Es ist ja nicht so, dass ich generell etwas gegen die Kinder anderer Leute habe. Nein, da sind bestimmt auch ganz nette dabei. Manche können auch richtig gute Freunde für den eigenen Nachwuchs sein. Okay, okay: Wie alle Eltern gehe ich auch davon aus, dass die eigenen Kinder natürlich immer etwas hochbegabter, etwas cooler, etwas schöner, etwas offener, etwas sozialer, einfach etwas besser sind als die Kinder der Konkurrenz. (So was geben Eltern natürlich nie offen zu!) Aber weil das eben in der Regel alle Eltern von ihren Kindern glauben – Liebe macht schließlich blind –, entsteht da auch kein Problem.
Außer wenn das Fremdkind zu Besuch kommt. Besonders dann, wenn es gar in größerer Zahl auftritt. „Können heute [Name von Freundin 1] und [Name von Freundin 2] bei uns übernachten?“, fragt unsere Älteste (12) beim Mittagessen. Es ist eine unschuldige Frage, aber sie löst bei den beiden Geschwisterkindern (10 und 5) sofort ähnliche Anfragen aus, mindestens aber buchhalterische Aussagen à la „Die waren schon viel öfter bei uns als [Name einer Freundin des Geschwisterkindes]“. Ich gehe auf solche Vergleichsrechnungen grundsätzlich nicht ein. Denn natürlich hat die Älteste am häufigsten Besuch. (Je älter das Fremdkind, desto weniger Stress für mich in der Regel.)
Ich versuche bei solchen Anfragen immer, zunächst Zeit zu gewinnen: „Hm [oder ähnliches Grunzen, das angestrengte Überlegung andeutet] – da müssen wir nachher mal mit Mama reden.“ Aussitzen das Ganze, vielleicht erledigt sich die Anfrage ja von selbst.
Tut sie aber normalerweise nicht. Und auch die jüngeren Geschwister haben ein gutes Gedächtnis. Sie haben ja auch ein Recht auf ihre eigenen Sozialkontakte. Was im Endeffekt dazu führt, dass gelegentlich mehr Fremdkinder im Haus sind als eigene: In dem einen Kinderzimmer werden dann TikTok-Filme gedreht, im anderen Einhörner befreit und auf dem Garten-Trampolin neue Turnküren ausprobiert. Das klingt idyllisch – aber nur für den Unwissenden. Denn natürlich verändert sich durch die Gegenwart von Fremdkindern so ziemlich alles – vor allem in mir. (Ich vermute, dass es auch anderen Eltern ähnlich geht. Sie geben sich zwar immer ganz entspannt, wenn ich meine Kinder bei ihnen abgebe, aber das nehme ich ihnen nicht ab.)
Meine Frau findet, ich solle nicht von „Fremdkind“ sprechen, sondern von „Freundin“ oder wenigstens von „Gast“ oder von „Besuch“. Aber erstens verwende ich den Ausdruck nur ihr gegenüber oder in pseudonymisierten Kolumnen wie dieser, und zweitens beschreibt „Fremdkind“ das Phänomen sehr genau. Was also ist mein Problem mit dem Fremdkind?
Erstens, mit dem Fremdkind sind unbekannte Risiken verbunden. Weiß das Fremdkind zum Beispiel, dass unsere Bücherregale nicht zum Klettern geeignet sind? (Nein.) Weiß ich, dass die Fremdkind-Mutter keine Ausgabe von Süßigkeiten an ihre Tochter wünscht? (Schon mal gehört, aber vergessen.) Wie lange kann man Fünfjährige unbeaufsichtigt lassen, ohne die Aufsichtspflicht zu verletzen? Bis ein Kind schreit, blutet oder Paw Patrol angucken möchte?
Zweitens, der Umgang mit dem Fremdkind unterliegt disziplinarischen Beschränkungen. Wutausbrüche und Schimpfkanonaden, diese erzieherischen Holzhammer, die verschämt, aber immer griffbereit auf ihren häuslichen Einsatz warten, sind jedenfalls tabu. Stattdessen frisst der erwachsene Gastgeber Kreide, wenn ihn das Verhalten des Fremdkindes stört. Wenn es doch zu viel wird, kann es zur absurden Situation kommen, dass der eigene Nachwuchs an Verhaltensregeln erinnert wird, gegen die er gar nicht verstoßen hat. Nur in der Hoffnung, die Botschaft würde auch das Fremdkind erreichen. (Natürlich kann man als letztes Mittel auch das Fremdkind direkt angehen. Aber erst nach einer ernsthaften Kosten-Nutzen-Abwägung. „Der Papa / die Mama von XY hat mich geschimpft / ist ausgeflippt / ist irgendwie merkwürdig.“ Siehe drittens!)
Drittens, das Fremdkind ist wie Wikileaks – nur schneller. Alles, was berichtenswert ist aus dem häuslichen und familiären Schutzbereich, wird auch weitergetragen an andere Eltern oder Freunde. Inneneinrichtung, Arbeitszeiten, Sauberkeit der Wohnung, Konflikte. (Aber das ist nicht weiter schlimm, denn das meiste ist sowieso schon dank Whatsapp bekannt. Und natürlich bringt auch das Fremdkind meist ab dem zehnten Lebensjahr das eigene Handy mit zum Besuch.)
Viertens, die Anwesenheit des Fremdkindes führt tendenziell zur Unentspanntheit. Es ist eben nicht mehr ganz so einfach, nur in Unterwäsche durch die eigene Wohnung zu wandeln oder einen flapsigen Kommentar über einen Nachbarn fallenzulassen. Positiv ausgedrückt: Das Fremdkind ist ein zivilisatorischer Stützstrumpf, den man sich wohl oder übel gelegentlich anziehen muss.
Fünftens, das Fremdkind durchkreuzt Pläne. Es ist ausgesprochen schwierig, dem eigenen Nachwuchs Aufgaben im Haushalt zu übertragen, wenn gerade die Freundin oder der Freund im Zimmer wartet. Oder den gackernden Zwölfjährigen verständlich zu machen, dass sie jetzt mal mit der Fünfjährigen Ponyhof spielen sollen, bis das Essen fertig ist. (Inzwischen schicke ich Fremdkinder in Begleitung der eigenen Kinder zumindest einkaufen, wenn noch etwas fehlt.)
Sechstens, wehe, wenn es Streit gibt zwischen Fremd- und eigenem Kind! Ich fühle mich da regelmäßig wie ein Bergsteiger, der am Klettersteig von einer Gewitterfront überrascht wird. Jetzt nur keine Panik! Aber auch nicht warten, bis der Blitz einschlägt! Ganz falsch ist es jedenfalls in solchen Situationen, die Schuldfrage klären zu wollen, sich gar auf eine Seite ziehen zu lassen. Jede Art von Parteilichkeit oder Bevorzugung (siehe oben) vergrößert die Krise. Einzig allein konsequentes Ablenken hilft. Vielleicht. Also Clownsnase aufsetzen, Zuckerwaren verteilen oder im Notfall vor den Fernseher setzen, bis der Streit vergessen ist.
Das klingt nun alles sehr ernüchternd und abschreckend. Wenn es da – neben den berechtigten Interessen der Kinder – nicht auch ein paar Sonnenseiten für die erwachsenen Gasteltern gäbe: Die eigene Sozialkompetenz wird durch die Gegenwart des Fremdkindes auf jeden Fall gestärkt, egal wie positiv das Ganze verläuft; außerdem ist die Wohnung tendenziell aufgeräumter (zumindest vor dem Besuch), ja sogar die eigenen Kinder räumen ihre Zimmer auf, wenn sie Gäste erwarten; und, wenn alles glatt läuft, wollen eigenes und Fremdkind nichts von den Erwachsenen wissen – was die eigenen Freiheitsgrade im Tagesablauf enorm erhöhen kann.
Außerdem hilft die Begegnung mit dem Fremdkind auch bei der weltanschaulichen Reifung der eigenen Persönlichkeit: Dass der eigene Stamm nicht das Zentrum des Universums ist – daran kann man sich ruhig häufiger erinnern lassen.
„Also gut, von mir aus. Sie dürfen kommen.“