Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Es sind nur Schuhe, sie sollte mir doch keine Niere spenden“

Wie hochhackig gehen wir zur Party? Manchen Jugendlichen fehlt das passende Equipment, sodass sie sich bei Geschwistern bedienen müssen.

Kennen Sie den Film „In den Schuhen meiner Schwester“?“  Cameron Diaz und Toni Collette spielen zwei Schwestern, die auf dem ersten Blick nichts gemeinsam zu haben scheinen – außer ihrer Schuhgröße: Das hübsche Partygirl Maggie (Diaz) genießt ihr Leben mit Nichtstun. Damit treibt sie ihre verantwortungsbewusste und leicht spießige Schwester Rose (Collette) in den Wahnsinn. Sie bedient sich heimlich an Roses Schuhen oder stürzt auf Partys so schwer ab, dass Rose sie mitten in der Nacht auflesen muss. Als Maggie Roses Chef, in den Rose verliebt ist, verführt, kommt es zum Bruch zwischen den Schwestern.

Maggie und Rose erinnern mich ein wenig an meine eigenen Töchter. Lara (17) und Maya (14) sind sehr verschieden und besitzen trotz Altersunterschieds fast die gleiche Schuhgröße. Lara ist wie Maggie – chaotisch, spontan und immer für eine Party und neue Abenteuer zu haben. Sie bedient sich gerne ungefragt an Dingen, die ihr nicht gehören oder sie vergisst, diese zurück an Ort und Stelle zu legen. Da finde ich schon mal meine Powerbank (leer) oder meine Strickjacke (dreckig) irgendwo vergraben unter einem Haufen Klamotten in ihrem Zimmer oder die Zahnpasta eingetrocknet und zerquetscht neben dem Waschbecken, während der Deckel unter dem Badschrank liegt.     

Bei Maya hat jedes Teil seinen festen Platz. Meine Jüngste bemerkt sofort, wenn jemand etwas von ihren Sachen angerührt hat. Ihre Schulbücher und Hefte sind gewissenhaft eingeschlagen und frei von Eselsohren. Ihre Kleidung darf nicht einmal ich in den Schrank räumen, denn sie hat ihre eigene, spezielle Falttechnik und Ordnung. Stifte, Nagellacke und Kleidung sortiert sie nach Farben. Sie legt jeden Abend ihre Sachen für den nächsten Tag sorgfältig zurecht. Bei ihr ist alles von vorne bis hinten organisiert und sie geht nicht gerne Risiken ein. Wie Rose schwärmt sie für hohe Schuhe. Schon als Kind stöckelte sie in meinen Pumps stundenlang durchs Haus, je höher, desto besser. Um Schuhe und Streit zwischen den Schwestern geht es auch in diesem Text:   

Es ist Samstag und Lara ruft mich aufgelöst von ihrem Aushilfsjob an: Sie ist eingeladen und hat just erfahren, dass es sich um eine Mottoparty handelt: Alle Mädchen werden in Kleidern und High-Heels einlaufen. „Ich brauche Schuhe“, jammert sie. Lara besitzt ausschließlich Turnschuhe und Flipflops, sie muss bis Ladenschluss arbeiten und steht unter Zeitdruck. „Bitte, hilf mir.“ Ich habe keine Ahnung, wie ich helfen kann. Ich lebe auf kleinem Fuß, gute drei Schuhgrößen trennen mich von meinen Töchtern. „Vielleicht passen die Schuhe, die du auf Katjas Hochzeit getragen hast, die schwarzen mit dem Riemchen und dem kleinen Absatz“, überlege ich. Allerdings ist die Hochzeit meiner Schwägerin schon ein paar Jahre her. Ich hole sie trotzdem aus dem Keller, Laras Füße sind lange ausgewachsen, vielleicht hat sie Glück. Außerdem finde ich noch Herbstboots. Im Schrank stoße ich auf Mayas schwarze Sandalen mit Keilabsatz. Maya hat sich im Sommer Schuhe mit Absatz für ihre Kleider gewünscht und ist dafür sehr lange in der Stadt rumgelaufen. Sie war unheimlich glücklich, als wir fündig wurden.

Ich frage Maya nicht explizit, ob es okay für sie ist, wenn ich die Sandalen für Lara rausstelle. Mein Fehler. Aber zum einen glaube ich nicht, dass sie für Lara überhaupt in Frage kommen und zum anderen, will Lara die Schuhe nur kurz anziehen. („Ich nehme Turnschuhe mit, wir machen ein paar Fotos und dann zieh ich die Dinger wieder aus. Ich bin doch nicht blöd und laufe den ganzen Abend in hohen Schuhen rum. Da überrage ich ja alle.“).

Was nun folgt, steht dem Drama im Film in nichts nach. Lara will zur Party. Sie ist spät dran und schlüpft hektisch in alle von mir angebotenen Modelle. Die Hochzeitsschuhe sind viel zu klein, die Boots zu eng und zu derb. Nur Mayas Keilsandalen passen wie angegossen. Maya will ihre Schuhe nicht verleihen. Lara bettelt und fleht. Sie wird hysterisch, schimpft. Maya bleibt stur. Lara kreischt. Maya kreischt zurück. Ich stehe hilflos daneben und versuche eine Lösung zu finden. Ich bitte Maya, sich nicht so anzustellen und verbürge mich für Lara. „Lara wird aufpassen. Und sollte irgendetwas passieren, kaufe ich dir höchstpersönlich neue.“ Ich google sogar im Internet und beweise ihr, dass eine Nachbestellung kein Problem darstellen würde. Denn natürlich weiß ich, wie achtlos Lara manchmal mit Sachen umgeht. Ihre weißen Turnschuhe waren mal weiß, heute sind sie grau. Ein bisschen Matsch hier und da stört sie nicht die Bohne. Und ich traue ihr durchaus zu, dass sie wie die Film-Maggie einen abgebrochenen Absatz mit Kaugummi wieder ankleben würde. Aber ich verstehe, dass sie nicht als einziges Mädchen im Kleid mit (grauen-die-mal-weiß-waren) Turnschuhen einlaufen will. Außerdem leiht und erbt Maya ständig Klamotten von Lara. Lara ist in dieser Beziehung sehr großzügig.

Ich kann den Streit und das Gekreische nicht mehr ertragen. Ich will Ruhe im Haus und Lara ins Auto verfrachten, um sie zur Party zu fahren. Auf mein Drängen gibt Maya schließlich nach, betont aber, sie hätte ja anscheinend sowieso keine Wahl. Ich bläue Lara im Auto ein, dass sie um Gottes Willen auf die Schuhe achtgeben soll. Lara nickt, aber sie ist stinksauer. „Habe ich mich jemals so angestellt, wenn DIE sich von mir Klamotten leiht? Noch nie! Nie! Ständig trägt sie meine Jacken, die ich selbst gerne anziehe. Und sie fragt nicht mal immer. Mann, das sind doch nur Klamotten. Es sind nur Schuhe. Sie sollte mir doch keine Niere spenden.“ Zurück zu Hause höre ich mir Mayas Geschimpfe an. „Es sind meine Schuhe. Du weißt genau, wie lange wir in der Stadt dafür rumgelaufen sind. Wehe, wenn die nachher ausgelatscht oder dreckig sind.“

Ich hoffe, dass die Mädchen sich schnell wieder vertragen. Ich kann es nicht leiden, wenn sie aufeinander losgehen, was angesichts ihres Alters leider häufig der Fall ist. Der Schlagabtausch, der sich fast täglich bei unseren Mahlzeiten abspielt, nervt: „Du bist schon wieder mit deinen Latschen auf meiner Tischseite.“ „Wehe, tu trittst mich noch ein einziges Mal. Ich habe eben lange Beine.“ „Ich erzähle doch gerade. Jetzt quatschst du schon wieder doof dazwischen.“ „Warum verdrehst du so blöd die Augen, wenn ich was sage?“ „Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt? Ich rede mit Mama, nicht mit dir.“ Ich bin ständig damit beschäftigt, sie von ihren (sinnfreien) Diskussionen abzulenken. Manchmal gelingt mir das nicht. Dann sage ich: „Ich esse gleich im Wohnzimmer. Es ist ja nicht zu ertragen. Hört sofort auf.“ Und genau in diesen Momenten raufen sie sich wieder zusammen, verbünden sich gegen mich und eine sagt: „Du streitest dich mit Papa doch auch. Da siehst du mal, wie das ist.“ Und die andere nickt: „Ganz genau.“

Es stimmt. In jeder noch so gesunden Beziehung fliegen hin und wieder die Fetzen. Es ist wichtig, dass Standpunkte klargemacht und Dinge ausdiskutiert werden – manchmal unvermeidbar emotionsgeladen und laut. Das gilt auch für Geschwister, die unter einem Dach leben. Die Mädchen sind zusammen aufgewachsen, haben die gleichen Spiele gespielt, die gleichen Filme angeschaut und kennen die Geheimnisse und Macken der anderen. Das wird sie ein Leben lang verbinden, egal wie unterschiedlich sie ticken und egal, wie sehr sie sich gelegentlich gerne an die Kehle springen würden.

Später hole ich Lara von ihrer Party ab. Sie steigt angetrunken und todmüde in den Wagen und nickt sofort ein. Zu Hause angekommen rappelt sie sich schwerfällig auf und schlürft zur Haustür. Plötzlich scheint ein Stromschlag durch ihren Körper zu gehen. Geschockt dreht sie sich zu mir um. „Oh Gott, die Schuhe. Oh Gott, die Schuhe! Habe ich die wieder mitgenommen?“ Sie rennt zum Auto zurück und atmet erleichtert auf, als sie Mayas Sandalen im Fußraum liegen sieht. „Ich hatte sie nicht einmal fünf Minuten an“, erklärt sie. Ich glaube ihr.

Maya beäugt am nächsten Tag kritisch ihre Sandalen, die Lara ordentlich in den Schrank zurückgestellt hat. Kleinlaut sagt sie zu mir: „Eigentlich wollte ich für meine Geburtstagsfeier Laras schulterfreies, roséfarbenes Oberteil ausleihen. Aber das gibt die mir jetzt bestimmt nicht mehr, oder?“ Ich zucke die Schultern und rate ihr, lieber ein paar Tage Zeit verstreichen zu lassen.     

Eine Woche später hat Maya Geburtstag. Lara hat im letzten Monat viel gearbeitet und ist finanziell flüssig. Sie schenkt ihrer kleinen Schwester gleich drei stylische Tops. Jedes einzelne davon trifft Mayas Geschmack und passt perfekt. Volltreffer. Maya ist gerührt. Es bedeutet ihr viel, dass Lara sich so viel Mühe gegeben hat und damit beweist, dass ihr die kleine Schwester viel bedeutet. Voller Stolz trägt sie zu ihrer Geburtstagsparty eines der neuen Tops. Ich habe mich nicht getraut, Klamotten für Maya zu kaufen, weil ich inzwischen viel zu oft daneben liege. Aber Lara kennt ihre Schwester so gut wie niemand anderes. Sie weiß auch, dass Maya einfach wahnsinnig pingelig ist und trägt ihr das Schuh-Theater nicht weiter nach.   

Auch Rose erklärt gegen Ende des Films, dass sie ihre Schwester manchmal gerne erschlagen würde, dies aber nie tun könnte. Sie sagt: „Sie ist meine Schwester. Ohne sie bin ich nicht vollständig.“ Und Maggie trägt an Roses Hochzeit ein Gedicht von E.E. Cummings vor, mit dem sie ihre Gefühle für Rose auszudrücken versucht. Es heißt: „Ich trage dein Herz“. Dieser Film wärmt mein Herz fast so sehr, wie die Momente, in denen ich spüre, wie nah sich meine Töchter – trotz Zickenkrieg, Zank und unterschiedlichem Naturell – doch stehen. Die Geschwisterbeziehung ist oft schwierig, aber auch etwas sehr Besonderes.