Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Die wichtigsten Randfiguren unserer Gesellschaft

© Picture AllianceFriedlich und konzentriert: So haben diese Kinder vermutlich für ungefähr 12 Sekunden in diesem Kreis gesessen. (Finden Sie die Erzieherin?)

Wenn ich meinen Sohn von der Kita abhole, bleiben mir manchmal ein paar Minuten, um ihn zu beobachten, bevor er mich bemerkt oder irgendjemand krakeelt: „BEN! ABGEHOLT!!!“ In diesen Momenten sehe ich zu, wie er sich als Teil eines ersten sozialen Gefüges außerhalb der Familie benimmt, wie er mit anderen spielt, spricht oder streitet. Meistens ist das überaus beglückend: Mein Kind hat seinen Platz in dieser Gruppe, und es geht ihm gut.

In der Regel ist dann auch mindestens einer der (weiblichen und immerhin auch zwei männlichen) Erzieher in der Nähe, und es ist ebenso interessant zu beobachten, wie sie sich als „Rudelführer“ verhalten und von den Kindern als solche auch akzeptiert werden. Ein Gedanke drängt sich mir dabei immer wieder auf: Wie schaffen die das, mit bis zu 30 dieser Kinder gleichzeitig? Jeden Tag?! Ohne dass es ihre eigenen sind? (Letzteres scheint mir bei Eltern eine extrem hilfreiche Einrichtung der Evolution zu sein: Die emotionale Bindung an sein Kind begrenzt die Momente, in denen man es an fahrende Händler verkaufen oder auch verschenken möchte.)

Spricht man diesen Gedanken aus, erntet man meist nur ein müdes Lächeln der Erzieher, wobei müde hier mitunter wörtlich zu nehmen ist. Dabei hat er einen ernsten Kern. Die jüngsten Kinder in unserer altersgemischten Kita sind gerade mal ein Jahr alt, die ältesten sechs. Man darf davon ausgehen, dass jedes von ihnen das Wertvollste im Leben seiner Erziehungsberechtigten ist. Und dass jedes von ihnen auf seine Art Aufsicht und Zuwendung braucht. Ein Gedanke, der mir wenige Tage nach Bens Geburt das erste Mal und seitdem immer wieder mal durch den Kopf ging: Wenn man so einen kleinen Menschen sich selbst überlässt, physisch und/oder emotional, dann geht er einfach tot. Für das Universum mögen wir ein Niemand sein, aber für unsere Kinder sind wir ganz schön wichtig.

Wenn wir selbst nicht für sie da sein können, weil die meisten von uns arbeiten müssen oder wollen oder beides, muss diesen Job zeitweise jemand anderes übernehmen. Beispielsweise die Erzieherinnen und Erzieher in der Kita. Wir geben also unsere Kinder in die Obhut dieser Menschen, auf dass sie sie für einen Teil des Tages 1. am Leben erhalten und 2. idealerweise daran mitwirken, sie zu anständigen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu erziehen.

Und dann passiert etwas Eigenartiges: Wir gewöhnen uns daran, dass das einfach so funktioniert. Auch mein Mann und ich sind darauf angewiesen. Das Problem dabei ist weniger die Gewöhnung, sondern das „einfach so“. Denn so einfach geht das nicht. Kinder machen ja nicht nur Lärm und Dreck oder hauen und zanken. Ab einem gewissen Alter fordern sie einen mit ziemlich komplizierten Fragen heraus. „Warum können denn nicht beide Fußballteams gewinnen? Dann muss keiner traurig sein!“ Oder: „Sterben wir Menschen auch aus, so wie die Dinos? Sterbe ich dann auch?“ Sie blicken zu uns Erwachsenen – ob Eltern oder andere Bezugspersonen – auf, nehmen sich ein Beispiel an uns und glauben uns jedes Wort. Diese Verantwortung wiegt ganz schön schwer. Nicht zuletzt müssen Erzieherinnen und Erzieher bisweilen auch noch „nebenbei“ versuchen, auszubügeln, was in  den Familien schief läuft. Immerhin: Sie haben in der Regel Erfahrung in solchen Dingen und vor allem eine gewisse Distanz zu ihren Schützlingen. Sie können und müssen im Alltag, gerade im Umgang mit Gefahren und Konflikten, gelassener bleiben.

Es mag sein, dass nicht alle Erzieher für ihren Beruf brennen, ihn als gesellschaftliche Verantwortung und als ihre Lebensaufgabe begreifen. Aber ich glaube, dass es doch die meisten von ihnen tun. Denn einer Sache kann man sich relativ sicher sein: Sie machen ihren Job nicht für das Geld. Und nicht für die gesellschaftliche Anerkennung.

Das führt zu einer Reihe von Fragen, auf die ich einfach keine Antwort finde: Wie konnte es passieren, dass Menschen, die sich beruflich um Kinder kümmern, in dieser Gesellschaft so eine Randnotiz sind – wo sie Eltern doch in der wichtigsten aller Aufgaben unterstützen? Wo doch ebenjene Gesellschaft mehr denn je auf die Mitarbeit aller ihrer Ebenen angewiesen ist, damit der Anstand nicht verloren geht, damit Menschen mit Herz und Verstand „nachwachsen“? Oder, meinetwegen ökonomisch argumentiert: Wo doch ein großer Teil des Erfolgs unserer Wirtschaft darauf beruht, dass Eltern berufstätig sein können? Warum verdienen Erzieherinnen und Erzieher trotzdem im Durchschnitt oft weniger als 2600 Euro brutto (öffentlicher Dienst), Kinderpfleger rund 2200 Euro? Und wie kann es eigentlich sein, dass ich in Berlin für einen Ganztags-Kitaplatz lediglich 23 Euro Verpflegungsgeld bezahle, während es in Bayern rund 700 Euro für einen Halbtagsplatz wären?

Bei uns muss die Kita die Eltern jedes Mal separat anzapfen, wenn beispielsweise ein größerer Ausflug oder ein Fest geplant wird. Sie hängt dann Listen aus, in die man eintragen kann, was man spendet. Ein Mal habe ich angekreuzt, dass ich auch eine Packung Kaffeepads für die Erzieher mitbringe, und als eine Mitarbeiterin später etwas verschämt zu mir sagte, sie sei nicht sicher gewesen, ob sie „so was“ auch in die Liste aufnehmen dürften, hätte ich sie fast in den Arm genommen. Das hätte sie ohnehin verdient, weil sie trotz der widrigen Umstände eine motivierte und engagierte Erzieherin ist.

Sind die Erzieher im teuren Bayern folglich noch viel motivierter (weil besser bezahlt?), sind Kinder zufriedener als hier in Berlin, ist die Ausstattung besser? Ich weiß es nicht, aber ich ahne, dass diese Rechnung nicht aufgeht und das Finanzierungsmodell in der Kinderbetreuung einer grundlegenden Überarbeitung bedarf. Es kann nicht sein, dass der Wohnort oder das Haushaltseinkommen darüber entscheidet, ob ein Kind gut betreut wird. Und dass der Beruf des Kinderpflegers oder Erziehers etwas für Idealisten ist – nicht aber für Menschen in Ballungsräumen mit 12 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter, die womöglich auch mal eigene Kinder bekommen möchten und die irgendwie ernähren müssen.

Das Traurige ist: Es wird nicht gelingen, den Erziehern auf einen Schlag die Anerkennung zukommen zu lassen, die sie schon immer verdienen. Es bräuchte einen grundlegenden Wertewandel, hin dazu, jene Menschen stärker zu würdigen, die sich beruflich um andere Menschen kümmern. Vielleicht trägt die Digitalisierung dazu bei – jedenfalls hoffe ich sehr, dass auch in Zukunft keine Roboter, sondern Menschen unseren Kindern ihre Fragen beantworten und sie trösten, wenn sie sich in der Kita das Knie aufgeschlagen haben. Das Gute ist: Wir können als Eltern schon jetzt etwas für diesen Wandel tun, und es kostet auch gar nicht viel. Es muss ja nicht gleich eine Umarmung sein; aber wir können beim Abholen des Kindes täglich eine Sekunde innehalten für einen gar nicht so banalen Satz wie diesen: „Ich danke euch! Bis morgen!“