Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Warum der Schulbeginn so teuer wie Weihnachten ist

Ehrlich, Papa, ich brauche das alles: Wenn die Kinder in die Schule kommen, wird es teuer.

Es gibt eine Zeit im Jahresverlauf, da sind Eltern von schulpflichtigen Kindern völlig wehrlos. Da kann man ihnen fast alles andrehen, aufschwatzen, aus den Rippen schneiden. Es ist die Zeit der ersten Wochen nach den Sommerferien, manchmal dauert diese Zeit auch länger. Besonders wenn – wie bei uns – „Übergangssituationen“ zu bewerkstelligen sind, in diesem Fall die Einschulung unserer Jüngsten in die 1. Klasse und der Übergang unserer Mittleren von der Grundschule ins Gymnasium. „Schulanfang“ ist im Grunde nichts anderes als die bewusst herbeigeführte Überforderung von Erziehungsberechtigten zum Zwecke der Gefügigmachung. Der Einzelhandel stellt sich darauf ein mit eigenem „Back to school“-Marketing, die Schulen und die Lehrkräfte auch, Schulvereine und Mensabetreiber und Bücherläden und Kioske und Bäckereien. Ja, sogar der Versandhandel scheint die günstige Gelegenheit abzupassen, auch wenn ich das nicht beweisen kann.

„Hallo Herr Niebuhr, haben Sie vielleicht einen Moment Zeit für ein exklusives Angebot?“ „Eigentlich…“ „Otto wird dieses Jahr 70 und möchte Ihnen fünf Euro schenken!“ Es sind diese Anrufe, die mich inzwischen an ein Schulanfangs-Komplott glauben lassen – kurz vor dem Abendbrot, die Kinder haben gerade die Ergänzungseinkaufslisten der Schulmaterialien bei mir abgegeben, außerdem braucht die Große neue Turnschuhe, die Mittlere eine Sporthose, die Sechsjährige will ein Smartphone (Hahahahaha! Träum weiter, Kind!). Nicht, dass ich irgendetwas davon jetzt bestellen würde. Ich will nichts, ich brauch nichts, und geschenkte Einkaufsgutscheine überfordern mich. Meine Frau hat mir schon oft empfohlen, meine Einwilligung für solche Werbeanrufe zurückzuziehen. Aber auch diesmal schaffe ich nur, das Problem zu vertagen: „Ich hab gerade überhaupt keine Zeit.“ „Wann würde es Ihnen denn passen? Vielleicht nächste Woche, dann können Sie in Ruhe überlegen und was Schönes aussuchen!“ „Ja, okay, nächste Woche.“ Ich mache eine völlig sinnfreie Terminangabe für einen weiteren Werbeanruf.

Woran liegt das? Warum fühle ich mich in diesen Schulanfangs-Wochen oft so hilflos und ausgeliefert und willige in Angebote und Anfragen ein, die ich unter normalen Umständen längst abgelehnt hätte? Warum kaufe ich einen Schreibmaterialien-Vorrat und verstaue ihn in irgendeiner Schublade, so dass die Kinder ihn garantiert nicht benutzen werden? Und was machen drei Kinder eigentlich mit zehnmal so vielen Radiergummis? Reicht das bis zum Abitur oder sogar noch bis zum Studienabschluss?

Es scheint nicht nur mir so zu gehen: Allein zur Einschulung sollen die Verbraucher in Deutschland in diesem Jahr 580 Millionen Euro für Geschenke und Schulausrüstung (Quelle: Handelsverband Deutschland) ausgeben. Das sind ungefähr 800 Euro pro Erstklässler. Hauptsächlich für Schulausstattung wie Ranzen, Mäppchen, Turnbeutel oder Schreibtische, gefolgt von Süßwaren, Büchern und Schreibwaren, Spielzeug, Bewirtungen, Schmuck und „Sonstigem“. Das ist viel Geld, sehr viel Geld – und weil es ja ein Durchschnittswert ist, gibt es natürlich auch Erstklässler, deren Einschulung deutlich mehr Umsatz bringt. Einschulung ist eben wie Weihnachten im Spätsommer, nur ohne Zimtsterne.

Klar, wird jetzt jemand einwenden, der Aufwand bei der Einschulung entspricht ja auch der gewachsenen Bedeutung. Das letzte Übergangsritual, das wirklich alle Kinder über Religionsgrenzen hinweg gemeinsam haben, darf ruhig was kosten. Es gibt da nur einen Haken mit dieser Säkularisierungsthese und der Fokussierung auf die Einschulung: Die Ausgabe-Freudigkeit in den „Back to School“-Wochen bleibt auch hoch, wenn das Kind in die 2. Klasse kommt. Oder in die 3. Oder in die 4. Oder in die 5. Irgendwann holt sich der Nachwuchs einfach das Geld bei den Eltern ab, das er gefühlt für den Mehraufwand im neuen Schuljahr benötigt. Wie gesagt: Die Eltern sind in diesen Wochen wehrlos. Aber warum?

Weil sie gnadenlos überfordert sind. Von schulischen Einkaufslisten („Bitte bis nächste Woche 1 DIN A4-Block kariert mit Rand ohne Spiralbindung, aber mit Löchern“), von Sammelbestellungen bei Taschenrechnern oder Schul-Sweatshirts („Caribbean Blue in S oder Burgundy in XS“), von freiwilligen Zusatzangeboten, die der Fachlehrer überflüssig findet, aber vielleicht doch hilfreich sein könnten. Sie sind in dieser Zeit erschlagen von Elternbriefen und Info-Broschüren zum Schulstart/Schulwechsel/Mensaabrechnungssystem, zur Ganztagsbetreuung/zur Klassenreise/zur Nutzung persönlicher Daten und Fotos für schulische Zwecke. Sie schleppen sich zu Elternabenden in ständiger Angst, für irgendeine freiwillige Aufgabe angefragt zu werden („Wer würde sich denn in diesem Schuljahr als Elternvertreter aufstellen lassen?“). Sie müssen den Überblick bewahren, welchen Obolus für Klassenkassen oder Schulvereine sie schon geleistet haben oder noch leisten müssen. Sie müssen E-Mail-Adressen und Telefonnummern von Schulsekretariaten, Lehrern und Eltern notieren und wiederauffindbar ablegen, Organigramme verstehen und die Systematik von elektronischen Vertretungsplänen. Ach ja, ganz wichtig, Termine müssen sie auch eintragen in Familienkalender, relevante und Termine, deren Relevanz sich noch nicht erschließt („Projekttag“). Und gleichzeitig sollen sie auf das emotionale Gleichgewicht der Ein- und Weitergeschulten achten, ihnen „in dieser aufregenden Zeit“ mit Rat und Tat zur Seite stehen. Mit Rat und Tat.

Vor allem aber sind Eltern überfordert von ihrem ständigen Anspruch an sich selbst, das eigene Kind möge doch bitteschön alle Bildungschancen nutzen, beste Startchancen ins Leben haben und dabei auch noch totaaaaaaal glücklich sein. (Und viel Obst und Gemüse essen.)

Ganz schön eng also, diese ersten Wochen nach den Sommerferien.

Geld ist geprägte Freiheit, schrieb Dostojewski. Da ist es doch klar, dass Eltern großzügiger werden, wenn es in den ersten Wochen des neuen Schuljahrs so stressig und eng für sie wird. Dann wird halt schnell noch ein Radiergummi gekauft, wenn die bereits vorhandenen nicht gefunden werden. Oder eine neue Sporthose, auch wenn die abgelegte der großen Schwester jetzt passen dürfte. Oder mal schnell zehn Euro in die Schülerinnen-Hand gedrückt, wenn die Anmeldung zur Mensa verpasst wurde. Die normalen Schutzsicherungen – Budgets zum Beispiel – funktionieren in diesen Wochen nicht. Der Einzelhandel weiß das und hat sich darauf eingestellt.

Irgendwann schließt sich aber dieses Zeitfenster, die Phase der Wehrlosigkeit endet. Selbst Eltern schulpflichtiger Kinder werden dann wieder zu vernunftbegabten Wesen.

Wenn in den nächsten Tagen wieder die Frau vom Versandhaus anruft, hat sich das Zeitfenster also hoffentlich wieder geschlossen. Oder brauch ich vielleicht doch noch was?