Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Ehret die Muscheln, hortet die Bilder!

© Picture AllianceHerrlich, wenn sie basteln. Noch schöner, wenn man ihre Basteleien unauffällig entsorgen kann.

Es ist dieses kleine, miese Gefühl des Verrats. Verrat am eigenen Kind. Da hilft weder Logik noch Ablenkung. Auch das Wiegen in falscher Sicherheit, das Verlassen auf elterliche Raffinesse kann den Stachel nicht lösen, den ich mir selbst ins Herz gerammt habe: „Das wird sie schon nicht merken“ oder „Irgendwann ist dann auch wirklich kein Platz mehr“ oder „Ich hab ihr ja gesagt, dass ich mich gefreut habe“. Alles vergeblich. Die „guten Gründe“ sind keine mehr. Ich habe es tatsächlich getan. Und jetzt fühle ich mich… ach, egal.

Und so ist es passiert: Seit etwa sechs Monaten stand das von meiner jüngsten Tochter gebastelte Papp-Aquarium auf der Fensterbank in meinem Büro. Schuhschachtelgroß war es, auf der Innenseite mit blauem Tonpapier tapeziert, hier lebten bis vor kurzem eine rothaarige Meerjungfrau, zwei gelbe Fische, sechs Muscheln und ein grüner Zauberstein. In Art und Umfang ein beeindruckendes Erstlingswerk für eine Vierjährige, und ich war ehrlich begeistert, als sie es mir zeigte. Vielleicht war meine Begeisterung etwas übertrieben, jedenfalls stellte meine Jüngste mir sofort das Papp-Aquarium auf den Schreibtisch und sagte: „Schenk ich dir!“

Kunst liegt im Auge des Betrachters. Nur wohin mit ihr, wenn es täglich neue gibt?

Erwachsene sind selten auf so viel unreflektierte Herzensgüte vorbereitet. Oder auf spontane Gabendarreichungen außerhalb der dafür vorgesehenen Kalendertage. Denn im Laufe ihrer Sozialisation lernen sie, selbst kalkuliert zu schenken, sie wägen ab, das eigene Zeit- und Geldbudget fließt in ihre Überlegungen, Interessen und Vorlieben der zu Beschenkenden, Bildungshintergrund, Wohn- und Lebenssituation. Vor allem wollen Erwachsene mit Geschenken nicht peinlich sein oder lästig oder im Weg stehen. Sie wollen sich nicht verletzlich machen, nicht angreifbar durch ihre Gaben. Weshalb Erwachsene eher Amazon-Gutscheine verschenken als Selbstgemachtes. Oder sie verständigen sich gleich darauf, sich nichts mehr gegenseitig zu schenken, weil man „doch schon alles hat“ und selbst besser weiß, „was man wirklich braucht“.

Vierjährige stehen noch am Anfang dieser Sozialisation. Für sie sind Geschenke toll, also sollen jene Menschen Geschenke bekommen, die man gern hat. Egal wie lang der Abstand zum nächsten Gabenfest ist oder wie groß oder klein oder shabby chic das Geschenk ist. Auch weil das Ding, das Bild, das Papp-Aquarium, in das man so viel Energie und Zeit gesteckt hat, jetzt eine andere Bestimmung braucht – es ist ja fertig. Was Vierjährige – wie schon erwähnt – dabei notwendigerweise ignorieren, sind die Externalitäten ihrer guten Tat.

„Dann stellen wir das mal auf das Fensterbrett.“ Meine Begeisterung muss da schon etwas flachatmiger geklungen haben, aber meine Jüngste merkte davon nichts. Das Papp-Aquarium hatte seinen Platz in meinem Büro gefunden – neben dem selbstgebastelten Fotorahmen mit seinen quietschbunten Quadraten, den mir meine älteste Tochter geschenkt hatte, neben der aufgesägten Erdnussdose mit der aufgesteckten leeren Klopapierrolle („Fabrik mit Schornstein“) von der mittleren, neben dem Stapel mit noch unsortierten Aquarellen, Wachs-, Filz- und Holzmalstift-Gemälden. Die meisten dieser Werke sind klar adressiert, „für Papa von“. Bei anderen – wie dem Papp-Aquarium – ist der Eigentumsübertrag durch konkludentes Handeln oder mündliche Erklärung der Künstlerin erfolgt. Will heißen: Aus diesen Geschichten komme ich nicht mehr raus, ohne Gefühle zu verletzten.

Jetzt gibt es aber neben allen ästhetischen und psychologischen Erwägungen noch einen anderen Gesichtspunkt, der beim Leben mit drei produktiven Nachwuchskünstlerinnen von Bedeutung ist: Es ist die Menge. Der kreative Output. Das Produkt aus Material (Papier, Muscheln, Farbe, Klopapierrollen, Eierschachteln, Kronkorken, Styroporverpackungen, Umzugskisten) und Künstler (alles mal drei). Jeder Urlaub am Meer bringt mindestens zwei Tüten Muschelschalen – pro Kind; jeder Ausflug Steine, Zweige, getrocknete Blätter; jeder Besuch bei Opa neue Baupläne. Und selbst wenn nicht alles verarbeitet wird, bleibt doch immer in irgendeiner Ecke ein potentielles Kunstwerk – und sei es nur als verschrumpelte Kastanie unter einem Bett.

Der kreative Output ist also der gemeinsame Nenner. Und im Zähler steht wahlweise die verfügbare Ausstellungsfläche oder die elterliche Aufmerksamkeit. Was mich bisher immer wieder mit Notwendigkeit zu jenen eingangs erwähnten „guten Gründen“ verleitet hat. Was die leise Kunst-Entsorgung zur Folge hat.

Gelegentlich werde ich dabei ertappt: „Das habe ich dir doch geschenkt!“ In der Stimme meiner mittleren Tochter liegt – zu Recht – Empörung, als sie ihr Bild mit dem Regenbogen, dem Trampolin und dem Mädchen auf der Schaukel in meinem Papierkorb entdeckt. In der Regel reagiere ich dann, abhängig vom eigenen Energielevel, auf eine der folgenden drei Arten:

1. entrüstet: „Wie kommt das denn da rein?!“ (funktioniert nur bis Vorschulalter)
2. nüchtern: „Ich habe mal aussortiert. Ich habe inzwischen so viele Bilder.“
3. rhetorisch: „Magst DU es denn noch? Ich finde, du malst jetzt ganz anders.“

Die Kinder sind damit einigermaßen beruhigt. Mich lassen dagegen alle drei Varianten unzufrieden zurück. Weshalb ich mich mit den „guten Gründen“ erst befasse, wenn ich mich allein und unbeobachtet fühle. So wie vergangene Woche.

Das Papp-Aquarium – es passte so gar nicht zur Arbeitsatmosphäre, die ich mir für mein Home Office wünschte. Immer wenn ich zu den Ablagekörben auf der Fensterbank schaute, sah ich die rothaarige Meerjungfrau, die über den Muscheln vom letzten Strandurlaub schwebte. Wie soll man sich denn da konzentrieren können? Wohin also damit? Alle anderen Ausstellungsflächen im Haus waren belegt.

Und dann tat ich es. Ich nahm das Papp-Aquarium und ging damit zu unserer Altpapiertonne, legte es behutsam mit Muscheln, Fischen, Meerjungfrau und Zauberstein in den Müll. (Die werden das dann schon trennen bei der Müllabfuhr). Dann ging ich zurück in mein Büro und schaute auf den freigewordenen Platz auf der Fensterbank. Und dann war da dieses Gefühl, dieses kleine, miese Gefühl…

Das Papp-Aquarium steht jetzt bei uns im Garten. Inzwischen sind noch eine Spinne und ein paar Kellerasseln eingezogen, echte Spinnen und echte Kellerasseln. Wahrscheinlich wird das Papp-Aquarium diesen Sommer nicht überleben, wenn es regnet, weicht die Pappe auf. Ich aber werde alle Kunstwerke aufbewahren, die mir meine Kinder schenken. Alle. Und ich hoffe, dass sie mir immer Selbstgemachtes schenken und nicht irgendwann Amazon-Gutscheine.