Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Klavier! Geige! Chinesisch!

Nicht jeder ist zum Mozart bestimmt. Aber ein bisschen Frühförderung darf schon sein.

Als wir vor einiger Zeit ein Elterngespräch im Kindergarten hatten, ließ mich eine beiläufig gefallene und witzig gemeinte Äußerung eines Erziehers aufhorchen: Ob wir bestimmte Vorstellungen hätten, was der kleine Elias vielleicht besonders lernen sollte, oder wo man ein besonderes Augenmerk drauflegen sollte? „Klavier? Geige? Chinesisch?“, fragte er amüsiert. Meine Antwort, sarkastisch gemeint: „Klar, genau in dieser Reihenfolge.“ Gelächter. Thema erledigt. Dachten wir.

Im Nachhinein empfinde ich diese kleine Szene als etwas deprimierend, zeigt sie doch, wie sehr wir bei pragmatischen Fragen in einen nicht sonderlich klugen Debattenmodus rutschen, der nur noch Schwarz- und Weißtöne und einen unproduktiven Sarkasmus kennt. Schulterklopfen und Gelächter inklusive. Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Klare Sache, entweder bist du ein zurückgebliebener Nesthüter oder ein herzloser Karrierist. Frühförderung von Kleinkindern? Entweder bist du ein Provinzling, der nicht an die globalisierte Wirklichkeit denkt, oder ein rücksichtsloser Tigerpapa, der nur an die goldene Karriere seines Sprösslings denkt – und dem Kind die Kindheit raubt.

Was für ein Unsinn.

Natürlich hätte ich in dem Gespräch lieber über Frühfördermöglichkeiten für Elias gesprochen. In unserem Haus lebt ein deutsch-amerikanisches Pärchen mit kleiner Tochter, die bilingual aufwächst. Ich fände es gut, wenn kompetente Pädagogen auch unserem Kleinen ein paar erste Schnupperangebote im Englischen machen würden oder beim Erlernen eines Instruments behilflich sein könnten. Leider wird das in unserer Lernkultur vorschnell als Allüre überehrgeiziger Helikoptereltern abqualifiziert, die ihren Kindern die Kindheit madig machten. Als sei der Ehrgeiz der Eltern die neue Prügelstrafe im 21. Jahrhundert.

Was für ein Unsinn, zumindest in dieser Pauschalität.

Die Vorstellung, dass gezielte Frühförderung von Kindern im Kindergartenalter Teufelswerk sei, entstammt den Vorstellungen kapitalismuskritischer Pädagogen. In der Tat ist nicht abzustreiten, dass Kindheiten in den Gesellschaften hochproduktiver Industriestaaten wie Deutschland zunehmend unter dem Druck eines globalisierten Wirtschaftsmodells stehen. Wer heute nicht vernünftig Englisch spricht und am besten eine weitere Fremdsprache, gehört fast schon zu den Ladenhütern auf den (akademischem) Arbeitsmärkten, zunehmend auch darüber hinaus. Welcher Handwerker kann es sich heute noch leisten, kein Englisch zu sprechen? Früh übt sich also nicht nur, wer Karriere machen will, sondern auch, wer nicht abgehängt sein möchte. Das stresst manche Eltern, wenn sie an die Zukunft ihrer Kinder denken.

Und ja, es stimmt auch, dass zeitliche Verdichtung und Leistungsdruck Schülern psychisch stark zusetzen können. Die Fallzahlen psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind in den vergangenen Jahren gestiegen, vor allem in Bezug auf Angststörungen. Laut einer Studie der Krankenkasse DAK haben in Nordrhein-Westfalen rund ein Viertel der Schüler mit psychischen Auffälligkeiten zu kämpfen. Woran das liegt, ist aber nicht restlos geklärt, weshalb sich vorschnelle Urteile verbieten. Ein Grund mag auch sein, dass Eltern eher sensibilisiert sind und aufgrund gestiegener gesellschaftlicher Akzeptanz von psychischen Erkrankungen eher mit ihren Kindern zum Psychologen gehen.

Und um gleich den erwartbaren Gegenargumenten zuvorzukommen: Ja, es gibt auch überehrgeizige Tigereltern, die ihre eigenen Wünsche oder knapp oder deutlich verfehlten Karriereziele auf ihre unschuldigen Kinder projizieren. In anderen Kulturkreisen, zum Beispiel in China, ziehen Elternteile in teuer gekaufte Wohnungen direkt am Schulgelände, damit Leben und Arbeiten näher zusammen rücken. Darin steckt viel aufholender Ehrgeiz in einem Land, das in rasender Geschwindigkeit aus der Armut kommt. Gerade China gilt vielen in Deutschland dennoch als abschreckendes Beispiel.

Alles richtig und alles falsch! Und doch, es ist geradezu typisch für unsere schräge Debattenkultur, aus Übertreibungen, die unsere Welt hervorbringt, gleich wieder Politik zu machen – und alles in Bausch und Bogen zu verdammen, was nach Leistung, Selbstdisziplin und Ehrgeiz aussieht. China inklusive! Freunde, die in China und Vietnam leben und dort ihre Kinder aufziehen, berichten von Förderangeboten wie Gesangs- und Englischunterricht, die wie selbstverständlich in die Vorschulangebote integriert sind. Ob die Kinder daran leiden, ist schwer zu sagen aus der Distanz, es sieht aber nicht so aus. Warum nicht davon lernen?

Leistung, Selbstdisziplin und Ehrgeiz kleiden sich bei Kleinkindern und in vernünftiger (nicht übertriebener) Dosis in spielerisches Gewand. Wer Kleinkinder im Alter von drei, vier oder fünf Jahren aufwachsen sieht, weiß, dass ihnen Lernen nicht gleich Pflicht und Mühsal ist. Kinder stehen zum ersten Mal auf Skiern – und fahren gleich los wie alte Skihasen, die nie etwas anderes gemacht haben. Sie schnappen Worte auf – und internalisieren sie gleich im Langzeitgedächtnis. Kleinkinder lernen permanent, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, das flexible Kindergehirn verfügt über genügend Kapazitäten und saugt Informationen auf wie ein Schwamm. Lernen kann ihnen Spaß machen, wenn die Qualität stimmt.

Schreckensbild Frühförderung in China?

Das heißt natürlich nicht, dass Kleinkinder Geige, Klavier und Chinesisch lernen sollen. Zur Erinnerung: Was für ein Unsinn! Aber was spricht dagegen, wenn ein Mal die Woche ein eigens für Kleinkinder ausgebildeter Musikpädagoge in die Kita kommt, um spielerischen und kompetenten Musikunterricht zu geben und die Kinder bei den ersten Schritten hin zum Erlernen eines Instrumentes zu begleiten? Die Qualität der Lehre ist entscheidend: Die Schrammel-Gitarre zum Sankt-Martins-Lied reicht eben nicht unbedingt aus, um Kinder für Musik zu begeistern. Dafür braucht es Zusatzausbildungen. Und was spricht dagegen, neben dem Deutschen auch noch eine Fremdsprache spielerisch zu erlernen? Auch das angeleitet durch eine kompetente Person, die Kurse in der Kita anbietet?

Gute Englischkenntnisse sind längst keine Frage mehr alleine der ökonomischen Verwertbarkeit im Berufsleben – sie sind schlichtweg Voraussetzung für ein kommunikatives und damit zufriedenes Leben. Es sei denn, man glaubt, die Kinder werden sich in ihrer Zukunft nur zwischen Flensburg und Passau bewegen und keine Ausländer kennenlernen. Das war einmal!

„Lernen ist nicht pure Mühsal“

Der Bildungsauftrag ist ja längst Teil der Kita-Gesetze. Und alle Jahre wieder kommt die Debatte auf, ob Erzieher nicht lieber studieren sollten. Ob das viel verändern würde? Vielleicht, vielleicht nicht, darum geht es hierbei nicht – und es ist schwer, sich darüber ein Urteil zu bilden. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu schauen. In Kitas gibt es ja bereits immer mal wieder Angebote der musikalischen Früherziehung, auch Sprachförderung existiert hier und dort. Viel zu häufig ist sie allerdings bilingualen Kitas vorbehalten, die sich an ein zweisprachiges Publikum aus binationalen Familien richten. Das ist auch wichtig – andererseits haben vor allem nicht-binationale Familien Lern- und Nachholbedarf in diesem Bereich. „Normale“ Kitas fremdeln aber gelegentlich noch mit solchen Erkenntnissen.

Über den eigenen Tellerrand schauen heißt auch, in Länder zu schauen, die nun nicht auf breiter Front zum Vorbild taugen – zum Beispiel, weil sie Diktaturen sind. Aber in China oder Vietnam gibt es eine bemerkenswerte Bereitschaft zum Lernen und Weiterbilden sowie zu gezielter, aber spielerischer Förderung. Singen, Tanzen, technisches Know-how und Sprachen werden hier als selbstverständlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung gesehen – so wie das Spielen im „Schonraum Kindergarten“ bei uns. Aber nochmal: Singen, Tanzen, Sprachen taugen natürlich auch zum Spiel, das ordentlich Spaß macht und nicht zwingend als pure Mühsal und zu vermeidende Nebenwirkung eines durch und durch ökonomisierten Weltbilds zu betrachten ist. Die Offenheit zu einem solchen Weltbild ist der Grundstein für ein kommunikatives Leben, das zufrieden macht.

Die manchmal pathologische Sorge, Kinder zu überfordern, ist übertrieben und möglicherweise der Angst der Erwachsenen vor einer Welt geschuldet, die sie aus eigener Warte heraus ablehnen, zum Beispiel vor dem Hintergrund ihrer Kapitalismuskritik. Sie sollten diese Weltsicht nicht auf ihre Kinder projizieren. Aktivität heißt eben nicht per se negativer Stress. Ein geistig reges und sportlich bewegungsfreudiges Kind kann zu einem optimistischen und kommunikativen Erwachsenen heranwachsen, der mit Siegen, aber auch Niederlagen umgehen kann. Natürlich macht die Dosis das Gift, ob Frühförderung gut oder fürs Kind zu viel des Guten – und damit des Schlechten – ist. Doch gleich vom Schlechten auszugehen, versperrt eben den Blick auf die Chancen. Und das gilt allgemein für unsere Debattenkultur, die zu sehr zwischen Schwarz und Weiß changiert.