Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Ekelst du dich noch – oder isst du schon?

© Picture AllianceFalls Sie ganz sicher sind, dass Sie hier statt dieser niedlichen Ultraschallaufnahme lieber eine nachgeborene Plazenta gesehen hätten, googeln Sie einfach.

„Was möchten Sie nach der Geburt mit Ihrer Plazenta anstellen?“ – Freundlich ruhen die Augen der Hebamme beim Infogespräch zur Geburtsanmeldung in der Klinik auf mir. „Du musst ein kleines Stück davon essen“, hat eine Freundin mir eingeschärft. „Da wird die Bindung zum Kind enger, du bekommst keine Wochenbettdepression und das Stillen klappt besser.“ Sie selbst habe nach der Geburt ihres Sohnes ein fingernagelgroßes Stückchen hinuntergewürgt („Schmeckte nach nichts, ich schwör’s!“), dann die Plazenta in einer Tüte mit nach Haus genommen, im Garten vergraben und einen Baum darauf gepflanzt.

Nur zur Info: Die Plazenta, auch Mutterkuchen genannt, ist etwa handgroß und ein halbes Kilo schwer. Die eine Seite blutrot und fleischig, die andere schleimig-glänzend, durchzogen von verästelten Blutgefäßen, die an einen Baum erinnern. Mediziner und Hebammen haben ein Faible für dieses Organ, das die Babys im Mutterleib versorgt; doch die Begeisterung überträgt sich eher selten auf werdende Eltern. Bei den Fotos der Plazenta, mit denen den Chefarzt der Gynäkologie den Infoabend im Krankenhaus eröffnete, drehte sich einigen Männern im Saal der Magen um. Die Frauen übten schon mal meditative Bauchatmung.

Dieses schwabbelige Ding essen? Allein von der Vorstellung wird mir flau, obwohl ich nicht generell ein Problem mit Blut oder Fleisch habe – Rindersteaks können nicht blutig genug vom Grill auf meinem Teller landen.

In den vergangenen Jahren hat sich ein regelrechter Hype entwickelt um das Essen der Nachgeburt, Plazentophagie oder wenig beschönigend auch „Plazenta-Kannibalismus“ genannt. Kim Kardashian oder Schauspielerin Alicia Silverstone („Clueless“) haben sich aus ihren Plazenten Pillen drehen lassen und schwören auf deren heilende Wirkung. Findige Apotheken bieten auch in Deutschland an, aus einem bohnengroßen Stück Plazenta Globuli herzustellen, die Frau und Kind durchs Leben begleiten. Selbst Männer bleiben offenbar nicht verschont: Tom Cruise soll die Plazenta seiner Tochter gegessen haben, Jamie Oliver hat auf Instagram einen Kuchen aus Plazenta gepostet. (Das war kein Scherz von wegen Mutterkuchen, er meinte das ernst!)

Ich werde meine Plazenta sicher nicht als Steak braten, in Lasagne oder Spaghetti Bolognese verarbeiten oder getrocknet und gemahlen ins Müsli rühren. Dabei könnte ich das problemlos tun: Step-by-Step-Anleitungen für die Verwendung der Plazenta in der heimischen Küche gibt es im Internet. Nicht weil ich feige bin oder nicht wüsste, dass meine Plazenta ein Super-Organ ist, das mein Baby mit allem ausstattet, was es braucht, und es zugleich gegen Gift- und Schadstoffe abschirmt. Sondern genau aus diesem Grund. Die Gefahr besteht, dass ich mein Kind durch das Plazentaessen mit Krankheitserregern anstecke oder Schadstoffen belaste. Ich bin sicher, dass es einen Grund hat, dass der Körper die Plazenta nach der Geburt abstößt und für jedes Kind neu bildet.

Da kann mich auch nicht umstimmen, dass selbst vegetarische Säugetiere ihre Plazenta auffressen. Möglicherweise brauchen Tiere nach der Geburt Eisen und Nährstoffe aus der Plazenta und nehmen die Schadstoffe in Kauf. Vielleicht wollen Rinder oder Schafe verhindern, dass Fressfeinde durch den Geruch angelockt werden. Ein in deutschen Krankenhäusern eher unwahrscheinliches Szenario. Auch habe ich noch nie davon gehört, dass eine Frau nach der Geburt unstillbares Verlangen nach einem Happen Plazenta hatte.

So jung der Hype um das Verspeisen der Plazenta ist – es geht noch schräger: „Lotusgeburt“ heißt das neue Stichwort. Das Kind wird dabei nicht abgenabelt, sondern bleibt mit der Plazenta verbunden, bis die Nabelschnur sich optisch in den getrockneten Schwanz einer überfahrenen Ratte verwandelt hat und von alleine abfällt. Das soll Babys einen sanfteren Start ermöglichen und einen Energie-Booster fürs ganze Leben geben. Beim täglichen Salzen und Einreiben der Plazenta mit Ölen und Kräuern ist die ganze Familie dabei. Möchte jemand das Baby auf den Arm nehmen, bekommt er die Plazenta in einer Tasche mit dazu gereicht. Positiver Nebeneffekt: Niemand beharre mehr darauf, das Neugeborene auf den Arm nehmen zu dürfen. Ekelfaktor? Ziemlich hoch. Dabei werden Fans der Lotusgeburt in Internetforen nicht müde zu betonen, dass die Plazenta bei richtiger Pflege überhaupt nicht stinke und man sie, nachdem sie vollständig ausgetrocknet sei, sogar aufheben könne. Schon die Indianer sprachen der Nabelschnur schließlich magische Kräfte zu. Kritiker warnen vor Schäden am Nabel und Infektionsgefahr.

Ich bin meiner Plazenta sehr dankbar dafür, dass sie mein Baby bis zu seiner Geburt so gut versorgt. Und doch will ich danach nichts mit ihr anstellen. Komische Vorstellung, in einigen Jahren mit den Nachbarn bei einem Glas Weißwein unter einem Plazentabaum zu sitzen. „Ach ja, der wächst so wunderbar, weil wir hier vor Jahren meine Plazenta verbuddelt haben. Prost!“ Unsere jetzige Wohnung hat auch gar keinen Garten. Was also tun? Im Balkonkübel vergraben? Oder in der Hofeinfahrt? Gedanklich sehe ich mich schon in einer konspirativen Nachtaktion mit Schäufelchen und Plazenta bewaffnet in der begrünten Verkehrsinsel vor unserem Haus herumscharren.

Wie gut, dass es auch für so hoffnungslose Plazenta-Verweigerer wie mich eine geeignete Lösung gibt: Ich kann meine Super-Plazenta für die Forschung spenden. Die Option kann man im Personalbogen der Klinik ankreuzen, dann gehört die Plazenta nach der Geburt dem Krankenhaus. Ich hoffe, der Chefarzt grillt sie sich nicht zum Salat.