Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Die Angst der Eltern vor dem Kontrollverlust

© Picture AllianceWann hält man besser fest – und wann nicht? Das ist keine leichte Entscheidung.

Ein Junge, der auf einem straßenbreiten Wanderweg permanent von seinen Eltern zurückgepfiffen wird, obwohl er bergseitig an ungefährlicher Stelle geht. Ein Mädchen, das nicht am Bach spielen darf, weil es sich aus Angst vor einer Erkältung bloß keine nassen Füße holen soll. Ein Mädchen am Tisch, abseits aller steilen Hänge und reißenden Flüsse, das mit Kuchenkrümeln spielt. Darf sie nicht. Und mit dem Stuhl kippelt. Darf sie schon gar nicht. Kinder, die nicht nur Fahrradhelm tragen und eine neongelbe Warnweste, sondern auch eine hohe Fahne ans Rädchen befestigt bekommen, um Tage später zu hören, dass sie die Mütter doch sowieso lieber mit dem Auto zur Schule fahren. Ein Junge, der nicht in die pralle Sonne nach draußen gehen darf, aus Angst vor Hautkrebs. Ein anderer Junge, der nicht alleine am Waldrand spielen soll, aus Sorge vor einem Gewaltverbrecher. Ein Neugeborenes, das auf einer speziellen Matte zur Atemkontrolle schläft und die ganze Nacht mittels eines Babyphones mit eingebauter Kamera beobachtet wird. Big daddy is watching you!

Die Reihe könnte man fortsetzen, und das Schlimmste: Die Beispiele sind alle dem wahren Leben der vergangenen fünf Jahre entnommen. Nicht, dass ich hier das Hautkrebsrisiko für Kinder oder die tatsächlich erheblichen Gefahren für Schüler im Straßenverkehr oder die Wahrscheinlichkeit für einen plötzlichen Kindstod kleinreden möchte, für viele der Beispiele lassen sich gute Argumente finden, warum Eltern ihr Kind davor schützen möchten. Aber es geht um mehr: Wie tarieren Eltern im Jahr 2018 das Verhältnis von Freiheit und Kontrolle ihrer Kinder aus? Nach meiner (natürlich nicht repräsentativen) Beobachtung verhalten sich viele Eltern übervorsichtig, indem sie ihre Kinder selbst vor kleinen Lebensrisiken absichern wollen. Der Begriff „Helikopter-Eltern“ macht dazu die Runde, aber der trifft es nur teilweise. Es geht vielmehr um Eltern, die ihre Kinder permanent an der kurzen Leine halten. Mit der Folge, dass dem Nachwuchs zu wenig Raum für eigenverantwortliches und eigenständiges Ausprobieren bleibt, ja ihnen sogar das Recht genommen wird, sich, im übertragenen Sinne, eine blutige Nase zu holen. Wie sonst sollen Kinder lernen, Situationen – und die meisten davon im Leben werden unvorhersehbar sein – richtig einzuschätzen und zu meistern, wenn nicht durch eigene Erfahrungen?

Die meisten dieser Lebenssituationen werden sich ja nicht unter Laborbedingungen abspielen. Wer, wenn nicht das Kind, das gelernt hat, zu improvisieren, Frustration auszuhalten und die eigenen Impulse und Gefühle zu kontrollieren, kann sich dann richtig verhalten? Es geht nicht um reine Anpassung im Sinne eines stupiden Opportunismus. Es geht um Selbstbestimmung und das nötige Selbstbewusstsein, eigene Entscheidungen zu treffen und bei Gegenwind dafür einzustehen. Wer als Kind aber von überfürsorglichen Müttern und Vätern auf die Wippe gehievt wird, ohne die Chance zu bekommen, es selbst zu versuchen und, ja, auch zu scheitern, wird das Bewusstsein, etwas geschafft zu haben, nicht kennenlernen. Wer die Chance gar nicht erst bekommt, aus eigenen Fehlern Schlussfolgerungen zu ziehen, wird möglicherweise später selbstgemachte Fehler seiner Umgebung zuschieben. Erst den Eltern. Den Großeltern. Später der Frau, dem Mann, den eigenen Kindern. Oder sogar reichlich diffus und ganz allgemein der Gesellschaft, ein Sündenbock für die selbst begangenen Fehler muss dann her. Wer sich nichts zutraut, erlebt seine Umgebung aber als unkontrollierbar und daher gefährlich. Und wird auch seine Kinder in diesem Sinne erziehen.

An den Kontroll-Ansprüchen mancher zeitgenössischer Eltern gemessen, hatte ich als Kind genügend Freiraum, Fehler zu machen und mich auszuprobieren. Wir haben zuhause zwar die Freizeit auch gemeinsam verbracht und sonntags Ausflüge unternommen, samstags war ich mit meinem Vater meist einkaufen – und habe von der gelben Telefonzelle aus gelegentlich zuhause anrufen müssen, weil wir den Einkaufszettel verlegt hatten. Aber die Nachmittage nach der Schule, Teile des Wochenendes und der Ferien konnte ich mit meinen Freunden zum Beispiel im Wald verbringen: Buden bauen, irgendwelche Scharmützel mit „verfeindeten“ Jungs inszenieren. Nicht alles war verplant, nicht alles in Watte verpackt. Natürlich gab es auch in meiner Kindheit Zeiten, an denen ich zuhause sein sollte. Und Grenzen. Aber der Freiheit war neben der Reglementierung ein weiter Raum zugestanden. Gab es dazu große Sorgen der Eltern? Vor Krankheit? Verletzungen? Zu viel Sonne? Vor Dieben und Vergewaltigern, die hinterm Baum lauern? Sollten meine Eltern so gedacht haben, dann habe ich damals nicht viel davon mitbekommen. Muss ich sie mal fragen beim nächsten Kaffeetrinken.

Im Ernst: Solchen Gefahren gab es damals genauso wie heute, nur die Sensibilität scheint heute um ein Vielfaches höher zu sein. In Deutschland sind im vergangenen Jahr zehntausende Kinder Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden, leider ändert sich an diesen Zahlen seit Jahren wenig. Aber einen drastischen Anstieg gibt es nicht. Vor allem sexuelle Übergriffe sind nach wie vor kaum einzudämmen, wobei die Dunkelziffer sehr hoch ist. Dass es insgesamt bei Sexualstraftaten einen Anstieg gibt, hat mit einer Reform im Sexualstrafrecht zu tun, wodurch mehr Leute angezeigt werden. Mehr als 4000 Kinder wurden im vergangenen Jahr schwer misshandelt, die Hälfte davon war jünger als sechs Jahre. Die meisten dieser Fälle geschehen im „sozialen Nahbereich“, wie es unschön heißt, zuhause in den Familien. Auch das nichts Neues, leider Stand der Dinge seit langem. Schlimm genug, dass man das nicht in den Griff bekommt, auch wenn die Hilfe- und Aufklärungsmöglichkeiten heute besser als früher sind. Wer es mit dem Schutz vor Lebensrisiken ernst meint, sollte seine Kinder daher unbedingt in den Wald schicken. Zuhause ist es gefährlicher. Aber was nutzen schon solche Erkenntnisse, wenn das Gefühl, die „gefühlte Realität“, in Zeiten von fake news wirkmächtiger ist als die Wirklichkeit? Und manche der Mär verfallen, früher sei alles besser gewesen? Gerade Eltern sind dafür anfällig.

Dass die angeblich guten, alten Zeiten sicherer gewesen seien, ist grober Unfug. Dazu nur eine kleine Anekdote aus meinem eigenen Leben: Ich war elf oder zwölf, als sich ein etwas älterer Junge, damals vielleicht 14 oder 15, an meine Freunde und mich heranmachte. Er wohnte ein paar Straßen weiter und war meiner Erinnerung nach leicht geistig behindert, jedenfalls waren wir ihm, obwohl einige Jahre jünger, intellektuell überlegen. Er suchte uns als Spielkameraden, er zeigte Interesse an uns. Wie wir alsbald merken sollten, zeigte er dies auf unangenehme und sexualisierte Art und Weise. Eines Tages wollte er sich mit uns an einem „geheimen Ort“ treffen, hinter einem großen Stromkasten am Waldrand. Was er da von uns wollte, interessierte uns nicht wirklich, da wir beschlossen, ihn zu linken. Wir bestellten ihn zum Spaß um eine bestimmte Uhrzeit dorthin, erschienen natürlich nicht, sondern lagen feixend im nahen Gebüsch, um sich über sein verdattertes Gesicht königlich zu amüsieren, als er merkte, dass er versetzt wurde. Jahre später dachte ich, es wäre gut gewesen, unsere Eltern davon zu unterrichten. Ich hatte gehört, dass der Junge versucht hatte, ein kleines Nachbarmädchen in einen Haus-Rohbau zu locken. Zum Glück wurde Schlimmeres verhindert, wie genau, das entzieht sich meiner Kenntnis. Der Junge jedenfalls flog auf und verschwand aus der Nachbarschaft – aber vielleicht hätten wir diese Eskalation verhindern können, wenn wir uns gegenüber den Eltern gerührt hätten. Dann hätte man Opfer und Täter frühzeitiger helfen können. Dennoch, was bleibt: Wir konnten unsere erlebte Situation selbständig meistern.

So etwas gibt das nötige Selbstvertrauen, auch mit anderen schwierigen Situationen klarzukommen. Aber woher kommt dann die Angst heutiger Eltern vor dem Kontrollverlust und der Katastrophe? Beim Thema Angst und Gewalt und Kriminalität spielen wir Medien eine nicht immer rühmliche Rolle, über die Vielzahl an Talkshows, bei denen schon im Sendungstitel Assoziationsrahmen von Flüchtlingen und Kriminalität (wenn auch mit Fragezeichen) aufgezogen werden, wird derzeit zurecht kontrovers debattiert. Auch die Beinahe-Echtzeitberichterstattung von Medien ist nicht immer unproblematisch. Das Unsicherheitsgefühl steigt auch deshalb, weil jede Krise, und sei sie im hintersten Hindukusch, mittlerweile viel stärker globalisiert ist und dadurch in unsere Gefilde schwappt. Nicht nur durch Medien, sondern physisch. Die gestiegene weltweite Migration verlagert Krisen und Probleme partiell in andere Weltgegenden, aber es ist mehr die Furcht vor Veränderung als die Veränderung selbst, die das Denken vergiften kann. Sonst wäre es unerklärbar, dass vor allem diejenigen, die nie Kontakt mit Migranten haben, die größten (dann häufig unbegründeten) Ängste entwickeln. Die Sorge vor Einbrüchen ist auch so ein schwieriger Patient, dem noch nicht einmal die frohe Botschaft, dass die Zahl der Einbrüche zurückgeht, helfen kann. Auch ich habe im erweiterten Familienkreis bereits den Satz „in diese Welt kann man keine Kinder mehr setzen“ hören müssen. Wenn nicht in diese Welt – in welche denn dann? Wer so etwas sagt, kann Vergangenheit und Gegenwart offenbar nicht mehr in einen sinnvollen Bezug setzen.

Das ist nicht alles: Der Leistungsgedanke und der übersteigerte Wunsch nach einer makellosen Performance im Alltag – im Supermarkt, auf dem Spielplatz, gegenüber Freunden – kann ebenfalls zu einem übertriebenen Kontrollwahn führen (es gibt allerdings auch das Gegenteil: Eltern, die ihre Kinder gar nicht begrenzen). Zumal die Freizeit mit den durchorganisierten Kindern ohnehin knapp bemessen ist, folglich ist man bemüht, das Ergebnis zu perfektionieren. Da stören schreiende Kinder an der Kasse: In unserer Feedbackkultur sind die zugegebenermaßen nicht sehr hilfreichen Kommentare der Mitmenschen dann nicht mehr erträglich – in einer durch und durch privatisierten Welt schon mal gar nicht: Was erlauben die sich? Auch die Vielzahl an Anbietern, die Kindergeburtstage von A bis Z organisieren, spricht Bände: Nichts wird hier mehr dem Zufall überlassen; bedauerlich nur, dass die Freude in den Kindergesichtern nicht gleich mitgebucht werden kann. Im Gegensatz zu manchen unbegründeten Ängsten ist dies sogar eine pragmatische und nachvollziehbare Reaktion auf den Zeitmangel in den Familien. Bleibt nur die Frage, ob sie auch fürs Kind vernünftig ist. Auswege aus diesem Stresstest für Eltern und Kind sind nicht leicht gefunden, die zeitliche Verdichtung setzt den Familien eben zu. Vielleicht hilft es als erstes, in den Freiräumen, die einem mit den Kindern bleiben, die Zügel einfach mal lockerer zu halten. Und sich nicht verrückt machen zu lassen durch Kriege, Terror, schlechte Nachrichten und die „Performance“ der Nachbarmütter und -väter.