Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

„Ihr habt mir einen Teil meiner Kindheit genommen!“

Ein sonniger und warmer Tag. Der Rasen ist sattgrün, die Beete stehen in voller Blüte. Es duftet nach Lavendel, Zitronenminze und Currypflanze. „Herrlich. Der Sommer kann kommen“, sage ich.

Maya, die neben mir im Garten auf der Terrasse sitzt, kann meine Begeisterung nicht teilen. „Ich weiß gar nicht, was ich in den Sommerferien machen soll. In den ersten Ferienwochen fahren alle meine Freundinnen weg, du musst arbeiten, und ich kann nicht mal schwimmen gehen“, nörgelt Maya. Es ist das zweite Jahr, in dem Maya vom Arzt Schwimmverbot verordnet bekommen hat.

„Wir machen es uns im Garten schön“, sage ich. „Vielleicht stelle ich mir hinten im Schatten einen Tisch hin, dann kann ich schreiben und dir Gesellschaft leisten.“

Maya verzieht das Gesicht. „Und was soll ich dann in der Zeit anfangen? Die Schaukel wackelt total, wenn ich mal richtig loslege und die Reckstangen darf ich nicht mehr benutzen, sagt Papa. Was soll ich da im Garten?“

Es stimmt, die Schaukel kann nur noch für gemäßigtes Schaukeln genutzt werden, die Zeiten der Kunststücke und des Bis-in-den-Himmel-Fliegens sind vorbei. Die Pfosten der Reckstangen sind durchgefault und müssen dringend ausgegraben werden. Und Donnerstag hat ebenfalls längst ausgedient.

Ein eigenes Pferd zu besitzen – davon träumen viele große und kleine Leute.

Donnerstag, wie meine große Tochter Lara ihn damals getauft hat, ist ein stabiles, sehr hochwertiges Holzpferd. Wir haben es den Kindern (in erster Linie der pferdebegeisterten Lara 2010) zu Weihnachten geschenkt. Er stellte jahrelang das Highlight in unserem Garten dar. Jedes Kind, das zu Besuch kam, verfiel seinem Zauber. Die Kinder haben ihn gesattelt, gestriegelt, gefüttert und die tollsten Fantasie-Ausritte mit ihm erlebt. Aber nun, nach zwölf Jahren, ist seine Zeit abgelaufen. Rostige Schrauben und Splitter ragen aus dem Holz. Die Querbalken, die als Aufstiegshilfe dienen, sind fast alle durchgebrochen. Das Spielgerät stellt inzwischen eine Gefahrenquelle dar. Regelmäßig, wenn Lara mit ihren Freunden im Garten hockt und die Jugendlichen ein paar Bierchen intus haben, steigen zu fortgeschrittener Stunde ausgewachsene Jungs und Mädchen gemeinsam für ein Gruppenfoto auf das Holzpferd. Maya hat mir diese Fotos auf Snapchat gezeigt. Ich habe geschmunzelt, bekam aber auch Angst, dass sich eines Tages jemand ernsthaft verletzen könnte. Mein Mann und ich wollen das Pferd seit Jahren entsorgen, aber die Mädchen haben sich bisher vehement gewehrt. Maya spielt auch nicht mehr mit ihm, denn sie hat einen anderen großen Wunsch.

„Ich wünsche mir schon seit Ewigkeiten ein Trampolin. Warum darf ich nicht? Wir haben so viel Platz im Garten. Ich könnte nicht nur springen, sondern es mir mit Kissen darauf gemütlich machen. Und meine Freundin könnte darauf mit mir übernachten. Das wäre so cool – Schlafen unter freiem Himmel“, bettelt Maya.

Mein Mann und ich haben uns bisher taubgestellt. Die Riesendinger verschandeln wirklich jeden Garten. Ständig muss man das Sprungtuch vom Schmutz befreien. Im Winter steht das Gerät herum und sieht hässlich auf. All die Jahre glich unser Garten einem riesigen Kinderspieleparadies: Schaukel, Sandkasten, Spielhaus, Matschecke mit Outdoorküche, Spielecken unter den Bäumen und im Gebüsch, große Planschbecken, kleine Planschbecken, Gummitiere, Wasserbahn, Barbiewelten, Sandspielzeug, Bälle. Es war mühselig, die tausend Dinge von der großen Rasenfläche aufzusammeln oder wegzurücken, bevor man den Rasenmäher anschmeißen konnte.

Je größer die Kinder wurden, desto übersichtlich und aufgeräumter wurde der Garten. Es blieben nur noch unsere große Schaukel, die Reckstangen – und Donnerstag. Das ehemalige Kinderparadies ist erwachsen geworden. Ich überdenke Mayas Bitte. Es ist wahrscheinlich der letzte große kindliche Wunsch, den wir ihr erfüllen können. Vielleicht hat sie zwei Jahre, vielleicht aber auch nur noch ein Jahr ihre Freude an dem Trampolin. Sie ist schließlich schon vierzehn. Mein Mann ist gegen die Anschaffung, aber ich lasse nicht locker: „Wenn die Reckstange weg ist, hat Maya nichts mehr, was sie in den Garten zieht. Und richtig schaukeln kann man auch nicht mehr, weil man gegen die Apfelbaumäste stößt. Komm schon, schenken wir Maya noch ein bisschen Kindheit und entsorgen dafür den kaputten, alten Kram“, überrede ich ihn.

An einem Samstagmorgen wird das Trampolin angeliefert. Die Mädchen sind unterwegs. Mein Mann steckt den Rahmen zusammen. Mann, ist das Ding riesig! Aber ich freue mich: Maya wird glücklich sein, wenn sie später nach Hause kommt! Ich helfe meinem Mann beim Aufbau. Dann entfernen wir die Reckstangen. Zum Schluss holt mein Mann die Kettensäge. Es tut mir ein bisschen leid, als ich sehe, wie er dem Holzpferd den Kopf absägt. Ich bitte ihn, sich zu beeilen. Es ist besser, alles ist weg, bevor unsere Töchter nach Hause kommen und diskutieren wollen.

Maya jubelt, als sie vom Training kommt, und probiert das Trampolin gleich aus. Dass das Pferd nun in Einzelteilen auf dem Rasen liegt, registriert sie nur kurz. Mein Mann und ich transportieren die (verdammt schweren) Holzstücke aus dem Garten und schmeißen sie auf den Auto-Anhänger. Mein Mann erinnert sich daran, wie anstrengend es 2010 war, das große Pferd mit vier Mann heimlich am Heiligabend in unseren Garten zu schleppen. Was war das damals für ein Kraftakt! Aber es hatte sich gelohnt. Donnerstag war ein tolles Weihnachtsgeschenk!

Nachmittags kommt Lara nach Hause. Wir essen alle gemeinsam. Sie nimmt das Trampolin emotionslos zur Kenntnis. „Echt jetzt? Ein Trampolin?“

„Wir haben heute den ganzen Tag im Garten gearbeitet und alten Kram entsorgt. Die Reckstangen und Donnerstag sind jetzt weg, und vielleicht stelle ich mir hinten einen kleinen Tisch in den Schatten“, erzähle ich im Plauderton.

Lara lässt ihre Gabel sinken. „Ihr habt was?“

Stille. Ich schaue beschäftigt auf meinen Teller.

„Ihr habt Donnerstag weggemacht?“, quietscht sie nun und schaut hektisch aus dem Fenster. Dann fließen auch schon die Tränen. „Wie konntet ihr das tun?“; „Ich verstehe das nicht!“; „Einfach so weggemacht!“

Mir war klar, dass sie ein bisschen Theater machen würde. Die Mädchen hatten sich beide lange gegen den Abbau des Pferdes gesperrt, Lara voran. Ich sage meiner Großen, sie solle vernünftig sein und an die rostigen Schrauben und die Splitter denken. Ich sage, dass sie achtzehn sei und kein Holzspielpferd mehr brauche. Ich sage, dass ich x-mal darum gebeten hätte, dass ihre Freunde nicht auf das Pferd steigen sollen, wenn sie angetrunken sind. Sie hört kaum zu, sondern steigert sich immer weiter in ihren Kummer hinein.

„Dieses Pferd war meine Kindheit! Ihr habt mir ein Stück meiner Kindheit genommen! Er gehörte mir! Mir! Er hat eine Seele. Ich hätte mich wenigstens von ihm verabschieden müssen. Wir hätten ihn alle verabschieden müssen! So wie er es verdient hat, mit einer Zeremonie!“

Ich stelle mir bildlich vor, wie wir vier mit betroffenen Gesichtern um das Holzpferd stehen: Lara klammert sie schluchzend an seinen Hals und brülllt dann die ganze Nachbarschaft zusammen, als der Henker – also mein Mann – seines Amtes waltet und die Kettensäge anschmeißt. Nein! Es war schon gut so, wie wir es gemacht haben. Kurz und schmerzlos.  

Maya fällt uns nun frech in den Rücken. Das Trampolin ist für einen Moment vergessen. „Papa hat ihm einfach den Kopf abgesägt!“, petzt sie.

Lara jault laut auf. Ich greife ein, wie ich es immer tue, wenn meine Große überreagiert: „Mann, Lara, jetzt ist aber gut! Er war alt und morsch, und das weißt du auch!“

Böse blitzte sie mich an: „Na und? Was ist denn, wenn ihr eines Tages alt und morsch seid? Soll ich euch dann auch einfach dir Köpfe abschlagen?“ Und dann lamentiert sie darüber, dass man wertvolle Statuen und Denkmäler in Kirchen auch restaurieren würde und keiner auf die Idee käme, wertvolle Dinge einfach wegzuschmeißen.

Ein bisschen recht hat sie ja, denke ich mit schlechtem Gewissen. Wenn wir die Schrauben herausgezogen, die losen Bretter entfernt und mit der Schleifmaschine die Oberfläche bearbeitet hätten …

„Der Kopf ist noch heil. Wir könnten ihn abschleifen und lackieren und vielleicht am Fahrradschuppen aufhängen“, schlage ich daher kleinlaut vor.

Jetzt ist es um Laras Fassung endgültig geschehen: „Und dann laufe ich wie die Gänsemagd jeden Tag an seinem Kopf vorbei und rede mit ihm?“

Ich habe das Märchen der Gänsemagd nicht auf dem Schirm, aber Lara klärt mich unter Tränen auf: Die böse Nebenbuhlerin lässt Falada, dem geliebten Pferd der Königstochter, den Kopf abschlagen. Der Kopf des Pferdes wird an einen Zaun gehangen. Jeden Tag kommt die Königstochter nun als Gänsemagd dort vorbei und redet mit dem Pferdkopf (an dieser Stelle bricht Laras Stimme ab und ein neuerlicher Heulkrampf erfasst sie). Sie hat Mühe, die Worte zusammenhängend und unter Schluchzen hervorzubringen: „Im Film … wird Falada … am Ende … wieder … le-beee-n-dig.“

Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob ich lachen oder heulen soll, und entscheide mich für beides. In diesem Moment sitzt keine Achtzehnjährige vor mir, sondern mein kleines, quirliges Pferdemädchen mit Gummistiefeln, Stöckchen und Reithelm. Mir wird schwer ums Herz. Wir wollten Maya ein weiteres Stück Kindheit geben und haben gleichzeitig Lara einen Teil ihrer Kindheit genommen.

Lara steht auf und will Donnerstag sehen. Ich folge ihr zum Anhänger und helfe, den Kopf aus dem Gerümpel herauszufischen. Auf ihren Armen trägt sie ihn sachte zurück in den Garten. Ich hole die Schleifmaschine und die Holzlasur aus dem Keller und mache mich an die Arbeit.

Ein paar Tage später ist die Lasur getrocknet. Mein Mann schraubt den Pferdekopf an die Fahrradschuppenwand. Wir präsentieren Lara unser Werk.

„Das hat er auch verdient“, sagt sie vorwurfsvoll. Nun kann Lara jeden Morgen, wenn sie ihr Fahrrad aus dem Schuppen holt, über Donnerstags Nüstern streicheln und mit ihm sprechen. Wie die Gänsemagd mit ihrem treuen Pferd Falada.