
Als wir vor einiger Zeit ein Elterngespräch im Kindergarten hatten, ließ mich eine beiläufig gefallene und witzig gemeinte Äußerung eines Erziehers aufhorchen: Ob wir bestimmte Vorstellungen hätten, was der kleine Elias vielleicht besonders lernen sollte, oder wo man ein besonderes Augenmerk drauflegen sollte? „Klavier? Geige? Chinesisch?“, fragte er amüsiert. Meine Antwort, sarkastisch gemeint: „Klar, genau in dieser Reihenfolge.“ Gelächter. Thema erledigt. Dachten wir.
Im Nachhinein empfinde ich diese kleine Szene als etwas deprimierend, zeigt sie doch, wie sehr wir bei pragmatischen Fragen in einen nicht sonderlich klugen Debattenmodus rutschen, der nur noch Schwarz- und Weißtöne und einen unproduktiven Sarkasmus kennt. Schulterklopfen und Gelächter inklusive. Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Klare Sache, entweder bist du ein zurückgebliebener Nesthüter oder ein herzloser Karrierist. Frühförderung von Kleinkindern? Entweder bist du ein Provinzling, der nicht an die globalisierte Wirklichkeit denkt, oder ein rücksichtsloser Tigerpapa, der nur an die goldene Karriere seines Sprösslings denkt – und dem Kind die Kindheit raubt.
Was für ein Unsinn.
Natürlich hätte ich in dem Gespräch lieber über Frühfördermöglichkeiten für Elias gesprochen. In unserem Haus lebt ein deutsch-amerikanisches Pärchen mit kleiner Tochter, die bilingual aufwächst. Ich fände es gut, wenn kompetente Pädagogen auch unserem Kleinen ein paar erste Schnupperangebote im Englischen machen würden oder beim Erlernen eines Instruments behilflich sein könnten. Leider wird das in unserer Lernkultur vorschnell als Allüre überehrgeiziger Helikoptereltern abqualifiziert, die ihren Kindern die Kindheit madig machten. Als sei der Ehrgeiz der Eltern die neue Prügelstrafe im 21. Jahrhundert.
Was für ein Unsinn, zumindest in dieser Pauschalität.
Die Vorstellung, dass gezielte Frühförderung von Kindern im Kindergartenalter Teufelswerk sei, entstammt den Vorstellungen kapitalismuskritischer Pädagogen. In der Tat ist nicht abzustreiten, dass Kindheiten in den Gesellschaften hochproduktiver Industriestaaten wie Deutschland zunehmend unter dem Druck eines globalisierten Wirtschaftsmodells stehen. Wer heute nicht vernünftig Englisch spricht und am besten eine weitere Fremdsprache, gehört fast schon zu den Ladenhütern auf den (akademischem) Arbeitsmärkten, zunehmend auch darüber hinaus. Welcher Handwerker kann es sich heute noch leisten, kein Englisch zu sprechen? Früh übt sich also nicht nur, wer Karriere machen will, sondern auch, wer nicht abgehängt sein möchte. Das stresst manche Eltern, wenn sie an die Zukunft ihrer Kinder denken.
Und ja, es stimmt auch, dass zeitliche Verdichtung und Leistungsdruck Schülern psychisch stark zusetzen können. Die Fallzahlen psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind in den vergangenen Jahren gestiegen, vor allem in Bezug auf Angststörungen. Laut einer Studie der Krankenkasse DAK haben in Nordrhein-Westfalen rund ein Viertel der Schüler mit psychischen Auffälligkeiten zu kämpfen. Woran das liegt, ist aber nicht restlos geklärt, weshalb sich vorschnelle Urteile verbieten. Ein Grund mag auch sein, dass Eltern eher sensibilisiert sind und aufgrund gestiegener gesellschaftlicher Akzeptanz von psychischen Erkrankungen eher mit ihren Kindern zum Psychologen gehen.
Und um gleich den erwartbaren Gegenargumenten zuvorzukommen: Ja, es gibt auch überehrgeizige Tigereltern, die ihre eigenen Wünsche oder knapp oder deutlich verfehlten Karriereziele auf ihre unschuldigen Kinder projizieren. In anderen Kulturkreisen, zum Beispiel in China, ziehen Elternteile in teuer gekaufte Wohnungen direkt am Schulgelände, damit Leben und Arbeiten näher zusammen rücken. Darin steckt viel aufholender Ehrgeiz in einem Land, das in rasender Geschwindigkeit aus der Armut kommt. Gerade China gilt vielen in Deutschland dennoch als abschreckendes Beispiel.
Alles richtig und alles falsch! Und doch, es ist geradezu typisch für unsere schräge Debattenkultur, aus Übertreibungen, die unsere Welt hervorbringt, gleich wieder Politik zu machen – und alles in Bausch und Bogen zu verdammen, was nach Leistung, Selbstdisziplin und Ehrgeiz aussieht. China inklusive! Freunde, die in China und Vietnam leben und dort ihre Kinder aufziehen, berichten von Förderangeboten wie Gesangs- und Englischunterricht, die wie selbstverständlich in die Vorschulangebote integriert sind. Ob die Kinder daran leiden, ist schwer zu sagen aus der Distanz, es sieht aber nicht so aus. Warum nicht davon lernen?
Leistung, Selbstdisziplin und Ehrgeiz kleiden sich bei Kleinkindern und in vernünftiger (nicht übertriebener) Dosis in spielerisches Gewand. Wer Kleinkinder im Alter von drei, vier oder fünf Jahren aufwachsen sieht, weiß, dass ihnen Lernen nicht gleich Pflicht und Mühsal ist. Kinder stehen zum ersten Mal auf Skiern – und fahren gleich los wie alte Skihasen, die nie etwas anderes gemacht haben. Sie schnappen Worte auf – und internalisieren sie gleich im Langzeitgedächtnis. Kleinkinder lernen permanent, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, das flexible Kindergehirn verfügt über genügend Kapazitäten und saugt Informationen auf wie ein Schwamm. Lernen kann ihnen Spaß machen, wenn die Qualität stimmt.

Das heißt natürlich nicht, dass Kleinkinder Geige, Klavier und Chinesisch lernen sollen. Zur Erinnerung: Was für ein Unsinn! Aber was spricht dagegen, wenn ein Mal die Woche ein eigens für Kleinkinder ausgebildeter Musikpädagoge in die Kita kommt, um spielerischen und kompetenten Musikunterricht zu geben und die Kinder bei den ersten Schritten hin zum Erlernen eines Instrumentes zu begleiten? Die Qualität der Lehre ist entscheidend: Die Schrammel-Gitarre zum Sankt-Martins-Lied reicht eben nicht unbedingt aus, um Kinder für Musik zu begeistern. Dafür braucht es Zusatzausbildungen. Und was spricht dagegen, neben dem Deutschen auch noch eine Fremdsprache spielerisch zu erlernen? Auch das angeleitet durch eine kompetente Person, die Kurse in der Kita anbietet?
Gute Englischkenntnisse sind längst keine Frage mehr alleine der ökonomischen Verwertbarkeit im Berufsleben – sie sind schlichtweg Voraussetzung für ein kommunikatives und damit zufriedenes Leben. Es sei denn, man glaubt, die Kinder werden sich in ihrer Zukunft nur zwischen Flensburg und Passau bewegen und keine Ausländer kennenlernen. Das war einmal!
„Lernen ist nicht pure Mühsal“
Der Bildungsauftrag ist ja längst Teil der Kita-Gesetze. Und alle Jahre wieder kommt die Debatte auf, ob Erzieher nicht lieber studieren sollten. Ob das viel verändern würde? Vielleicht, vielleicht nicht, darum geht es hierbei nicht – und es ist schwer, sich darüber ein Urteil zu bilden. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu schauen. In Kitas gibt es ja bereits immer mal wieder Angebote der musikalischen Früherziehung, auch Sprachförderung existiert hier und dort. Viel zu häufig ist sie allerdings bilingualen Kitas vorbehalten, die sich an ein zweisprachiges Publikum aus binationalen Familien richten. Das ist auch wichtig – andererseits haben vor allem nicht-binationale Familien Lern- und Nachholbedarf in diesem Bereich. „Normale“ Kitas fremdeln aber gelegentlich noch mit solchen Erkenntnissen.
Über den eigenen Tellerrand schauen heißt auch, in Länder zu schauen, die nun nicht auf breiter Front zum Vorbild taugen – zum Beispiel, weil sie Diktaturen sind. Aber in China oder Vietnam gibt es eine bemerkenswerte Bereitschaft zum Lernen und Weiterbilden sowie zu gezielter, aber spielerischer Förderung. Singen, Tanzen, technisches Know-how und Sprachen werden hier als selbstverständlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung gesehen – so wie das Spielen im „Schonraum Kindergarten“ bei uns. Aber nochmal: Singen, Tanzen, Sprachen taugen natürlich auch zum Spiel, das ordentlich Spaß macht und nicht zwingend als pure Mühsal und zu vermeidende Nebenwirkung eines durch und durch ökonomisierten Weltbilds zu betrachten ist. Die Offenheit zu einem solchen Weltbild ist der Grundstein für ein kommunikatives Leben, das zufrieden macht.
Die manchmal pathologische Sorge, Kinder zu überfordern, ist übertrieben und möglicherweise der Angst der Erwachsenen vor einer Welt geschuldet, die sie aus eigener Warte heraus ablehnen, zum Beispiel vor dem Hintergrund ihrer Kapitalismuskritik. Sie sollten diese Weltsicht nicht auf ihre Kinder projizieren. Aktivität heißt eben nicht per se negativer Stress. Ein geistig reges und sportlich bewegungsfreudiges Kind kann zu einem optimistischen und kommunikativen Erwachsenen heranwachsen, der mit Siegen, aber auch Niederlagen umgehen kann. Natürlich macht die Dosis das Gift, ob Frühförderung gut oder fürs Kind zu viel des Guten – und damit des Schlechten – ist. Doch gleich vom Schlechten auszugehen, versperrt eben den Blick auf die Chancen. Und das gilt allgemein für unsere Debattenkultur, die zu sehr zwischen Schwarz und Weiß changiert.
Intelligente Eltern dürfen entspannt sein, denn bei deren Kindern wird nichts schiefgehen.
Schwierig sind die verspannten, abstiegsängstlichen und wenig selbstbewussten Eltern. Diese Eltern schaden ihren Kindern. Last but not least: Hat uns die Freizeit geschadet, die wir hatten?
Kinder lernen aus Neugierde mit Spaß und ohne Zwang
Sie beobachten und imitieren gerne Erwachsene. Das geschieht so ganz nebenbei in Küche, Werkstatt, Garten,am Sportgerät und Musikinstrument.Sprachen und Dialekte erfassen sie besonders schnell im Umgang mit bilingualen Eltern und spielend leicht mit fremdsprachigen Spielkameraden. Berufsbedingte Aufenthalte der Eltern im Ausland sind diesbezüglich sehr förderlich.Es darf nur kein Zwang entstehen, dann ist eine einfühlsame Förderung durch Fachkräfte durchaus angezeigt.
Eltern sind Vorbilder
Was mich an dieser Diskussion „Klavier, Geige, Chinesisch“ immer nervt ist, dass es stets heißt, was soll / muss das Kind lernen? Und das wird dann Frühförderung genannt. Frühförderung ist aber, dem Kind Raum für seine eigene Entwicklung zu geben – und Zeit (Langeweile ist ganz wichtig, damit Kinder anfangen, kreativ zu werden). „Klavier, Geige, Chinesisch“ oder eben auch Englisch in dem Alter ist keine Frühförderung, sondern Mist, wenn es künstlich oktroyiert wird. Für die Kinder ist nämlich das soziale Umfeld, insbesondere die Eltern und Freunde, ein Vorbild. Dadurch entwickeln sie sich, dadurch erhalten sie Anregungen und Angebote, aber es muss authentisch sein – so gesehen sollten die Eltern „Klavier, Geige, Chinesisch“ oder eben auch Englisch lernen, um die Neugier der Kinder zu entfachen. By the way: Hier in Ostfriesland braucht kein Handwerker Englisch, die müssen Platt können!
Guten Tag, merkwürdig, was Sie alles aus diesem Text herauslesen. An welcher Stelle steht geschrieben, dass Üben im familiären Umfeld nicht dazu gehört? Nicht weiter zu erwähnen, dass der Autor seit mehreren Jahrzehnten ein Instrument spielt, das – Obacht! – durch Üben erlernt wurde. Diesen latenten Beleidigungsmodus können Sie sich doch bei einem sachlichen Thema wie diesem sparen.
Bis vor 30-35 Jahren war das in D auch noch so.
Da waren Leistung und Ehrgeiz normal. Die Besten wurden besonders gelobt und alle anderen waren motiviert, es ihnen gleich zu tun, sie gar zu übertreffen. Schon im Kindergarten beim Spielen. Im Kindergarten gab es jede Woche 1x gemeinsame Arbeit mit Triangel und Tamburin, 1x Papierbastelübungen 1x… Und das hat entweder Spaß gemacht oder Frusttoleranz geschaffen, man merkte, bei einigen Dingen ist man selber gut, bei anderen schlecht, da sind andere besser. Wie im richtigen Leben.
Mir scheint, dass es in den 80ern einen massiven Bruch im Erziehungsstil gegeben hat. Seitdem sind Ehrgeiz und Leistung verpönt, das Individuum soll im Vordergrund stehen, von jeder Enttäuschung und Aufwand geschützt. Zu welchem Zweck? Nie erkannt.
Aber so haben Egoismus, Leistungsarmut und Unbelastbarkeit in unserer Gemeinschaft systematisch um sich gegriffen. Wo das endet, ist abzusehen. Alle Gesellschaften gehen an sich selbst zugrunde.
Bretter
Lieber Herr Benninghoff – Super Artikel, aber wenn Sie mir jetzt noch verraten koennen, wie das mit den „einmal auf die Skier gestellt, und schon fahren sie los“ bei Elias klappte, dann waere uns sehr geholfen. Bei unseren Kindern war die diesbezuegliche Geburt ausgesprochen muehsam und „laut“, wenn ich das mal so formulieren darf. Ich hoffe jedenfalls, dass Elias spaeter als Skilehrer arbeiten wird mit dieser neuen Lern-Technik. (Zur Klarstellung sicherheitshalber: dieser Kommentar war nicht als Kritik gemeint!)
Lieber Herr Schieser, wenn ich das wüsste – wir haben uns mit Rodeln begnügt im Winterurlaub. Aber in den Skikindergärten und den Skischulen in den Schneegebieten sieht man die vergleichbaren Kleinkinder ja Skifahren. Ich habe mir das nur angeschaut und war verblüfft. Beste Grüße, M. Benninghoff
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Klavier, Geige, Chinesisch,
das klingt geradezu perfekt. Dazu noch ein paar Sportarten und Malen, Zeichnen. Die Kinder sind bis 7-8 extrem aufnahmefähig, das hat ja wohl auch gute Gründe. Ich spiele schon mein Leben lang Klavier und treibe Sport, das hat mir gerade in schwierigen Lebenssituationen immer geholfen. Wer sich f. frühkindliche Störungen interessiert, der sollte sich mit Franz Ruppert und dessen Psychotraumatologie beschäftigen.
Guten Tag, danke für Ihren Beitrag. Mir ging es darum, die von Ihnen angesprochene Bandbreite zu thematisieren – aber das kann ich auch sicherlich demnächst nochmal präzisieren. Beste Grüße, M. Benninghoff
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Ok, danke fuer Antwort, aber es sei der Hinweis gestattet, dass auch fuer die Knirpse das gelernt sein will. Wir haben bereits 3 kinder in Skischulen gesteckt und koennen bestaetigen, dass das durchaus sein Zeit braucht, bis die Kleinen die Kunst beherrschen. Dies koennen uns auch unsere Freunde in der Alpenrepublik betaetigen, deren Kinder in der Tat schon mit 3-4 Jahren besser als ich skifahren, aber diese Familien gehen eben auch fast jedes Winterwochende in die Berge… Verblueffend ist es jedoch, wie flott & geschmeidig die 3-Kaese-hochs dann nach einer gewissen Zeit fahren koennen. B.Gr.