Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Goodbye Kindheit! Erwachsenwerden ist nicht einfach

Früher beste Spielkameraden, plötzlich spinnefeind. Die Pubertät stellt nicht nur die Elternbeziehung auf die Probe. Auch das Verhältnis zwischen Geschwistern kann sich drastisch ändern

„Mama, hast du mein Handy wirklich nicht gesehen? Mensch, das lag doch gestern Abend noch auf dem Sofa.“ Lara ist völlig aufgelöst. Seit Stunden sucht meine fünfzehn Jahre alte Tochter verzweifelt nach dem wichtigsten Utensil in ihrem Leben. Ich lasse mich zu einer Großaktion überreden. Wir räumen den Überwurf des Sofas und die Kissen ab, untersuchen jede Ritze einzeln und rücken schließlich das Möbelstück weg. Sie holt eine Taschenlampe, ich den Besenstiel. So sind schon diverse Fernbedienungen oder Ohrringe wiederaufgetaucht. Aber in diesem Falle: nichts. „Die hat es bestimmt doch genommen!“ beschuldigt Lara ihre kleine Schwester wiederholt. „Glaube ich nicht“, erwidere ich, frage jedoch vorsichtshalber selber mit ernstem Ton bei meiner Elfjährigen nach. Aber Maya, die seit Stunden schwer beschäftigt an ihrem Schreibtisch sitzt und irgendwas Kreatives werkelt, schüttelt überzeugend den Kopf und bittet mich, ihre Zimmertür zu schließen.  

„Das kann aber nur sie weggenommen haben!“, sagt Lara aufgebracht. Seit einiger Zeit ist das Verhältnis zwischen meinen Töchtern schwierig. Haben sie früher wie Pech und Schwefel zusammengehalten und waren beste Freundinnen, bestimmen nun gehäuft Zickenkrieg, verbaler Schlagabtausch und der Kampf ums Badezimmer den Alltag. Der Prozess war schleichend. Erst hatte Lara immer weniger Lust, mit Maya zu spielen oder Zeit mit ihr zu verbringen. Dann verzog Lara sich konsequent in ihr Zimmer, schloss sich ein und die Schwester aus ihrem Leben aus. Die Schule, Freundinnen und das Handy wurden wichtiger, die Schwester nervte. Lara legte ihre Kindlichkeit ab. Nun ist sie ein Teenager auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ein Prozess, der für Maya (noch) nicht nachvollziehbar ist und sie frustriert und verletzt.

Ich entscheide mich, der Handy-Such-Aktion nicht mehr beizuwohnen und mich endlich dem Mittagessen zu widmen. Lara sucht lautstark im Obergeschoss weiter. Schränke werden auf und zugeschlagen. Dann ein Schrei! Sie hat es! Na, endlich! Für eine Minute ist es mucksmäuschenstill im Haus. Dann kommt Lara die Treppe hinuntergelaufen. „Maya hatte es doch!“ Tränen glänzen in ihren Augen. „Hier. Mein Handy lag daneben.“ Sie hält mir mit zittrigen Händen ein DIN-A5-Schulheft entgegen. Ich weiß, was das für ein Heft ist! Es ist ein Geschwister-Briefheft. Ich darf es eigentlich nicht lesen. Lesen ist verboten! Steht groß drauf! Vor vielen Jahren ist mir eines dieser Hefte beim Putzen zum ersten Mal in die Hände gefallen. Es lag unter dem Korb mit den Handtüchern im Bad der Mädchen versteckt. Maya war etwa sieben, Lara zehn, als die beiden dieses Spiel für sich entdeckten. Sie schrieben sich gegenseitig über das Heft Briefe. Anfangs waren es phantasievolle Briefe, in denen sie in ihre ausgedachte Welt abtauchten und von erfundenen Reisen erzählten. Ab und zu wurden Konflikte darüber ausgetragen. Aber irgendwann lag nichts mehr unter dem Handtuch-Korb. Sie haben mit der Briefkonversation aufgehört, so wie sie aufgehört haben, zusammen Ponyhof im Garten zu spielen oder sich im Keller zu verkleiden.

Das Heft ist neu, das sehe ich sofort, liebevoll beklebt und bemalt. Mit einem Mal wird mir klar, was Maya den ganzen Vormittag an ihrem Schreibtisch gewerkelt hat! Fast schon schuldbewusst greife ich nach dem Heft, schlage es auf und würde es am liebsten wieder zuschlagen. Nicht nur, weil es private Worte von Maya an Lara sind, die mich eigentlich nichts angehen, sondern weil mich schon die ersten Worte tief in mein Mutterherz treffen. Ein fetter Kloß bildet sich in meinem Hals. Maya schreibt, dass es ihr leidtut, das Handy weggenommen zu haben. Sie habe gehofft, dass Lara ihr Handy vergisst und sie anstelle des Handys wieder wichtig für Lara werden würde. Sie schreibt, wie sehr sie Lara vermisst, wie lieb sie sie hat und dass sie ihr verzeihen soll. „Ich würde mich freuen, wenn du zurückschreibst“, steht da am Ende. Ich gebe Lara das Heft wortlos zurück. Was soll ich auch sagen? Sie verschwindet in ihr Zimmer. Schließt sich ein. Weint. Sicher nicht vor Glück, ihr Handy wiedergefunden zu haben. Auch nicht aus Wut auf ihre Schwester. Sie weint aus demselben Grund, aus dem auch ich jetzt losheulen könnte.

Ich muss mit Maya reden, ihr sagen, dass die Aktion nicht in Ordnung war und sie uns angelogen hat. Als ich in ihr Zimmer trete, sitzt sie immer noch an ihrem Schreibtisch und starrt auf die Tischplatte. Ich sage mein Sprüchlein auf. Erziehungs-Modus ein. Sie nickt nur, gibt alles zu, entschuldigt sich. Ganz elend hockt sie da, blass und unglücklich. Sie kommt mir mit einem Mal so klein und zerbrechlich vor, gar nicht wie das willensstarke, sportliche Persönchen, das sie sonst verkörpert. Ich setze mich zu ihr. Nehme Blatt und Stift und male zwei parallele Linien auf einer Straße. Unprofessionell, total aus der Luft gegriffen und in keinerlei Weise wissenschaftlich belegt, starte ich einen Erklärungsversuch. Ich sage ihr, dass sie und Lara sich auf einer Straße befinden und viele Jahre gemeinsam Hand in Hand nebeneinanderher gelaufen sind. Ab und zu ist der eine vielleicht mal kurz zur Seite gehüpft, aber schnell wieder auf der Spur gelandet. Ich erkläre, dass man auf dem Weg zum Erwachsenwerden öfter aus der Spur gerät und irgendwann seinen eigenen Weg gehen muss. Dass auch sie selbst, Maya, irgendwann den Weg verlassen wird. So ist das mit dem Erwachsenwerden. Man muss die Straße der Kindheit verlassen, trifft sich aber später auf der Erwachsenenstraße wieder. Ganz sicher! Und dass das Band zwischen ihr und Lara etwas ganz Besonderes ist, dass nie ganz zerreißen wird. Maya ist inzwischen völlig aufgelöst. Mir fällt nicht Kluges mehr ein, das ich sagen könnte, also nehme ich meine Tochter ganz fest in den Arm und schweige.

Dann gehe ich in die Küche. Wir brauchen jetzt alle drei einen Moment für uns allein. Während ich die Kartoffeln schäle und mich unbeobachtet fühle, lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Heule, weil es auch uns Eltern nicht leicht fällt, das Kind, das immer unser kleines Mädchen war, gehen zu lassen und stattdessen Platz zu machen für eine kratzbürstige Halbwüchsige, die uns permanent klarmacht, dass sie uns von Tag zu Tag weniger braucht und erwachsen wird. Aber diese Entwicklung lässt sich nun mal nicht aufhalten. Ich heule, weil Maya so unglücklich darüber ist. Abends werfe ich mit Maya alte Videos in den DVD-Player. Videos von den Mädchen, als sie noch klein waren. Ich habe sie oft im Garten beim Spielen gefilmt oder unter dem Hochbett, in ihrer Höhle, wenn sie dicke Verbotsschilder für Erwachsene aufgestellt haben. Es ist wichtig, mit Maya diese Videos zu sehen. Es macht uns traurig, aber gleichzeitig hat es etwas Tröstendes. Irgendwann steckt Lara den Kopf ins Wohnzimmer. „Was guckt ihr da?“ Sie setzt sich zu uns. Wir lachen zusammen und schwelgen in Erinnerungen.

Ein paar Tage später finde ich beim Putzen das Briefheft unter dem Korb mit den Handtüchern. Lara hat Maya geantwortet. Sie wird liebe Worte gewählt haben. Sie wird ihrer kleinen Schwester versichert haben, dass sie sie immer liebhaben wird, auch wenn sie keine Lust mehr hat, mit ihr zu spielen. Sicher würde auch Lara tief in ihrem Inneren manchmal gerne die Zeit zurückdrehen und sich wie früher im Spielkeller ihr Vampirkostüm überwerfen. Doch das geht nicht. Das Kostüm ist ihr längst zu klein geworden. Sie hat sich das mit dem Erwachsenwerden nicht ausgesucht! Wir alle würden uns wohl gerne hin und wieder in eine Zeitmaschine setzen, aber es ist wichtig, im Leben nach vorne zu schauen. Wenn etwas endet, fängt etwas Neues an. Und ich bin mir ganz sicher, dass die ehemals so innige Beziehung meiner Töchter in ein paar Jahren eine neue, erwachsene Stufe erreichen wird.