Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Endliche Gastfreundschaft

| 29 Lesermeinungen

Seit ein paar Wochen gibt es für unseren neunjährigen Zweitgeborenen nur noch Verabredungen mit Leo. Malik geht mit Leos Familie ins Schwimmbad, nach dem Hort treffen sie sich auf dem Bolzplatz, Leo schaut sogar mit unserer Jüngsten „Paw Patrol“. Es ist, als ob es Malik und Leo nur noch im Doppelpack gibt, mal bei uns, mal bei Leo. Was mich aber schon während ihrer Beste-Freunde-Zeit im Kindergarten kirre gemacht hat, zeigt sich jetzt wieder: Leos Eltern beenden die Treffen, wenn Malik bei ihnen ist, grundsätzlich kurz vor dem Abendessen.

Einfach ein Teller mehr: Gedeckt wäre der Tisch schnell.
Einfach ein Teller mehr: Gedeckt wäre der Tisch schnell.

Letzten Mittwoch kam Malik aber deutlich nach dem Abendessen heim. Wortlos zog er die Schuhe aus, warf seine Jacke ins Kinderzimmer und inspizierte die Reste unseres Abendbrots in der Küche. Wir waren gerade am Abräumen, und Malik schnappte sich hier eine Paprika, dippte da Brot in Foul und nahm sich letztlich einen Apfel. „Hast du noch Hunger?“ frage ich, während ich die Spülmaschine einräume. Neugierige Mutter, die ich bin, will ich wissen, was es bei Leo zu essen gab. Malik zuckt nur mit den Schultern und hält die Schüssel mit dem Foul fest. Ich mache die Spülmaschine zu, nehme Foul, Brot und den Rohkostteller. Mit einem Nicken gebe ich Malik zu verstehen, dass wir uns an den Tisch setzen und zusammen essen.

„Mama, du weißt gar nicht, was Leo für eine coole Beyblade-Arena hat“, erzählt Malik strahlend, und er beschreibt en detail, was Leo und er heute alles erlebt haben. Dabei komme ich gar nicht hinterher mit dem Brot-Reichen, der kleine Mann hat offensichtlich richtig Hunger. Ich hake beim Thema Schule kurz ein, erfahre, dass nächste Woche ein Ausflug ansteht, frage nach den Hausaufgaben, um schließlich zu wiederholen: „Was gab‘s denn bei Leo zu essen?“ Ich bin echt neugierig. Zum einen sind Leos Eltern Vegetarier, und ich bin immer dankbar für vegetarische Essensinspirationen, die auch Kinder mögen. Zum anderen hat diese Familie so ein Ding mit Essen. Scheinbar kann das bei ihnen ausschließlich im engsten Familienkreis stattfinden. Bisher wurde unser Kind immer heimgeschickt, oder ich sollte es abholen, vor dem Essen versteht sich.

Malik wischt mit einem viel zu großen Stück Brot die Foul-Schüssel aus und stopft sich das Bohnenmus in den Mund. Foul ist echtes Soulfood. Es ist für mich der Inbegriff von Zuhause. Reichhaltig, warm, würzig und mit dem extra Schuss Sesamöl einfach genau das richtige Essen, um ein wohliges Gefühl zu erzeugen. Genau das meine ich jetzt auch in Maliks Gesicht zu sehen. „Boah, Mama, ich bin satt. Ich habe keine Ahnung, was die gegessen haben. Ich habe in Leos Zimmer gewartet, bis er fertig war, und dann haben wir noch weiter gebeybladet“, erläutert Malik, steht auf und wäscht sich die Hände. Seine Augen fragen, ob er noch sein Essen wegräumen muss, und ich ertappe mich, dass ich immer noch mit offenem Mund dasitze.

 WHAT? Die Familie S. lässt – aus welchen Gründen auch immer – ein Kind alleine im Zimmer warten, während sie ihr Geheimessen verzehrt? Die lassen allen Ernstes unser Kind alleine dasitzen? Ich muss schlucken. Ich erinnere mich an meine Kindheit und an die Gespräche meiner Mutter mit ihren Freundinnen. Ja. Das war schon so, als wir Kinder waren: Bei deutschen Familien gibt’s in der Regel für den Gast, wenn er nicht explizit zum Essen eingeladen ist, kein Essen. Puh. Aber das war doch in den Achtzigerjahren. Ist das nicht mittlerweile überholt? Während ich immer weniger die Grenzen der Gastfreundschaft der Familie S. nachvollziehen kann, räume ich die Küche fertig auf und esse den angefangenen Apfel Maliks zu Ende.

Donnerstag kommt Malik mit Leo vom Bolzplatz nach Hause. Der Regen hatte ihrem Kopfballtraining ein jähes Ende gesetzt, nach wenigen Minuten sind sie im Kinderzimmer in ein Hörspiel vertieft. Sobald in der Küche das Schnippeln und Bruzzeln fürs Abendessen beginnt, stürmen sie die Küche, schnappen sich ein Stück Gurke und inspizieren das Geschehen. Mein Mann stellt Leo die Frage, die mir nie und zwar nie, nie, nie über die Lippen kommt: „Isst du mit?“ 

Allein die Frage empfinde ich als hochgradig unangenehm. Wenn ich koche, wenn in unserem Haushalt gekocht und gleich gegessen wird, dann sind die Menschen, die zu der Zeit in diesem Haus Gast sind, natürlich beim Essen dabei! Sie können am Tisch entscheiden, nicht mit zu essen, aber einem Kind mit dieser Frage schon das Gefühl zu geben, es sei nicht gewollt, das käme mir nicht in den Sinn. Mein deutscher Mann sieht das anders, und wir versuchen, das Thema zu umschiffen. Seit wir Kinder haben, gestaltet sich das Umschiffen jedoch immer schwieriger.

Wie bei meinen sudanesischen Eltern gelernt, besteht das Abendessen bei uns meist aus einem warmen Gericht, Salaten und geschnittenem Gemüse. In neun von zehn Fällen können mein Mann und ich von den Resten des Abendessens unser Mittagessen des nächsten Tages gestalten. Die Zahl der Personen am Essenstisch variiert oft spontan: Eine Cousine schneit auf dem Heimweg kurz vorbei, Freunde der Jungs sind da, oder der Patenonkel ist zu Besuch. Irgendwie schaffen wir es aber immer, dass es für alle reicht und wir einen lustigen Abend verbringen. Bei diesen Abendessen lerne ich auch die Freunde meiner Kinder besser kennen. Dabei geht es nicht nur um augenscheinliche Dinge wie Tischmanieren, ich erlebe die Kinder in Interaktion mit der gesamten Familie, erfahre etwas über ihre Interessen, ihren Humor und profitiere manchmal auch von ihren Essgewohnheiten. Leo zum Beispiel habe ich es zu verdanken, dass meine Kinder gerne Avocado essen. Egal was ich versucht habe, ihr Urteil blieb stets gleich: Avocado ist eklig.  Bis Leo eines Abends sein Ksra dick mit Avocado bestrich. Kerims Mutter und ich tauschen mittlerweile Rezepte aus, denn Malik schwärmt immer von ihrem Essen. Meine Frikadellen können einpacken gegen ihre Köfte, auch wenn ich mich minutiös an ihre Angaben halte. Kurzum, ich kenne es nicht anders, als dass wir unser Essen mit unseren Gästen teilen. Egal wie viel, egal wie wenig.

Seit Malik aber mehrmals hungrig von Verabredungen bei Leo nach Hause gekommen ist, bin ich hochgradig irritiert. Schicke ich Leo jetzt auch vor dem Essen heim? Aber warum? Das Essen reicht doch safe für uns alle. Malik freut sich, seinen Freund dabei zu haben. Bastian sieht kein Problem. „So sind die halt“, schließt er mit dem Thema ab. „Wenn du alle durchfüttern willst, mach das. Aber das kannst du nicht von anderen erwarten“, bringt er seine Gedanken auf den Punkt. Wow. Durchfüttern? Ein Kind mit essen zu lassen wird als „durchfüttern“ verstanden.

Ich rufe meine Freundin Nabila an. Wir sind zusammen aufgewachsen und kennen uns schon seit dem ersten Flüchtlingsheim. Aufgeregt schildere ich ihr, was los ist, erzähle, dass Malik nicht nur nichts zu Essen angeboten bekommt, sondern auch noch im Zimmer warten muss, bis die Familie aufgegessen hat. Nabila lacht: „Gib ihm doch einfach eine große Portion Foul mit, die kann er dann im Zimmer essen. Oder du nimmst die Leute, wie sie sind. Aber lass Leo weiter bei euch essen. Du kannst nicht das Kind für die Haltung der Eltern bestrafen.“ Gestern kam Malik von Leo nach Hause, deutlich nach sieben Uhr. Er hatte keinen Hunger. Ich bin baff und frage eher rhetorisch: „Was gab’s bei Leo zu essen?“ Hätte ich unser Kind genauer angeschaut, ich hätte es raten können. „Nudeln mit Ketchup,“ lüftet Malik das langgehütete Essensgeheimnis der Familie S.


29 Lesermeinungen

  1. Kehala sagt:

    Aus dem Herzen gesprochen
    Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich bin alleinerziehende Mutter von 4 Kindern und auch wenn es hin und wieder eng ist und bei 4 Kindern oft viele Freunde da sind, bekommen immer alle Essen. Ich koche abends und es würde mir im Traum nicht einfallen die Kinder nicht mitessen zu lassen. Leider habe ich auch schon diese „endende Gastfreundschaft“ erlebt und habe es nicht so ganz verstanden. Ob diese seltsame Gastfreundschaft jedoch etwas „deutsches“ ist, weiß ich nicht. Ich bin Deutsche und auch in befreundeten deutschen Familien essen immer alle mit. Gemeinsam an einem Tisch. Nur so habe ich die Chance etwas von den Kindern über Schule und den Tag zu erfahren. Ich denke, es hat etwas mit der „Erziehung“ zu tun. Wenn es normal ist, dass alle miteinander am Tisch sitzen und essen, wird das weitergegeben. Egal welche Nationalität. Andere Kulturen sind da vielleicht einfach geselliger und wir Deutschen etwas „eigenbrödlerisch“.

  2. teek sagt:

    Nein, das ist nicht typisch deutsch
    „wer fragt, der gibt nicht gerne“ so wurde es bei uns und eigentlich allen Freunden gehandhabt. Essen ist für alle da. Später beim Bier galt das selbe. Keiner wollte sich „lumpen lassen“.

    Vielleicht eine lokale Gegebenheit?

  3. Pond89 sagt:

    Titel eingeben
    Was genau soll uns dieser Text jetzt sagen?
    Von einer Familie auf eine ganze Bevölkerung zu schlussfolgern…sowas nennt man soweit ich weiß Vorurteil, bisweilen sogar Intoleranz. In meinem gesamten Freundes- und Bekanntenkreis war es stets selbstverständlich dass Kinder, aber auch Erwachsene Gäste mit essen dürfen. Auch meine Kindheit war davon geprägt. Ob das jetzt Deutsche,Polen,Sudanesen,Türken oder Kummerlandbewohner waren, war vollkommen egal und steht auch nicht im Zusammenhang.

    Die Nachfrage gilt nunmal einfach als Höflichkeit. Eine kulturelle Floskel die halt so ist, wie sie ist. Ähnlich dem ständigen Anbieten von noch mehr Nahrungsmitteln bei vietnamesischen Freunden. Ungewohnt? Ja. Negativ? Auf gar keinen Fall

    Überflüssiger Beitrag, der einmal mehr mit „almannvorurteil jongliert und das darf, weil es sich um keine Minderheit handelt.

    Abgesehen davon konnte es auch ein Werbetext für „Foul“ sein….

  4. MadamMi sagt:

    Der eine so, der andere so
    Ich hoffe sehr, dass so ein Verhalten nicht mehr typisch deutsch ist. Vielleicht war das auch nie typisch deutsch – es gibt ja schiesslich den alten Spruch „Zehn sind geladen, Elf sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe heiß‘ alle willkommen!“
    Aber Großzügigkeit ist eben leider nicht jedem gegeben. Ich habe auch so Fälle in meinem Bekanntenkreis.
    Für uns – typisch Deutsch – gibt es da gar kein Überlegen, für jeden der zur Essenszeit bei uns ist, wird ein Gedeck hingestellt. Es gibt immer etwas, was ich noch zaubern kann, selbst wenn das Essen nicht reicht. Hungrig muss niemand, gehen. Einige Freunde meiner Kinder haben spezielle Beeinträchtigungen wie hochgradige Erdnussallergie oder Zöliakie – oder sind einfach nur Vegetarier. Auf alles bin ich vorbereitet. Und wem es dann doch nicht schmeckt, dem kann ich nicht helfen. Allerdings – eine Mahlzeit in großer Runde ist wunderbar, aber ich kann ich kann sogar verstehen, dass das nach einem langen Tag für manchen zu anstrengen

  5. Hpkeul sagt:

    Unbegreiflich...
    Also bis zum 30jährigen Krieg kann ich mein „deutsch-sein“ zurückverfolgen. Nie,nie nie habe ich erlebt, das ein Gast nicht irgendwie bewirtet worden wäre. In der ganzen riesigen Großfamiie nicht. Und wir waren tatsächlich arm in den 50ern. Viel ärmer als es sich ein heutiger Harzvier-Empfänger es vorstellen kann. Wir kannten eine Familie, die wir 5 Kinder hatten. In bleibender Erinnerung blieb mir von diesen Events die riesigen Platten mit Rübenkraut-Broten. Ohne Butter oder Margarine. Das Rübenkraut kam aus einer 15 kg-Tonne direkt aus der Fabrik. Aber das, was man hatte wurde geteilt..p

  6. SuperNobelschroeder sagt:

    Komische Sache
    Ich versteh es auch nicht. Wer da ist, für den decken wir ein und fertig. Wenn er dann nicht will, betonen wir, dass er eingeladen ist zu bleiben, und wenn er dann immer noch nicht will, ist es natürlich OK. Er ist ja nicht verpflichtet.
    Aber Grundsatz gilt der alte Spruch:
    „Fünf sind geladen, zehn sind gekommen,
    gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.“

  7. kingisepp sagt:

    Das ist kein deutsches Phänomen...
    … es wurde Ende Mai 2022 mit exakt der gleichen Geschichte, wie aus dem Artikel umrahmt, durch das Schwedische „Folkhem“ getrieben. Dort sollte dieses Verhalten als „typisch schwedisch“ und „bürgerlich-reaktionär“ verkauft werden“. Ein Ethnologe hat sich sogar hergegeben, dies ausführlich mit schwedischer Kultur zu begründen.

    (https://www.aftonbladet.se/nyheter/a/ALaE4x/etnologen-forklarar-teorin-bakom-swedengate)

    Ernsthafterweise sollte beleuchtet werden, dass wohl sowohl in S als auch in D das Feld der Ernährung von Kindern in ein Minenfeld verwandelt worden ist. Meist mittelklassemütterlicherseits. Und wer gegen diese ehernen Axiome verstösst -kein Zucker, kein Fleisch, kein Fett, kein Soja, keine Gelatine, und wenn schon, dann nicht heute- gehört umgehend der Katz.

    Daher im Interesse des Friedens: Besser nicht füttern!

    Wenn beide Artikel auch ein Gschmäckle hinterlassen, dass wohl alles Nichteuropäische als besser verkauft werden soll…

  8. Prototyped sagt:

    Identitätspolitischer Mumpitz
    Was will ein solcher Text bezwecken? Gutes kann’s nicht sein: weder ist das von der Autorin beschriebene Verhalten der den Sohn wegschickenden Eltern typisch deutsch (im Gegenteil, es ist höchst unsympathisch), noch weit verbreitet. Gastfreundschaft ist kein Privileg migrantischer Communities, sondern wesentlicher Bestandteil deutscher Kultur und Tradition.

  9. grubenfisch sagt:

    Durchfüttern
    „Ein Kind mit essen zu lassen wird als „durchfüttern“ verstanden.“

    Kenne ich sehr gut, diese Marotten und auch diesen „Geiz“. Dahinter stecken Mangelwirtschaft-Erfahrungen, aber eben auch Charakter. Und eine spezifische Art der Mahlzeit (z.B. Schnitzel, Gemüse, Kartoffeln).

    Meine Mutter hat mir mal stolz gesagt, wie (positiv) unnormal es doch sei, dass bei uns zuhause (also in den 60er / 70er-Jahren) „Brot und Butter“ frei zugänglich sind und auch Besucher jederzeit „eine Stulle“ haben können. Bei ihren Eltern (und angeblich unseren Nachbarn) war der Kühlschrank unter Verschluss. Kein Essen für niemand (außer Eltern) zwischen den drei „Mahlzeiten“. Trotz dieser Stullen-Liberalität hätte auch meine Mutter es für eine Zumutung gehalten, wenn irgendein zufällig anwesender Kinderfreund ihre Koch-Mathematik (nur 4 Bratwürste gekauft!) durcheinandergebracht hätte. Ich habe als Kind sehr darauf geachtet, dass keine Freunde von mir zur „Abendbrotzeit“ da sind, um Peinlic

  10. Erdenmond sagt:

    Einfach praktisch
    Zum Abendbrot wieder zu Hause zu sein ist bei Kindern schlicht eine praktische Regelung, da wissen alle wann idR zeitlich Schluss ist. Klare Verhältnisse.

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