Die Textnachricht meiner Tochter klang aufgeregt: Ob eine Freundin bei uns übernachten könne, sie hätte zu Hause viel Drama. Da ich grundsätzlich nichts gegen Übernachtungsgäste einzuwenden habe, weil auch in Corona-Zeiten ein eigenes Zimmer für sie zur Verfügung steht, war meine einzige Einschränkung, den Eltern Bescheid zu sagen, wo sich deren Brut befindet.
Dass diese kurzentschlossene Gastfreundschaft vielleicht keine so gute Idee war, merkte ich, als das lächelnde Mädchen mit glasigem Blick und einer deutlichen Fahne von meiner Tochter an mir vorbei gezerrt wurde. Beide verschwanden im Kinderzimmer. Während ich in der nächsten halben Stunde mit mir haderte, was zu tun sei, nahmen die Dinge ihren unvermeidlichen Lauf: Meine Tochter holte sich wortlos einen Eimer und verschwand wieder.
Mich schüttelte es bei dem Gedanken, gleich den Boss der Aufräumarbeiten geben zu müssen. Mein Kind, das normalerweise in lautes Ekelgeschrei ausbricht, sobald sie fünf eigene Haare aus dem Ausguss fischen soll, würde es da drin wahrscheinlich keine weiteren fünf Minuten länger aushalten. Nun härtet man als Elternteil im Lauf der Jahre gegen gewisse Dinge ab, man schafft es entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, volle Windeln und später nasse Betten zu wechseln, ohne das eigene Kind weniger zu lieben, aber bei fremden Kindern wirkt dieser Zauber nur bedingt.
Meine Überwindung war allerdings gar nicht gefragt. Die Tür blieb zu. Irgendwann schlich ich vorbei und hörte meine Tochter tröstende Worte zu ihrer sterbenselenden Freundin sagen: „Lass alles raus“. Nach einer Stunde kam mein Kind heraus, um mit mir zusammen das Gästebett zu beziehen. Zu mehr wurde ich nicht gebraucht. Meine Tochter verfrachtete die Freundin nach nebenan, zog ihr eigenes Bett ab, füllte die Waschmaschine und gönnte sich neues Bettzeug. Schließlich fand ich sie gegen 23 Uhr in der Küche, wo sie ihr Abendessen nachholte.
Als sie am nächsten Morgen die frisch gewaschenen Klamotten ihrer Freundin vor der Schule trockenbügelte, sagte sie schon voll Überzeugung. „Ich glaube, ich wäre eine gute Mutter“. Ich hätte gerne spontan applaudiert.
Während sich das unglückliche fremde Kind im Bad einigermaßen frisch machte, googelten meine Tochter und ich, womit man einem Menschen mit Kater etwas Gutes tun kann. Wir lasen auch etwas darüber, was das Mädchen mit ihrem Körper angestellt hatte (Zellgifte!) und ich strich in Gedanken das abendliche Glas Wein bis auf weiteres. Es war ein wahrhaft ernüchterndes Erlebnis für mich.
Am nächsten Abend habe ich mir meine Tochter dann noch mal in Ruhe vorgeknöpft. Nicht wegen des Ausfalls ihrer Freundin, sondern weil sie eine wichtige Erfahrung unbedingt abspeichern sollte: Wie stark sie sein kann, wenn es drauf ankommt und wie vorbildlich sie einer Freundin beisteht, wenn es der wirklich dreckig geht. Am liebsten hätte ich ihr davon einen Linolschnitt angefertigt.
Im Umgang mit meinem Kind neige ich dazu, die Geduld zu verlieren, wenn sich die Dinge ganz anders als erhofft entwickeln. Dieses Mal hatte ich gelernt, wie hilfreich das Stillhalten sein kann. Meine Tochter hatte Raum, die Situation souverän zu meistern, auch wenn sie am nächsten Tag aufstöhnte: „Das brauche ich nicht noch mal“. Und ich sah sie seit langem wieder voller Bewunderung und Stolz an und nicht mehr als diese träge, schwere Teenagermasse, die wir Eltern immer irgendeinen Berg hinaufschieben müssen.
Es tat beiden Seiten gut, die eingefahrenen Rollen zu verlassen. Meine Tochter hatte sich erwachsen verhalten und ich hatte es zugelassen. Nicht gebraucht zu werden fiel mir allerdings in dieser außergewöhnlichen Situation auch besonders leicht, sonst bin ich das Einmischen schon sehr gewohnt. Aber auch ich kann ja noch dazulernen.
Seit diesem Vorfall reden mein Kind und ich wieder öfter miteinander, offener, freundlicher. Und ich bin diesem fremden Mädchen fast dankbar. Fast.