Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Mama verschwindet

Von unseren Eltern müssen wir uns oft in kleinen schmerzhaften Schritten verabschieden.

Ein Besuch im Altersheim unserer Mutter gleicht derzeit einer Kostümparty. Das Outfit liegt in der Desinfektionsschleuse bereit: blaue Plastikhandschuhe, grüner Kittel, Duschhaube, Nasen-Mundschutz und ein Plastikvisier oben drüber. „Du siehst aus wie ein Frosch“ begrüßt mich Mama und lächelt freundlich.

Das ist eine wunderbare Begrüßung, denn dieses Lächeln ist vertraut. In diesen Tagen weiß man nie, was einen erwartet: Desinteresse, Jammern oder Einsilbigkeit, herzliche Freude oder eine brüchige Stimme, die davon spricht, endlich sterben zu wollen.

Mütter haben eigentlich einen Vertrag unterzeichnet, als Konstante bereitzustehen. Als Markierung durch den Dschungel des Lebens, die manchmal hell aufleuchtet und den Weg vorgibt, uns manchmal als Warnsignal in die komplett andere Richtung jagt. Aber sie sind da, verlässlich, oft nervig, liebevoll, übergriffig, voller Macken wie wir auch. Wir kennen sie eben und können uns an ihnen orientieren.

Das ist jetzt vorbei. Mama ist alt geworden und ändert sich zum ersten Mal in einer Weise, die sie uns fremd werden lässt. Jahrzehntelang war sie die perfekte Tochter aus besserem Hause: souverän und selbstsicher, freundlich und hilfsbereit. Ihr Trick in allen widrigem Lebenslagen: Sei nützlich und helfe anderen.

Sie fand immer irgendwo eine bedürftige Nachbarin, für die sie einkaufen konnte, ein vernachlässigtes Schulkind, dem sie bei den Hausaufgaben half, eine krebskranke Freundin, der sie regelmäßig Mut zusprach. Sie hatte immer eine Aufgabe und wurde gebraucht.

Jetzt fällt Mama der Name des Schulkinds nicht mehr ein, die Nachbarin war ihr ja schon immer sehr lästig gewesen und auf den Tod der Freundin reagiert sie mit den Worten: „Ach, jetzt erst?“. Die da draußen sind allesamt unwichtig geworden, sie interessieren sie nicht mehr. Ihre Welt schrumpft, zieht sich auf jene 20 Quadratmeter zusammen, die sie nun im Altersheim bewohnt. Was da draußen ist, hat kaum noch Bedeutung. Wir Kinder drängen uns in ihr Blickfeld, aber wann wird sie uns gar nicht mehr sehen?

Der Unfall eines Verwandten, die Schulprüfung meines Kindes, ihre Wohnung, die aufgelöst werden muss, alles gerät in den Randbereich ihrer Wahrnehmung. Ihre Wirklichkeit spielt sich nur noch in ihrem Ein-Zimmer-Appartement ab. Plus Balkon mit Blick ins Grüne. Dort sitzt sie oft und schaut auf das grün schimmernde Blätterdach eines Kastanienbaums, aus dessen Tiefen Vogelgezwitscher dringt. „Die singen viel lauter als früher“, sagt sie überzeugt und lauscht ihnen andächtig. Diese Stimmen scheinen sie viel eher zu erreichen.

Rausgehen mag sie trotzdem nicht, schon gar nicht jetzt, wo doch alle mit Stoff vor dem Gesicht herumlaufen. Sie versteht auch kaum etwas, wenn die anderen auf Abstand durch ihre Masken murmeln. Sie will auch kaum noch mit anderen reden.

Sie, die früher die Haschbrüder, Mopedrocker und Gefängniswärter, die meine Schwester und ich im Lauf der Zeit so anschleppten, um den Finger wickeln konnte. Die Kollegen, Angestellte und Verwandte über Jahre an sich band. Alle lagen ihr über kurz oder lang zu Füßen. Mama ging auf jeden Menschen zu und entwaffnete ihn mit einem Lächeln.

Jetzt wirkt sie oft ernst, in ihrem kleinen 20-Quadratmeter-Leben. Das scheint sie weniger zu bedrängen als uns Töchter. Wir sehen, was sie verliert, wenn wir die Kisten voller Fotos und Briefen aus ihrer Wohnung holen, die Bücher mit Widmungen, die Reiseandenken. Mutter braucht nur noch ihren Fernsehsessel, ihren Rollator und den Computer, um daran Patiencen zu legen.

An manchen Tagen fühlt sie die Einsamkeit tonnenschwer auf sich liegen, aber sie weiß nicht mehr, was man dagegen tun kann. Ihre vielen Bekannten anzurufen, fällt ihr nur an manchen Tagen ein, an anderen Tagen ergibt sie sich dieser bleiernen Schwere und dämmert darunter weg.

Beim nächsten Besuch macht sie die Tür nicht auf. Also muss sich der grüne Besuchsfrosch schwitzend einen Ersatzschlüssel für das Appartement besorgen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Mama ist fest im Fernsehsessel eingeschlafen, hat sogar noch ein Beruhigungsmittel genommen und ist wie weggetreten, als ich sie wecke. Es dauert die Hälfte der erlaubten Besuchszeit von einer Stunde, bis sie ansprechbar ist.

Dann sagt sie unvermittelt mit trauriger Stimme: „Wir haben uns doch früher blind verstanden, warum fällt es denn jetzt so schwer, miteinander zu reden?“ Und während ich den Kloß in meinem Hals runterschlucke, bevor ich antworte, plappert sie schon weiter: „Ich hatte so ein gutes Mittagessen heute, es gab Spargel, und dann noch ein leckeres Dessert.“

Sie lächelt beseelt in Erinnerung an ihre leckere Mahlzeit und die Traurigkeit ist bei ihr wie weggeblasen und landet nun in meinen Rucksack, den ich wieder mit nach Hause nehme.

Unser Leuchtturm geht verloren. Noch scheitern wir daran, das auszuhalten.