach der Broken-Windows-Theorie ein frühzeitiges Einschreiten gegen erste Anzeichen der Verwahrlosung und Desorganisiertheit möglicherweise Schlimmeres.)
Nüchtern betrachtet bin ich jetzt Supply Chain Manager in der Probezeit und pfeife mir die notwendigen Soft Skills gerade in einer Art Crash-Kurs rein. Das klingt anstrengend – und ist es auch. (Das wissen längst alle Eltern, die nicht nur Gastrollen im Familienleben haben.)
Aber, ja, es gibt auch die Hochgefühle der neuen Rolle. Das Wissen, tatsächlich zur Stammbesetzung zu gehören – und nicht nur ein Gaststar zu sein. Wirklich teilhaben zu dürfen am Leben der Kinder zum Beispiel, die Namen zu kennen, die in ihrem Leben bedeutsam sind. Und nicht nur abends „Guten Abend, gute Nacht“ zu singen und an Geburtstagen den Pausenclown zu machen.
Vor einiger Zeit brachte ich unsere Mittlere wieder zu einem Kindergeburtstag. Der Vater des Geburtstagskinds begrüßte sie mit den Worten: „Oh hallo, schön, dass du da bist. Herzlich willkommen!“ Da wusste ich, dass uns ein Gaststar die Tür aufgemacht hatte – und nicht einer von der Stammbesetzung.