Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Die Hilflosigkeit des Elternseins

© Picture AllianceNiemand „gehört“ ins Krankenhaus – aber Kinder am allerwenigsten.

Ein Spoiler vorweg, weil alles andere unpassend wäre: Die Geschichte von unserem kranken Kind hat ein Happy End. Aber das ist nicht selbstverständlich, und es war nicht von Anfang an klar. Sie hat mich gelehrt, was man gemeinhin zu wissen glaubt, ich aber bis vor kurzem nicht im Ansatz begriffen habe: was für fragile Konstrukte das Leben, die Gesundheit und das Glück sind. Hatte ich nicht kürzlich noch geschrieben, wie entspannt wir nach der Geburt meines zweiten Kindes in das Familienleben zu viert gestartet waren und wie gut wir alles, zu unserer eigenen Überraschung, im Griff hatten? Eben noch in der Neugeborenen-Glückshormon-Blase, auf einmal in der Kinderklinik. Mit einem zehn Wochen alten Baby.

So eine Kinderkrankenstation ist der zweittraurigste Ort, den ich mir in unseren Breiten überhaupt vorstellen kann. Auch wenn die Wände mit Mickey Mouse, Daisy Duck, Schiffen und Fußballspielern bemalt sind, bunte Mobiles von der Decke im langen Flur baumeln und es ein Spielzimmer gibt. Oder gerade deswegen. Niemand „gehört“ in ein Krankenhaus, aber Kinder tun es am allerwenigsten. An einem Tag sind zwei Clowns zu Besuch und singen auf dem Flur zu Akkordeonbegleitung, umringt von einem halben Dutzend Kindern im Kita- und Grundschulalter und ihren Eltern: Der Bieber, der hat Fieber, und die Eule hat ’ne Beule. Ein paar Kinder klatschen, aber ein etwa sechs Jahre alter Junge mit beiden Füßen in blauem Gips weint leise auf dem Schoß seiner Mutter, und sie schaut über seinen Kopf hinweg bekümmert zum Vater hinüber. Ich habe einen Kloß im Hals und schließe unsere Tür zum Flur. Nachts, wenn ich Lukas stille, ist oft von irgendwo Weinen oder Schreien zu hören. Tagsüber schlurfen Eltern mit müdem Blick und ihren Kindern auf dem Arm über die Gänge, man trifft sich am Kaffeewagen.

Unser kleiner Lukas ist hier gelandet, weil nach zwei unruhigen Nächten mit (mäßigem) Fieber seine Urinprobe beim Kinderarzt auffällig war: Verdacht auf Nierenbeckenentzündung. Sie beginnt als Harnwegsinfekt. Bakterien gelangen in den Harnleiter, steigen von dort auf, können die Nieren schädigen und unbehandelt zu einer Blutvergiftung führen. Bei so kleinen Kindern ist die Überweisung ins Krankenhaus obligatorisch, die Behandlung mit Antibiotika alternativlos, so erklärt man uns. Doch es dauert eine Weile, bis die Diagnose gesichert ist. Am Anfang steht die nähere Untersuchung von Urin, Blut und Stuhl. Ein Stich in die weiche Kopfhaut, die Vene dort ist die beste Stelle für die Blutabnahme und als Zugang für die Infusion. Die Ärztin hantiert etwas umständlich herum, so kleine Kinder hat man hier auch nicht jeden Tag. Lukas schreit, windet sich, eine Schwester hält das knallrote kleine Köpfchen fest. Bei Babys können die kleinen Venen schon mal durch die Infusion platzen, erfahre ich, dann müsste man noch mal pieksen. Ich tue gefasst und bin insgeheim schon am Ende. Wir haben nichts mehr im Griff. Wir müssen uns darauf verlassen, dass fremde Leute das Richtige tun.

In den Tagen darauf gehen mir an dem eisernen Gitterbett, in dem mein Kind so winzig aussieht, immer wieder die gleichen Gedanken durch den Kopf: Was, wenn es etwas noch Schlimmeres ist? Und: Warum konnten wir das nicht verhindern? Und: Warum haben wir nicht früher gehandelt? Letzteres geht auf meine Kappe: Mein Mann hatte schon nach der ersten fiebrigen Nacht gesagt, wir sollten mit Lukas zum Arzt. Doch die erhöhte Temperatur kam nur von seinem kleinen Infekt, war ich überzeugt; außerdem war er kurz zuvor geimpft worden. Tagsüber ging das Fieber dann zurück, außerdem war Wochenende; wir sollten uns nicht so anstellen, sagte ich zu meinem Mann, Berichte über überfüllte Notaufnahmen voller Bagatellfälle und Kritik an überängstlichen Helikopter-Eltern im Hinterkopf. Also haben wir uns nicht angestellt. Doch als wir nach der zweiten Nacht mit fieberndem, weinerlichem Baby schließlich doch in der Bereitschaftspraxis am Tresen standen und unseren Fall beschrieben, fragte die Arzthelferin mit hochgezogenen Augenbrauen: „Und da sind Sie nicht früher zum Arzt gegangen?“ Wie man es macht, man macht es falsch – nur war es in diesem Fall wirklich falsch, und der kleine Sohn muss es ausbaden. Dabei sollten wir ihn beschützen. Wer, wenn nicht wir?

Später im Krankenhaus sagen uns die Ärzte, wir mögen jetzt bitte nicht überängstlich werden mit Lukas. Dass wir keine übertriebenen Hygienemaßnahmen ergreifen sollen. Und dass wir nichts hätten tun können, um die Infektion zu verhindern. Die Keime, die sie verursachen, kämen in den reinlichsten Familien vor. Manche Kinder neigten zu Bronchitis, andere eben zu Harnwegsinfekten. Bei Lukas wird der Spuk, Antibiotika sei Dank, bald vorbei sein und bleibt mit einiger Wahrscheinlichkeit eine einmalige Sache, die Nieren sind gesund. Die Worte der Ärzte sind tröstlich – und doch wieder nicht. Wir mögen nicht immer schuld sein an dem, was unseren Kindern passiert. Aber wir sind immer verantwortlich. Und solange wir zumindest theoretisch Unheil von ihnen abwenden können, indem wir besonders aufpassen, fühlen wir uns nicht ganz so machtlos.

Die Tage in der Klinik vergehen, es kehrt so etwas wie Routine ein. Noch zwei Mal wird Lukas gepiekst, jedes Mal stellen die Schwestern eine „Tapferkeitsurkunde erster Klasse“ für ihn (und vermutlich auch ein bisschen für mich) aus. Antibiotika gibt es per Tropf alle acht Stunden, die anderen Schläuche sind schon ab. Abseits davon bekommt Lukas von der ganzen Aufregung nichts mit, er lernt in diesen Tagen sogar richtig zu lächeln. Nur der große Sohn ist etwas durcheinander. Lukas soll mit nach Hause, findet Ben, und steckt seine Hand bei jedem Besuch zwischen die Gitter, um ein kleines Händchen zu greifen. Ich bin so froh, dass ich ihm sagen kann, dass wir es bald geschafft haben, dass alles gut wird. Ich könnte es auch gar nicht ertragen, wenn es anders wäre, ich weiß nicht, woher andere Eltern die Kraft nehmen, wenn es anders ist. Unsere Kinderkrankenstation ist keine Intensivstation oder Kinderonkologie. Hier sind Kinder mit einem gebrochenen Bein, mit Nahrungsmittelallergien oder eben Harnwegsinfekten. Das ist alles schlimm, ohne Frage, aber früher oder später gehen die meisten wieder gesund nach Hause. Mit dem Gedanken an den allertraurigsten Ort muss sich hier niemand beschäftigen, er ist weit weg.

Zumindest denke ich das. Bis mir eines Tages auf dem Spaziergang über das weitläufige Klinikgelände plötzlich eine runde, etwas verwitterte Tafel auf einem Holzpfahl ins Auge fällt: „Garten der Palliativstation“ steht darauf, wobei man den Garten unter dem vielen Herbstlaub nur vermuten kann. Das Gebäude direkt dahinter sieht aus wie ein niedriges, langes Appartementhaus mit lauter kleinen Balkonen auf der Längsseite. Auf einem davon steht ein leerer Wäscheständer. Und auf einem anderen ein rotes Dreirad.

Ich drücke das schlafende, fast gesunde Baby in seiner Trage noch etwas näher an mich und gehe schnell weiter. Noch zwei Mal schlafen, dann dürfen wir nach Hause.