„Ich bin so froh, wenn ich endlich sechzehn werde!“, seufzt meine Tochter Lara seit Monaten in regelmäßigen Abständen sehnsüchtig. Sechzehn – die Zahl hört sich wie eine Offenbarung für sie an. So eine kindliche Aufregung vor einem Geburtstag habe ich das letzte Mal bei ihr vor mehr als zehn Jahren erlebt. Doch dieser Geburtstag wird für sie besonders: Mit sechzehn kann man offiziell auf Oberstufenpartys aufschlagen, Diskotheken besuchen, Bier und Wein kaufen – paradiesische Zustände für eine Heranwachsende, die bisher nur mager am Nachtleben nippen durfte. Sechzehn ist fast erwachsen! Dann wird man ernst genommen! Nicht mehr als Kind abgestempelt!
Ich verstehe meine Tochter. Vor mehr als drei Jahrzehnten fieberte ich meinem sechzehnten Geburtstag genauso heiß entgegen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie es im Bauch kribbelte, als ich mit fünfzehn mit meinen Freunden vor dem Eingang unserer Heimatdisco stand – dem sagenumwobenen Kultladen schlechthin. Im Inneren des abgewrackten Mauerwerks hielt sich das ganze Who-is-Who der Umgebung auf. Ich wollte so gerne zwischen all den älteren coolen Oberstufenschülern und den noch cooleren Twens stehen, tanzen und dazugehören. Ich stand mit klopfendem Herzen in der Schlange, versuchte einen gleichgültigen Gesichtsausdruck hinzukriegen und betete, dass der Türsteher mich nicht fokussierte. Wenn er abgelenkt war, klappte das manchmal und ich schlüpfte an ihm vorbei, geradewegs hinein ins Paradies. Lief es für mich schlecht, bekam ich das gefürchtete Wort zu hören: „Ausweis!“ Ich riss verstört die Augen auf und faselte etwas von „vergessen“ oder „verloren gegangen“. Er machte eine wegwerfende Bewegung und sagte arrogant (seine Spezies war nie nett zu uns Teenagern): „Tschüss!“ und ich trat mit hochrotem Kopf den Rückzug an. Für schlecht gefälschte Schülerausweise hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Damit kam man ihm am besten erst gar nicht. Es half also nur eins: endlich sechzehn werden! Es fühlte sich wie grenzenlose Freiheit an, als ich schließlich meinen frisch ausgestellten Personalausweis in der Hosentasche hatte. Triumphierend hielt ich dem Türsteher ein paar Tage nach meinem sechzehnten Geburtstag die Plastikkarte unter die Nase und passierte zum ersten Mal offiziell autorisiert die Zaubertür. Adieu, ihr Babys, geht nach Hause! Hier drinnen spielen nur die Großen, und ich gehöre ab jetzt dazu!
Ich habe meine Jugendzeit genossen. Sie war wohl die intensivste und prägendste Phase meines Lebens: Immer unterwegs, Freunde treffen, Spaß haben, Cappuccinos im Café schlürfen, in die Disco gehen, die ersten Urlaube alleine (siebzehn endlose Stunden mit dem Reisebus nach Italien in ein mies gelegenes Hotel mit Etagenbad, schlechtes Essen inklusive – damals die besten zwei Wochen meines bisherigen jungen Lebens). Hinzu kamen die vielen persönlichen Katastrophen, wie Liebeskummer oder Streit mit der allerbesten Freundin. Diese Themen dominierten meine Gedanken und meinen Alltag. Die Schule lief mehr oder weniger nebenher und weil ich ständig pleite war, musste ich nebenbei tüchtig jobben. Mir Gedanken über meine berufliche Zukunft machen? Echt jetzt? Was weiß ich denn, was ich für den Rest meines Lebens machen will und warum soll ich ausgerechnet jetzt Mathe pauken, wo es doch so viele wichtigere Dinge in meinem Leben gibt und ich außerdem dauernd müde bin?
Inzwischen habe ich eine Menge Lebenserfahrung dazugewonnen. Mein Blickwinkel hat sich verändert. Seitdem ich die Verantwortung für zwei Kinder trage, sehe ich viele Dinge spießiger und bin ängstlicher als früher. Es ist nun meine Aufgabe, meine Tochter in der Spur zu halten und die Rolle der Vernünftigen und Spielverderberin zu übernehmen. „Wenn ich sechzehn bin, kann ich endlich offiziell in die Disco“, sagt Lara. „Wenn du sechzehn bist, kannst du dir einen richtigen Nebenjob suchen und dir etwas zum Taschengeld dazuverdienen. Wir sind ja keine Melkkühe“, sage ich. „Und du musst dich um dein Schulpraktikum und deine Kurswahl kümmern. Das Leben besteht nicht nur aus den angenehmen Seiten. Du hast auch Pflichten.“ All diese Sprüche, die man früher selber nie hören wollte, gebe ich nun in regelmäßigen Abständen von mir.
Karneval haben mein Mann und ich Lara vom Straßenkarneval abgeholt. Traditionell versammeln sich ausschließlich Jugendliche an einem bestimmten zentralen Platz im Ort, um zu feiern. Als wir uns dem Festplatz der Jugend näherten, bot sich uns ein verstörendes Bild: Schwankende und lallende junge Männer in Ganzkörper-Schweinchenkostümen mit Bierflaschen in der Hand, für die kalten Temperaturen viel zu luftig gekleidete Cowgirls und Kätzchen mit verlaufener Schminke, die schon eindeutig zu viel intus hatten – die geballte Ladung jugendlichen Leichtsinns, verteilt auf 2000 Quadratmetern. Wir waren schockiert und angeekelt und schauten uns entsetzt an. Sind wir früher etwa auch so drauf gewesen? Am liebsten hätte ich den Kopf geschüttelt und alles abgestritten. Nein! So waren wir nicht! In unserer Jugend ging es viel gesitteter und vernünftiger zu! Wirklich?! Nicht wirklich! Die unangenehmen, peinlichen Seiten der eigenen Jugend möchte man nämlich liebend gerne vergessen und so tun, als wäre man schon als Erwachsener, mit einem perfekt organisierten Lebensplan in der Hand, auf die Welt gekommen. Aber das sind wir nicht!
Es ist der alte Generationenkonflikt. Um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind, und Junge begreifen nie, dass sie alt werden können.“ (Aus „Der Mensch“, veröffentlicht unter dem Pseudonym Kaspar Hauser).
Wenn Lara mit mir diskutiert, um etwas durchzusetzen (so wie die Karnevalstage letzten Monat), sagt sie: „Mensch, Mama, du warst doch auch mal jung. Du musst doch wissen, wie wichtig das für mich ist.“ Und wenn ich im Gegenzug etwas von ihr will (z.B. ein intensives Gespräch darüber, ob es nun sinnvoll ist die dritte Fremdsprache weiter zu nehmen oder abzuwählen) sage ich: „Ich war auch mal jung und weiß, dass du jetzt keinen Bock hast, dir Gedanken über die Reichweite deiner Entscheidungen zu machen. Aber du musst dich ein bisschen mit deiner Zukunft auseinandersetzen.“
Und da ich selbst sehr vorausschauend bin, orakele ich, dass es nicht lange dauern wird, bis Lara nach ihrem Geburtstag anfangen wird, erneut zu seufzen und zu sagen: „Ich bin so froh, wenn ich endlich achtzehn werde!“ Weil man mit achtzehn, zumindest auf dem Papier, endlich richtig und vollständig als Erwachsene gilt. Mit achtzehn kann einem keiner mehr etwas verbieten (zumindest rein theoretisch – in der Praxis kennen wir doch alle den berühmt-berüchtigten Solange-du-deine-Füße-unter-…-Spruch). Mit achtzehn darf man endlich so lange in der Disco bleiben wie man will, rauchen, hochprozentige Cocktails trinken, seine Entschuldigungen und Klausuren selber unterschreiben und alleine Auto fahren. „Mit achtzehn werde ich endlich frei sein!“, dachte auch ich vor dreißig Jahren. Und auch nicht aus den besten Gründen: Ich war es einfach furchtbar leid, mich um kurz nach Mitternacht auf dem Disco-Klo einzuschließen, weil die Türsteher durch den Saal liefen, um die Minderjährigen abzufischen und nach Hause zu schicken.