Es ist bald soweit – ich spüre es schon, und es macht mich, ja, ziemlich wehmütig: Der Weihnachtsmann wird uns verlassen. Für immer. Es muss sein.
Unsere jüngste Tochter verlässt langsam das Stadium der „Präoperationalen Intelligenz“ (so hätte es der Entwicklungspsychologe Jean Piaget ausgedrückt). Bald wird auch bei ihr das Bild des jovialen, rauschebärtigen Rentierschlitten-Benutzers und Geschenkbringers vollständig von der Realität verdrängt werden, also von adventsgestressten Eltern, die überarbeiteten Paketboten die Online-Einkäufe aus der Hand reißen.
Noch aber ist alles im grün-magischen Bereich. Ich habe das kürzlich bei unserer Fünfjährigen abgeprüft:
„Was glaubst du, wer bringt wirklich die Weihnachtsgeschenke?“
„Der Weihnachtsmann. Ist doch klar.“
„Und wie macht er das?“
„Mit einem Sack.“
„Und wie kommt er hier rein?“
„Er klettert durch ein Fenster.“
„Und wenn das Fenster zu ist?“
„Dann kommt er durch die Tür.“
„Wenn wir schlafen und die Tür verschlossen ist?“
„Dann kommt er eben durch den Schornstein.“
An dieser Stelle habe ich das Verhör abgebrochen, weil ich die Entmagisierung so kurz vor Weihnachten nicht beschleunigen wollte. Das besorgen dann schon die beiden älteren Geschwister.
Forscher sind sich uneinig, ob das weihnachtliche Anlügen der Kinder und die irgendwann mit Notwendigkeit folgende Ent-Täuschung schädlich sind für die Eltern-Kind-Beziehung oder nicht. Auch unsere eigenen Erfahrungen damit sind bisher uneindeutig. Während unsere älteste Tochter, inzwischen zwölf Jahre alt, völlig geräuschlos und schadenfrei in die kalte Wirklichkeit geglitten ist, hat die mittlere doch sehr deutlich Kritik geübt, als ihr vor drei Jahren die Illusionen genommen worden: „Jetzt mal ganz ehrlich, wirklich: Stimmt das denn jetzt mit dem Weihnachtsmann oder nicht?“, wollte sie plötzlich in der Adventszeit wissen. Eine ehrliche Frage einer damals Sechsjährigen. Woraufhin sie einfühlsam aufgeklärt wurde, unter anderem mit dem Verweis auf historische Figuren (Nikolaus von Myra, Jesus, Schafe) und auf die tiefere Botschaft, die hinter dem Weihnachtskonstrukt verborgen ist. Die erste Reaktion der frisch Aufgeklärten war dennoch niederschmetternd: „Weißt du, vielleicht möchten die Kinder auch nicht mehr bei den Eltern bleiben, wenn die einen so anlügen!“
Sie ist dann Gottseidank geblieben. Und sie hat erklärt, dass sie sich ab sofort jedes Jahr neu entscheidet, ob sie an den Weihnachtsmann glauben möchte. Das ist eine pragmatische Herangehensweise. Bin gespannt, ob sie das wirklich durchhalten kann.
Jetzt gibt es sicher Eltern, die ihren Kindern von Anfang an reinen Wein einschenken, also: Kind wünscht sich XY, Eltern oder Großeltern kaufen XY, und XY gibt es dann zur Jahresendfeier als Geschenk. Oder zumindest einen Amazon-Gutschein. Nix Rentierschlitten, Rauschebart und Ruprecht-Knecht.
Das ist eine edle, eine aufklärerische Geisteshaltung. Schon früh den Kindern einen realistischen Blick auf die Wirklichkeit vermitteln. Aber dazu sind die wenigsten Eltern oder Großeltern bereit oder in der Lage, denn natürlich werden die Illusionen nicht der Kinder wegen, sondern fürs eigene Erwachsenen-Gemüt gezaubert. Und welcher Erwachsene will darauf verzichten? (Ich nicht!) Nochmal den magischen Momenten der eigenen Kindheit nachhängen dürfen, wenn Fünfjährige Erklärungen für Unerklärliches suchen: „Der/Die/Das *** (setze hier je nach Region und Weltanschauung den zutreffenden magischen Wunscherfüller ein) weiß, dass ich mir den Bauernhof wünsche – ich hab es ### (setze hier den Namen des persönlichen Kuscheltiers ein) gesagt.“ Ach, war das Leben mal einfach!
Magisches Denken bei Kindern schafft Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die von poetischer Schönheit sein können: Dann fliegen Zahnfeen durch die Stadt auf der Suche nach wertvollen Milchzähnen für ihre Sammlung. Ampeln werden plötzlich grün, wenn dem Kind der richtige Zauberspruch einfällt (Spoiler: Es ist immer der richtige!). Und sollte mal tatsächlich ein schlechter Traum durch den Traumfänger gerutscht sein – was muss man da tun? Klar: Papa muss das indianische Kultobjekt einmal kräftig durchpusten.
Irgendwann ist das dann alles vorbei, die Zahnfeen, Weihnachtsmänner und Osterhasen verschwinden. Und das ist auch okay. Schade, aber okay. Es gibt da nur ein Problem: In den meisten Fällen bleibt das magische Denken erhalten, es sucht sich nur Ausdrucksformen, die in der Erwachsenenwelt (oder zumindest in bestimmten Kreisen) akzeptiert werden – und bei Bedarf, wenn die Welt zu kompliziert wird, taucht es wieder in Reinform auf. Nur brutaler, ideologischer, rücksichtsloser – und noch egozentrischer. Als Glaube in eine „Schicksalsmacht“, in einen politischen Heilsbringer, in einfache Lösungen. Plötzlich wird – wie in Kindheitstagen – Wünschen mit dem Bekommen gleichgesetzt. Nix kritisches Denken, nix Rationalität.
Das magische Denken kann sich sogar fortschrittlich geben, Wunscherfüllung versprechen durch Künstliche Intelligenz und Smart Irgendwas. „Alexa, mach mal, dass nicht so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen müssen. Und jetzt spiel irgendeine traurige Musik.“
In der Kindheit wird der Egozentrismus des magischen Denkens irgendwann durch die Fähigkeit zur Perspektiven- und Rollenübernahme überwunden, ein großer Schritt auf dem Weg zur reifen Persönlichkeit. Kinder können also tatsächlich irgendwann Mitleid entwickeln, wenn sie verstehen, wie viele Pakete der Zusteller vor Weihnachten rechtzeitig ausliefern muss. Die meisten Erwachsenen dagegen halten es inzwischen für eine Selbstverständlichkeit und ihr marktgegebenes Recht, dass die absurdesten Online-Käufe doch bitteschön am nächsten Tag angeschleppt werden.
Erwachsene mit ihrem uneingestandenen Hang zum magischen Denken sind die liebsten Adressaten von Propaganda und Marketingkampagnen. Sie verfallen der Illusion und halten sich gleichzeitig für vernunftbegabt. Ich behaupte jetzt mal, dass selbst die, die nie an den Weihnachtmann oder die Zahnfee geglaubt haben, in der Gefahr stehen, als Erwachsene auf magisches Denken zurückzugreifen. Vielleicht ist sogar ein guter Weihnachtsmann-Glaube in der Kindheit die beste Impfung gegen den Rückfall in magisches Denken als Erwachsener. Oder, wie es unsere Jüngste ausdrücken würde: „Mit den Geschenken haben die Erwachsenen gar nichts zu tun. Das machen alles die Kinder und der Weihnachtsmann miteinander aus.“