Unfälle passieren immer zum ungünstigsten Zeitpunkt, man kann sie weder voraussehen, noch wirklich verhindern. Wir sensibilisieren Kinder für Alltagsgefahren: „Schau nach links und rechts, wenn du über die Straße gehst“; „Fahr mit dem Rad immer hinter dem großen LKW, nie daneben“; „Zieh rutschfeste Socken an, wenn du die Treppe hinunterläufst“. Wir bringen Kindersicherungen an Schränken und Steckdosen an, räumen scharfe Gegenstände weg und beseitigen Stolperfallen. Dennoch ist es unmöglich, seine Kinder vor allen Gefahren zu schützen. Und wenn man einmal drüber nachdenkt, was eigentlich so alles passieren könnte (bitte tun Sie das auf gar keinen Fall, halten Sie Ihr Kopfkino im Zaun!), wird man schnell verrückt vor lauter Sorge.
Maya war acht Monate, als sie die Treppe in unserem Haus herunterpurzelte. Sie hatte gerade angefangen zu krabbeln, und das Treppengitter in der oberen Etage sollte am nächsten Tag in die Wand gebohrt werden. Ich wollte nur mal eben die Wollmaus, die ich unter dem Bett im Schlafzimmer entdeckt hatte, wegsaugen und ließ Maya für eine Sekunde aus den Augen. Ich werde das dumpfe, fürchterliche Geräusch niemals mehr in meinem Leben vergessen! Ich schrie, schmiss den Staubsauger zur Seite und rannte zu meinem Kind. Elf Holztreppenstufen hinunter! Es endete glimpflich: Maya weinte kurz, ich blieb mit ihr eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus, und die zwei oder drei blauen Flecken am Oberkörper und auf der Stirn waren schnell vergessen. Nur die blauen Flecken auf meiner Seele wollten einfach nicht verheilen. Ich kam mir wie die letzte unfähige Rabenmutter vor. Ich hatte nicht aufgepasst! Ich war schuld! Die Szene spielte sich wochenlang immer und immer wieder vor meinem inneren Auge ab, und das dumpfe Geräusch des Aufpralls verfolgte mich bis in meine Träume. Ich konnte nicht aufhören, zu weinen und mich mit Selbstvorwürfen zu bestrafen. Was hätte alles passieren können! Wenn sie nun …
Ein paar Tage später hatte ich einen Termin bei meiner Physiotherapeutin und erzählte ihr von der Sache. Ich dachte: Nun wird sie mich entsetzt anschauen und ich werde den unausgesprochenen Vorwurf „Haben Sie denn nicht richtig auf Ihr Kind aufgepasst?“ auf ihrer Stirn lesen können. Doch stattdessen erzählte sie mir, dass ihre eigene Tochter im Babyalter vom Wickeltisch gefallen sei und sich dabei das Becken gebrochen habe. Ich war ihr unendlich dankbar für ihre Offenheit und fühlte mich gleich ein bisschen weniger schlecht. Ich war also nicht allein! Es gab auch andere Mütter, denen schon Ähnliches passiert war. Dennoch hat es gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass Unfälle nun einmal passieren, auch die, bei denen man glaubt, mitschuldig zu sein. Weil man nicht nonstop neben der Rutsche steht. Weil man dem Kind den Wunsch nach einem Hochbett erfüllt hat. Weil man vergessen hat, dass die Herdplatte noch heiß ist. Weil man findet, dass Inliner ein gutes Weihnachtsgeschenk sind. Weil auch Kinderschnitzmesser scharf sind. Weil man dem Kind kurz den Rücken zugedreht hat. Die Sorge, seinem Kind könnte etwas Schlimmes zustoßen, wird uns Eltern ein Leben lang begleiten. Selbst wenn sie nicht mehr auf Rutschen rumturnen und längst verstanden haben, dass Strom durch die Steckdose fließt. Es ist unsere Bürde. Wichtig ist jedoch, dass man seine Sorge nicht auf das Kind überträgt. Mir fällt das nicht immer leicht.
Letzte Woche war es nach längerer Zeit bei uns mal wieder soweit. Die Nummer der Schule erschien auf dem Telefondisplay. Kein gutes Zeichen! „Können Sie kommen? Maya hat sich im Sportunterricht verletzt. Aber keine Sorge, sie hat nur einen Ball gegen den kleinen Finger bekommen.“ Ein Ball! Ein Finger! Sofortige Erleichterung! Was hätte nicht alles … NEIN! Einstellung des Kopfkinos!
Ich setzte mich sofort ins Auto, fuhr zum Durchgangsarzt und löste die Lehrerin ab, die Maya zur Praxis begleitet hatte. Sie drückte mir Mayas Schultornister in die Hand und wünschte uns alles Gute. „Wenn sie mich fragen, ist der Finger gebrochen“, sagte sie noch, und ich konnte angesichts des merkwürdig abstehenden, geschwollenen Fingers nur zustimmen. Ich erledige die Formalitäten an der Anmeldung und versuchte meine Tochter aus ihrer Erstarrung zu befreien. „Wir haben doch nur Hütchen-Ball gespielt! Und ich hatte schon drei Treffer gelandet!“ Die Schmerzen und die Aussicht, die nächsten Wochen ihren Vereinssport wegen eines Gipsarmes nicht mehr ausüben zu dürfen, setzten ihr merklich zu.
Ich tat das, was mir in der Situation am ehesten angebracht erschien: Ich quasselte, versuchte Zuversicht zu verbreiten und kramte alte Geschichten aus meiner eigenen Kindheit heraus. Damals, als ich mir mit zwölf Jahren gleich drei Finger gebrochen und meine Schwester mich schadenfroh ausgelacht hatte. Fürchterlich geärgert hätte ich mich damals über sie. Und dann (der Fluch der ausgleichenden Gerechtigkeit) kam ich zwei Wochen später von der Schule nach Hause und fand meine Schwester in der Küche mit einem Gipsbein vor. Sie hatte sich im Sportunterricht das Bein gebrochen! Wir lachten über Witze wie: „Hoffentlich zaubert der Arzt gleich nicht wie Gilderoy Lockhart in Harry Potter deine Knochen einfach weg. Dann musst du mit einem Gummi-Arm rumlaufen.“ Und ich aß Mayas Schulbrot auf, weil bei mir das Frühstück ausgefallen war und sie keinen Bissen runterbekam.
Nach endloser Warterei im Wartezimmer, Geschichten, Vorstellung beim Arzt, Röntgen und Diagnosebesprechung schickte uns der Arzt zu unserem Entsetzen in die Klinik. Er vermutete, Maya würde um eine sofortige OP nicht herumkommen und bat Maya, nüchtern zu bleiben. Da war es aus mit der guten Laune und der Ruhe. (Gott sei Dank hatte ich das Schulbrot vertilgt) Doch dann besann ich mich darauf, dass ich meiner Tochter, der nun die blanke Angst ins Gesicht geschrieben stand, auf jeden Fall ihr Kopfkino abnehmen musste. Ich erinnerte mich an eine Episode aus „True Story“, einer Sendung, die ich letztens auf Vox gesehen hatte. In der Sendung erinnern sich Leute an lustige Anekdoten aus ihrem Leben. In einer Folge hatte ein Mann erzählt, wie er als Junge mit einer vorgetäuschten Blinddarmreizung seiner Lateinklausur entgehen wollte und blöderweise auf dem OP- Tisch gelandet war. „Ich habe doch eigentlich in Wirklichkeit nichts!“, hatte ihm die OP Schwester dann kurz vor der Narkose nicht mehr abnehmen wollen. „Was meinst du, wie es dem ergangen ist“, tröstete ich Maya. „Sein Bauch wurde völlig umsonst aufgeschnibbelt, und nun rennt der Mann ohne Blinddarm rum. Da ist so eine kleine Finger-OP doch ein Klacks.“
In der Kinderchirurgie der Klinik kochte man die Diagnose glücklicherweise herunter: Einrenken des Fingers mit einer Lokalanästhesie und eine Gipsschiene über mehrere Wochen. Ein bisschen würde die Flüssigkeit aus der Spritze drücken, erklärte der nette und sehr einfühlsame Chefarzt, und es wäre überhaupt kein Problem, wenn Maya zwischendurch mal eine Pause einlegen wollte. Wir zogen uns alle hübsche Bleischürzen an, und ich erlangte vor lauter Erleichterung augenblicklich meinen Humor zurück („Gelb ist ja eigentlich nicht so meine Farbe. In Rosa oder einem dezenten Lilaton können Sie mir das Ding wohl nicht anbieten?!“), hielt Mayas gesunde Hand und quatschte weiter, um sie abzulenken.
Als wir endlich, um einige Steine vom Herzen erleichtert und eine Gipsschiene am Arm schwerer, nach Hause fuhren, wurde ich mit einem Mal schrecklich müde. Die Anspannung fiel von mir ab. „Blöder Gipsarm. Ausgerechnet jetzt, wo ich doch trainieren muss“, jammerte Maya. „Unfälle passieren immer zu den ungünstigsten Zeitpunkten. Du kannst sie nicht voraussehen oder planen und ihnen sagen, sie sollen gefälligst erst im Januar passieren, nur weil du da gerade mehr Zeit hast“, entgegnete ich. „Und überhaupt: Schlimmer geht immer. Hätte ja auch der Fuß sein können!“
Der Finger wird verheilen und vielleicht wird Maya irgendwann einmal jemanden, der sich in einer ähnlichen Situation befindet und Mut oder Trost benötigt, ihre eigene Unfall-Episode erzählen. Das tut nämlich gut und alles ist gleich weniger schlimm.