Unser großer Sohn Ben (4) ist auf Kita-Reise, eine Stunde Zugfahrt von uns entfernt. Mein Mann und ich haben ihn vor zweieinhalb Tagen in der Bahnhofshalle verabschiedet. Er und 15 andere Kinder stapften hinter den drei Erzieherinnen her die Treppe zum Gleis hinunter, einer nach dem anderen, wie an einer Kette aufgefädelt, mit jeweils einer Hand am Geländer und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken. Von oben winkten wir Eltern, von unten die Kinder. Ben schaute ernst, aber er weinte nicht. Kurz darauf war die Reisegruppe aus unserem Blickfeld verschwunden. „Und jetzt: Bier!“, rief ich den Eltern zu, die in meiner Nähe standen, und fand mich selbst nur mäßig witzig.
Seit der Nachricht, dass die Reisegruppe gut an ihrem Zielort angekommen ist, gilt: Wir bekommen nur Bescheid, falls etwas nicht stimmt. Also ist offenbar alles in Ordnung. Außer hier bei uns. Warum nochmal müssen Kinder im Alter von vier Jahren schon drei Übernachtungen auswärts absolvieren? Ach ja, damit sie an der neuen Herausforderung wachsen und so. Frühzeitig lernen, sich abzunabeln, auch allein klarzukommen und so. Also die Kinder. Oder etwa (auch) die Eltern? „Für euch Eltern ist das viel schlimmer, die Kinder selbst finden es toll“, hatten uns die Erzieher im Vorfeld gesagt. Sie machen diese Kita-Reisen schon seit langem, jedes Jahr. Noch nie habe eines der Kinder frühzeitig abgeholt werden müssen, beteuerten sie. Lange vor der Fahrt malten die Kinder Bilder mit Sachen aus, die mit in den Koffer sollten: Kuscheltier, Taschenlampe, Gummistiefel… Sie erfuhren, welche Tiere sie in ihrer Ferienanlage erwarten würden. Sogar ein Esel war dabei, erzählte Ben uns aufgeregt. Ihn nicht mitfahren zu lassen, war keine Option. „Damit würdet ihr ihm das Gefühl geben, es ihm nicht zuzutrauen“, sagte unsere Kontakterzieherin. Also schrieben wir, wie alle Eltern, heimlich eine Postkarte an unser Reisekind, die ihm am zweiten Tag vorgelesen werden sollte. Dass wir gespannt sind auf seine Berichte, dass zu Hause alles prima ist. Bloß kein rührseliges „Mama und Papa vermissen dich“, um den Kindern kein schlechtes Gewissen zu machen.
Am Tag der Abreise sind wir noch frohen Mutes und fast überrascht, wie gut der Abschied klappt, ganz ohne Drama. Nur zwei Kinder klammern sich kurz an ihren Eltern fest, gehen dann aber auch tapfer mit der Reisegruppe mit. Mein Mann und ich steuern mit anderen Eltern ein Café an und plaudern lange bei Kaffee und Kuchen, ohne wilde, ungeduldige Vierjährige um uns herum. Auch mal ganz schön. Zu Hause wird es dann erstmals komisch. Ich sammele in Bens Zimmer lustlos ein paar Legosteine auf, dann mache ich die Tür zu, weil das Chaos ohne das dazugehörige Kind so traurig aussieht und es aufgeräumt sogar noch schlimmer wäre. Der Tischspruch beim Abendessen fällt aus, Bens Platz bleibt leer und sauber. Auf dem Tisch steht noch ein Schnapsglas mit Kleeblättern, die er für uns gesammelt hat. Zum Glück brabbelt und matscht das Baby (acht Monate) ungerührt vor sich hin.
Die Prozedur vor dem Schlafengehen fällt kürzer aus als sonst, kein Gehopse auf dem Bett und kein Streit ums Zähneputzen, keine mühsamen Verhandlungen um die Frage, wie viele Gutenachtgeschichten es gibt. Nachts haut uns niemand seine Füße ins Gesicht. Auch der nächste Tag startet entspannter, ohne kleinen Morgenmuffel und ohne Kita-Aufbruchshektik. Abends gibt es Essen, das Ben nicht mag – Datteln im Speckmantel und viel grünen Salat. Mein Mann klagt über Ärger im Job, wir lästern und sagen mehrfach laut und genüsslich „Scheiße“, einfach, weil wir es können. „Du hörst weg, Lukas“, sagt mein Mann grinsend zum Baby.
Wir halten also ganz gut durch. Tagsüber ist es ja auch fast wie immer, nur dass Ben eben nicht in der Kita ist, sondern weiter weg. Doch nach der zweiten Nacht ohne ihn, der Klee sieht schon ganz welk aus, reicht es. Mein großes Baby gehört zu mir. „Okay, jetzt möchte ich bitte langsam mein Kind zurück“, schreibe ich einer anderen Mutter aus unserer Gruppe, ihr geht es genauso. Dabei habe ich gar keine Angst, dass Ben etwas zustößt. Und ich kann auch damit leben, nicht genau zu wissen, was er gerade macht (wenngleich ich die Erzieherinnen dafür verfluche, dass sie nicht wenigstens ein Mal am Tag ein Update geben). Mich quält aber der Gedanke, dass er Heimweh haben und denken könnte, wir hätten ihn im Stich gelassen. Er hat einmal geträumt, wir wären im Bus von ihm weggefahren, davon hat er noch Wochen später mit zitternder Stimme erzählt. Er kann unmöglich begriffen haben, was das wirklich bedeutet, drei Tage ohne uns in einer fremden Umgebung zu sein. Was, wenn er sich nicht traut, zu sagen, dass es ihm nicht gut geht? Was, wenn er es doch sagt, aber zu hören bekommt: „Ach komm, stell dich nicht so an!“? Schließlich ist noch nie ein Kind frühzeitig abgeholt worden …
Ich wollte nie so sein: eine von diesen Müttern, die ihre Kinder nicht loslassen können. Die sie ständig in Gefahr sehen, zumindest im Kopfkino, die sie am liebsten jede Minute beschützen wollen und das Gefühl haben, dass niemand außer ihnen und Papa das wirklich kann. Ich fahre Ben zwar nicht mit dem SUV zur Kita – wir haben gar kein Auto. Aber abgesehen davon bin ich vermutlich das, was ich selbst so furchtbar finde: eine Helikopter-Mutter. Zumindest in mancherlei Hinsicht. Der Helikopter-Vater und ich, wir vermissen unseren großen Sohn so sehr, dass es weh tut. Die Sorge um ihn macht uns verrückt. Wir können uns nicht lange entspannen, wir haben nicht das Bedürfnis, eine Date Night einzulegen oder Bier zu trinken, um den kleinen Ausflug in die Vergangenheit ohne Kinder zu zelebrieren – mal abgesehen davon, dass wir ja auch noch Lukas haben. Wir wollen einfach nur unser zweites Kind wieder.
Ich weiß, ich sollte mich nicht so anstellen. Morgen Mittag kann ich Ben wieder abholen. Wahrscheinlich ist er erschöpft und glücklich, und ich lasse mir natürlich nicht anmerken, wie es uns zwischenzeitlich ergangen ist. Dennoch: „So etwas machen wir nie wieder!“, habe ich gestern schon zu meinem Mann gesagt. Und wusste natürlich, dass das Quatsch ist. Das Loslassen hat ja gerade erst begonnen.
Update: Ben ist wieder da. Erschöpft und glücklich. Es sei „toll“ gewesen, sagt er. Und gleich danach: „Aber ich habe jeden Tag ein bisschen geweint, weil ich euch vermisst habe.“ Manchmal hasse ich es, Recht zu haben. Aber wir haben zu Hause darüber gesprochen: Ben hat zweifellos ein großes Stück Selbständigkeit gelernt. Deshalb denken wir, dass er zum 18. Geburtstag bestimmt wieder raus darf.