Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Endliche Gastfreundschaft

Seit ein paar Wochen gibt es für unseren neunjährigen Zweitgeborenen nur noch Verabredungen mit Leo. Malik geht mit Leos Familie ins Schwimmbad, nach dem Hort treffen sie sich auf dem Bolzplatz, Leo schaut sogar mit unserer Jüngsten „Paw Patrol“. Es ist, als ob es Malik und Leo nur noch im Doppelpack gibt, mal bei uns, mal bei Leo. Was mich aber schon während ihrer Beste-Freunde-Zeit im Kindergarten kirre gemacht hat, zeigt sich jetzt wieder: Leos Eltern beenden die Treffen, wenn Malik bei ihnen ist, grundsätzlich kurz vor dem Abendessen.

Einfach ein Teller mehr: Gedeckt wäre der Tisch schnell.
Einfach ein Teller mehr: Gedeckt wäre der Tisch schnell.

Letzten Mittwoch kam Malik aber deutlich nach dem Abendessen heim. Wortlos zog er die Schuhe aus, warf seine Jacke ins Kinderzimmer und inspizierte die Reste unseres Abendbrots in der Küche. Wir waren gerade am Abräumen, und Malik schnappte sich hier eine Paprika, dippte da Brot in Foul und nahm sich letztlich einen Apfel. „Hast du noch Hunger?“ frage ich, während ich die Spülmaschine einräume. Neugierige Mutter, die ich bin, will ich wissen, was es bei Leo zu essen gab. Malik zuckt nur mit den Schultern und hält die Schüssel mit dem Foul fest. Ich mache die Spülmaschine zu, nehme Foul, Brot und den Rohkostteller. Mit einem Nicken gebe ich Malik zu verstehen, dass wir uns an den Tisch setzen und zusammen essen.

„Mama, du weißt gar nicht, was Leo für eine coole Beyblade-Arena hat“, erzählt Malik strahlend, und er beschreibt en detail, was Leo und er heute alles erlebt haben. Dabei komme ich gar nicht hinterher mit dem Brot-Reichen, der kleine Mann hat offensichtlich richtig Hunger. Ich hake beim Thema Schule kurz ein, erfahre, dass nächste Woche ein Ausflug ansteht, frage nach den Hausaufgaben, um schließlich zu wiederholen: „Was gab‘s denn bei Leo zu essen?“ Ich bin echt neugierig. Zum einen sind Leos Eltern Vegetarier, und ich bin immer dankbar für vegetarische Essensinspirationen, die auch Kinder mögen. Zum anderen hat diese Familie so ein Ding mit Essen. Scheinbar kann das bei ihnen ausschließlich im engsten Familienkreis stattfinden. Bisher wurde unser Kind immer heimgeschickt, oder ich sollte es abholen, vor dem Essen versteht sich.

Malik wischt mit einem viel zu großen Stück Brot die Foul-Schüssel aus und stopft sich das Bohnenmus in den Mund. Foul ist echtes Soulfood. Es ist für mich der Inbegriff von Zuhause. Reichhaltig, warm, würzig und mit dem extra Schuss Sesamöl einfach genau das richtige Essen, um ein wohliges Gefühl zu erzeugen. Genau das meine ich jetzt auch in Maliks Gesicht zu sehen. „Boah, Mama, ich bin satt. Ich habe keine Ahnung, was die gegessen haben. Ich habe in Leos Zimmer gewartet, bis er fertig war, und dann haben wir noch weiter gebeybladet“, erläutert Malik, steht auf und wäscht sich die Hände. Seine Augen fragen, ob er noch sein Essen wegräumen muss, und ich ertappe mich, dass ich immer noch mit offenem Mund dasitze.

 WHAT? Die Familie S. lässt – aus welchen Gründen auch immer – ein Kind alleine im Zimmer warten, während sie ihr Geheimessen verzehrt? Die lassen allen Ernstes unser Kind alleine dasitzen? Ich muss schlucken. Ich erinnere mich an meine Kindheit und an die Gespräche meiner Mutter mit ihren Freundinnen. Ja. Das war schon so, als wir Kinder waren: Bei deutschen Familien gibt’s in der Regel für den Gast, wenn er nicht explizit zum Essen eingeladen ist, kein Essen. Puh. Aber das war doch in den Achtzigerjahren. Ist das nicht mittlerweile überholt? Während ich immer weniger die Grenzen der Gastfreundschaft der Familie S. nachvollziehen kann, räume ich die Küche fertig auf und esse den angefangenen Apfel Maliks zu Ende.

Donnerstag kommt Malik mit Leo vom Bolzplatz nach Hause. Der Regen hatte ihrem Kopfballtraining ein jähes Ende gesetzt, nach wenigen Minuten sind sie im Kinderzimmer in ein Hörspiel vertieft. Sobald in der Küche das Schnippeln und Bruzzeln fürs Abendessen beginnt, stürmen sie die Küche, schnappen sich ein Stück Gurke und inspizieren das Geschehen. Mein Mann stellt Leo die Frage, die mir nie und zwar nie, nie, nie über die Lippen kommt: „Isst du mit?“ 

Allein die Frage empfinde ich als hochgradig unangenehm. Wenn ich koche, wenn in unserem Haushalt gekocht und gleich gegessen wird, dann sind die Menschen, die zu der Zeit in diesem Haus Gast sind, natürlich beim Essen dabei! Sie können am Tisch entscheiden, nicht mit zu essen, aber einem Kind mit dieser Frage schon das Gefühl zu geben, es sei nicht gewollt, das käme mir nicht in den Sinn. Mein deutscher Mann sieht das anders, und wir versuchen, das Thema zu umschiffen. Seit wir Kinder haben, gestaltet sich das Umschiffen jedoch immer schwieriger.

Wie bei meinen sudanesischen Eltern gelernt, besteht das Abendessen bei uns meist aus einem warmen Gericht, Salaten und geschnittenem Gemüse. In neun von zehn Fällen können mein Mann und ich von den Resten des Abendessens unser Mittagessen des nächsten Tages gestalten. Die Zahl der Personen am Essenstisch variiert oft spontan: Eine Cousine schneit auf dem Heimweg kurz vorbei, Freunde der Jungs sind da, oder der Patenonkel ist zu Besuch. Irgendwie schaffen wir es aber immer, dass es für alle reicht und wir einen lustigen Abend verbringen. Bei diesen Abendessen lerne ich auch die Freunde meiner Kinder besser kennen. Dabei geht es nicht nur um augenscheinliche Dinge wie Tischmanieren, ich erlebe die Kinder in Interaktion mit der gesamten Familie, erfahre etwas über ihre Interessen, ihren Humor und profitiere manchmal auch von ihren Essgewohnheiten. Leo zum Beispiel habe ich es zu verdanken, dass meine Kinder gerne Avocado essen. Egal was ich versucht habe, ihr Urteil blieb stets gleich: Avocado ist eklig.  Bis Leo eines Abends sein Ksra dick mit Avocado bestrich. Kerims Mutter und ich tauschen mittlerweile Rezepte aus, denn Malik schwärmt immer von ihrem Essen. Meine Frikadellen können einpacken gegen ihre Köfte, auch wenn ich mich minutiös an ihre Angaben halte. Kurzum, ich kenne es nicht anders, als dass wir unser Essen mit unseren Gästen teilen. Egal wie viel, egal wie wenig.

Seit Malik aber mehrmals hungrig von Verabredungen bei Leo nach Hause gekommen ist, bin ich hochgradig irritiert. Schicke ich Leo jetzt auch vor dem Essen heim? Aber warum? Das Essen reicht doch safe für uns alle. Malik freut sich, seinen Freund dabei zu haben. Bastian sieht kein Problem. „So sind die halt“, schließt er mit dem Thema ab. „Wenn du alle durchfüttern willst, mach das. Aber das kannst du nicht von anderen erwarten“, bringt er seine Gedanken auf den Punkt. Wow. Durchfüttern? Ein Kind mit essen zu lassen wird als „durchfüttern“ verstanden.

Ich rufe meine Freundin Nabila an. Wir sind zusammen aufgewachsen und kennen uns schon seit dem ersten Flüchtlingsheim. Aufgeregt schildere ich ihr, was los ist, erzähle, dass Malik nicht nur nichts zu Essen angeboten bekommt, sondern auch noch im Zimmer warten muss, bis die Familie aufgegessen hat. Nabila lacht: „Gib ihm doch einfach eine große Portion Foul mit, die kann er dann im Zimmer essen. Oder du nimmst die Leute, wie sie sind. Aber lass Leo weiter bei euch essen. Du kannst nicht das Kind für die Haltung der Eltern bestrafen.“ Gestern kam Malik von Leo nach Hause, deutlich nach sieben Uhr. Er hatte keinen Hunger. Ich bin baff und frage eher rhetorisch: „Was gab’s bei Leo zu essen?“ Hätte ich unser Kind genauer angeschaut, ich hätte es raten können. „Nudeln mit Ketchup,“ lüftet Malik das langgehütete Essensgeheimnis der Familie S.