Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Warum Zwillinge auch mal getrennt werden sollten

Zwei gleich alte Jungs – sollten die alles zusammen machen? Auf keinen Fall, finden Entwicklungspsychologen.

„Unfair“ ist das neue Lieblingswort meines Sohnes Tiago. Er benutzt es ununterbrochen. Denn das Leben ist für ihn derzeit vor allem eins: Ungerecht. „Unfair, der Fabian hat eine Scheibe Brot mehr als ich! Unfair, wieso darf ich nicht neben Mama sitzen? Unfair, ich wollte zuerst in die Badewanne.“

Natürlich versuche ich meine Zwillingsjungs so gleich wie möglich zu behandeln. Geschenke gibt es meistens für beide, Eis sowieso, und spiele ich mit Tiago eine Runde „Verrücktes Labyrinth“, hat natürlich auch Fabian Anspruch auf eine exklusive Spieleinheit nur mit mir. Irgendwann verliere ich aber den Überblick. Um absolut gerecht handeln zu können, müsste ich Buch führen über Sitzordnungen, wer wann zuletzt das gelbe Mickey-Mouse-Shirt getragen hat und wie viele Küsschen ich an wen verteilt habe. Kleinigkeiten, die ich längst vergessen habe, wissen meine Kinder noch ganz genau. Und wenn irgendwo ein Ungleichgewicht zu Tage tritt, lässt die Empörung nicht lange auf sich warten: „Unfair!“

Dass sich Geschwister untereinander vergleichen, kennen wohl alle Familien. Bei Zwillingen ist die Situation extremer. Zwei Kinder, gleiches Alter, in unserem Fall auch mit dem gleichen Geschlecht, den fast ausschließlich gleichen Interessen, Spielkameraden und Vorlieben. Da fällt es manchmal schwer, die beiden nicht als Einheit anzusehen und sich nur auf ein Kind zu konzentrieren. Wie oft ertappe ich mich dabei, dass ich Tiago und Fabian nicht mit ihren Namen anspreche, sondern einfach rufe: „Freunde, räumt bitte euer Zimmer auf!“

Dabei sind die beiden bei genauerer Betrachtung ziemlich unterschiedlich. Sie kamen zwar am gleichen Tag mit einem Abstand von nur einer Minute auf die Welt, doch dann hören die Gemeinsamkeiten schnell auf. Tiago: dunkelhaarig, olivfarbene Haut, braune Augen. Und Fabian: hellhäutig, blau-grüne Augen und mit einem blonden Flaum auf dem Kopf. Es dauerte keine zwei Nächte, und mein Mann und ich konnten die beiden am Sound ihres Schreiens erkennen. Meistens war es sowieso Fabian, der schrie. Tiago schlief mit drei Monaten bereits acht Stunden am Stück. Sein Bruder hingegen wachte noch mit drei Jahren alle vier Stunden auf. Mit elf Monaten trippelte wiederum Fabian bereits durch die Wohnung und rief „Tor“, während Tiago seine ersten Schritte mehr als ein halbes Jahr später mit 18 Monaten machte. Mit zweieinhalb legte Fabian seine Windel ab, Tiago erst sechs Monate später. Natürlich durchlief er die gleiche Sauberkeitserziehung (ein schreckliches Wort!) wie sein Bruder, aber es klappte einfach nicht. Als Tiago dann drei Jahre alt war, sagte er eines morgens zu mir: „Mama, ich will heute keine Pampers, sondern eine Unterhose.“ Von da an war das Thema erledigt. Er hatte einfach beschlossen, aufs Klo zu gehen. Was man in jedem Buch über kindliche Entwicklung nachlesen kann, hat sich bei uns bewahrheitet: Jedes Kind hat sein eigenes Tempo.

Solange die Kinder die Unterschiede nicht wahrnehmen ist ja auch alles gut. Schwierig wird es zum Beispiel dann, wenn der gleich alte Bruder schon besser Fahrradfahren kann als man selbst. Fabian radelt bereits ziemlich gut. Das 16-Zoll-Kinderfahrrad ist für ihn mittlerweile viel zu klein. Eigentlich wollten wir am Wochenende daher nur mal schauen, ob er vielleicht schon bereit ist für ein 20-Zoll-Rad mit Gangschaltung und ohne Rücktritt. Ehe wir’s uns versahen, standen wir bereits an der Kasse mit einem super coolen großen Jungsfahrrad. Fabian konnte sein Glück kaum fassen und strahlte, als hätten wir ihm gerade erzählt, dass es ab sofort jeden Tag Pancakes zum Frühstück gibt. Sein Bruder Tiago machte hingegen ein Gesicht wie Rosenkohl. „Unfair, wieso kriegt der Fabian ein neues Fahrrad und ich nicht?“

Natürlich durfte Tiago auch ein großes Rad ausprobieren. Doch obwohl er genauso groß ist wie sein Bruder, schlenkert er noch sehr unsicher auf zwei Rädern durch die Gegend. Es macht noch keinen Sinn, ihm ein größeres zu kaufen. Aber erklären Sie das mal einem Fünfjährigen. Kann ich ihm es also zumuten, dass er dieses Mal leer ausgeht und ihn vertrösten, dass er ein neues Fahrrad bekommt, sobald er damit fahren kann? Ich finde schon. Mehr noch, ich finde es sogar wichtig, dass auch Zwillinge die Erfahrung machen, dass sie nicht immer beide das Gleiche bekommen. Bei „normalen“ Geschwistern ist das ja auch nicht anders. Zumindest meistens. Ich habe aber auch schon oft die Situation erlebt, dass am Geburtstag oder auch der Einschulung des großen Bruders der kleinen Schwester auch ein Geschenk gemacht wird, damit sie nicht enttäuscht oder traurig ist. Muss das sein? Ich finde nicht.

Nun könnte der Eindruck entstehen, dass Fabian so viel weiter ist und sein Bruder in seinem Schatten steht und zurückstecken muss. Dem ist glücklicherweise nicht so. Ja, Tiago war in allen motorischen Entwicklungsschritten bis jetzt immer etwas hinter seinem Bruder her, dafür ist er aber kognitiv bereits weiter. Manchmal bin ich selbst erstaunt über seine Gedankengänge und Rückschlüsse auf die Welt, das Leben und sogar den Tod. Er weiß, was er will und lässt sich nicht so schnell aus dem Konzept bringen. Wenn ich hingegen Fabian frage, welche Eissorten er in seine Waffel haben möchte, antwortet er mit einer Gegenfrage: „Was will denn der Tiago?“ So ist das bei vielen Dingen. „Will der Tiago auch Fußball spielen? Welches T-Shirt hat der Tiago heute an?“ und so weiter und so fort.

Gerade weil er alles genau so machen möchte wie sein Zwillingsbruder, planen wir, die beiden nächstes Jahr in zwei getrennte Klassen einschulen zu lassen. Einfach wird das sicher nicht. Ich würde mir wahrscheinlich viel Stress und Organisation ersparen, wenn Fabian und Tiago in dieselbe Klasse gingen. Für ihre Entwicklung ist es aber sicher besser. So werden sie nicht von Anfang an als die „Zwillinge“ wahrgenommen, sondern als zwei Individuen. Sie sollen unabhängig voneinander Freundschaften schließen, Hobbys entwickeln und lernen können. Und irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft sind es dann eben Tiago und Fabian, zwei Brüder und nicht: die Zwillinge.

Bis dahin haben wir aber noch ein wenig Zeit. Das eine oder andere Entwicklungsgespräch in der Kita steht noch an. Natürlich werde ich mich auch hier von den Pädagogen beraten lassen. Damit der Einschnitt dann auch nicht zu groß wird, nehmen mein Mann und ich uns immer wieder vor, Dinge getrennt mit den Kinder zu unternehmen und sie auch eigene, individuelle Erfahrungen machen zu lassen.

Das fängt beim exklusiven Eisessen oder Fahrradfahren mit Papa an und hört beim Play-Date für nur einen Zwilling auf. Meistens werden Tiago und Fabian natürlich gemeinsam zum Spielen eingeladen. Allzu oft kommt das aber auch nicht vor. Denn wer sich zum eigenen Kind noch zwei weitere nach Hause einlädt, hat die Bude nicht nur voll, sondern in Nullkommanix auch auf dem Kopf stehen. Wie sagte Andy Warhol mal so treffend: „Einer ist Gesellschaft, zwei sind eine Menge und drei sind eine Party.“

Bei drei Kindern entsteht meistens, ob man will oder nicht eine Dynamik, die nur schwer zu durchbrechen ist. Spielen anfangs noch alle in trauter Dreisamkeit, kommt irgendwann der Moment, an dem die Stimmung kippt und sich zwei gegen den anderen verbünden. Ich wünsche mir auch hier für meine beiden Jungs die wertvolle Erfahrung einer Zweier-Freundschaft. Andererseits: Die haben sie natürlich schon längst gefunden.