Die Kritik kommt meist verpackt in einer vermeintlich beiläufigen Bemerkung. Besonders perfide Variante: der Kommentar im Whatsapp-Familienchat, wenn wir der Verwandtschaft Schnappschüsse von unserem Sohn schicken. Ein paar Beispiele:
[Motiv: Ben barfuß auf Klettergerüst]
Kommentar Oma: „Ui, gibt’s da keinen Splitter im Fuß?“
[Motiv: Ben mit nassem T-Shirt im Badesee]
Kommentar Oma: „Oh! Bei uns ist es ja nicht so warm.“
[Motiv: Ben mampfend am Küchentisch]
Kommentar Oma: „Milch zum Wiener Würstchen? Eieiei….“
Die Motive variieren, die Botschaften hinter solchen Kommentaren sind freilich immer dieselben: Das Kind tut sich doch weh!, oder: Das Kind erkältet sich!, oder: Das Kind verdirbt sich den Magen! In anderen Worten: Ihr. Macht. Das. Falsch.
Wenngleich ich sehr an meinen Eltern und der Gegend hänge, in der ich groß geworden bin: Was bin ich froh, dass fast 500 Kilometer zwischen uns liegen und wir uns höchstens ein Mal im Monat sehen. Denn sie geben meinem Mann und mir, bewusst oder unbewusst, immer wieder das Gefühl, es nicht auf die Reihe zu kriegen mit unserem Dreijährigen. Dabei finden wir, dass wir unseren Job in der Regel gar nicht so schlecht machen.
Ich ahne, woher das kommt. Als meine Geschwister und ich geboren wurden, lebten meine Eltern in einem polnischen Dorf. Es gab wenig Möglichkeiten für junge Eltern, sich zu informieren, es gab kein Google, es gab wahrscheinlich wenig ehrlichen Austausch mit anderen Eltern über Kindererziehung. Aber im Stockwerk drunter gab es Oma, und ein paar Straßen weiter die andere Oma. Und die mussten es ja wissen. Ihre Erfahrung war Wahrheit.
Heutzutage bildet man sich, einmal halbwegs erwachsen geworden, klassischerweise ein, man wüsste alles besser als die dummen alten Eltern. Ich selbst musste mehrfach schmerzhaft erfahren, dass das nicht immer stimmt. Aber gerade was Kindererziehung betrifft, hat die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten wirklich dazugelernt – beispielsweise, dass es weder diszipliniert noch abhärtet noch sonst irgendwie angebracht ist, Kinder zu schlagen oder anderweitig zu demütigen (das würden gottlob auch meine Eltern niemals propagieren). Oder dass Kinder mit drei Jahren noch keine perfekten Tischmanieren haben und immerzu „brav“ sein müssen. Glücklicherweise haben sich hier schlicht Werte und Überzeugungen verändert. Und: Über Kinder und Erziehung, auch über die unangenehmen Seiten derselben, wird auch außerhalb der Familie mehr und offener gesprochen.
Ich, ein Kind von übervorsichtigen, ängstlichen Eltern, weiß mittlerweile aber auch einfach: Ein Splitter im Fuß bedeutet noch keine Amputation. Eine Erkältung kommt nicht von Kälte. Und Milch und herzhaftes Essen verträgt unser Kind problemlos (und vermutlich auch jedes andere mit einem gesunden Verdauungsapparat).
Meine Eltern scheinen allerdings irgendwie irritiert zu sein von der relativen Gelassenheit, die wir meistens im Umgang mit Ben an den Tag legen. Enttäuscht, dass wir sie in der Erziehung unseres Kindes nicht ständig um Rat fragen, und dass wir einige Dinge auch offenbar genau entgegen ihrem „Beispiel“ machen. Ich glaube, sie können insgeheim nicht nachvollziehen, wie wir ohne sie in der Großstadt überleben – und dann demnächst auch noch mit zwei Kindern!
„Ihr kommt nur nicht damit klar, dass wir ohne euch klarkommen!“, will ich meiner Mutter deshalb manchmal ins Gesicht schreien, wenn sie mich mal wieder rasend macht (zum Beispiel mit dem Kommentar: „Ja, das kann Ben ja noch gar nicht können, er hat es ja nicht – von euch, ihr Unfähigen, Anm. d. Red. – gelernt“). Aber ich weiß, dass ihr das sehr weh täte. Und dass es unfair von mir wäre. Und undankbar. Also lasse ich es. Und wappne mich für morgen: Da geht’s wieder für ein paar Tage auf Heimatbesuch.