Morgen, verkündete meine 13-jährige Tochter eines Tages während der Ferien, morgen wolle sie mit einer Freundin im Bus nach Köln fahren. Ohne Erwachsene. Es war eine dieser unvermittelten Ankündigungen, die Eltern zusammenzucken lassen, weil sie so plötzlich wie ein Sommergewitter auftauchen. Gerade noch grämt man sich über das seit Wochen wort- und antriebslose Pubertier, da verwandelt es sich plötzlich in eine tatkräftige Zugmaschine, die skeptische Eltern in Alarmbereitschaft versetzt.
Also mal kurz innehalten, nachfragen, staunen. Was will das Kind in Köln? Warum denn morgen? Mit dem grünen Billigbus um 6.40 Uhr, Dein Ernst? Weiß das Kind, was auf so einem Ausflug alles passieren kann? Weiß ich es? (Ja, in allen Farben!)
Als alle laut gestellten Erwachsenen-Fragen beantwortet sind, meldet sich die leise Stimme im Kopf: Kann sie das überhaupt? Und wenn sie es kann, komme ich damit zurecht? Diese Fragen quälten mich die ganze Nacht.
Die meiste Zeit wissen wir Eltern einfach, was wir unseren Kindern zutrauen können: Eine Mischung aus Beobachtung, Erfahrung und Wortwechseln gibt uns die nötige Gewissheit. Wir kennen sie ja mit ihren Stärken, ihren Schwächen, ihren Kenntnissen und Fähigkeiten. Wir standen ja fast daneben, als sie sie entwickelt haben.
Aber dann gibt es Momente, in denen sie uns von den Füßen hauen, weil sie sich viel mehr zutrauen als wir ihnen. Das sind Herausforderungen, die den Älteren fast noch mehr abverlangen als den Jüngeren. Weil Eltern all die Probleme voraussehen, die sich Kinder zum Glück noch gar nicht vorstellen können. Und man nun von ganz alleine die bremsende Sorge und die voranschubsende Ermutigung fein und möglichst richtig austarieren soll.
Mein scheues Kind, das sich gerne ums Einkaufen oder Bestellen im Restaurant drückt, weil man da mit fremden Erwachsenen sprechen muss, will plötzlich hinaus in die Welt? Es war nicht das erste Mal, dass ich staunend und schaudernd zugleich aufs eigene Kind schaute.
Den wohl denkwürdigsten Moment dieser Art hatte sie mir sieben Jahre zuvor geschenkt. Auf dem Plan stand Verkehrserziehung im Kindergarten, die Vorschulkinder sollten vor den Augen eines echten Polizisten zeigen, dass sie fit für den Großstadtverkehr waren. Eingeteilt waren auch ein paar übermotivierte Elternteile wie ich, die an Zebrastreifen und Straßenecken postiert wurden, um die Kinder bei ihrer ersten Solo-Runde um den Block im Auge zu behalten.
Albern kichernd standen wir zunächst an einem Zebrastreifen herum und erwarteten die Ankunft unserer Sechsjährigen. Dann kamen sie, einzeln, den sonst menschenleeren Gehweg entlang. Ich werde nie den Anblick meiner Tochter vergessen, wie sie da mit finsterer Miene und einer nie dagewesenen Konzentration den scheinbar kilometerlangen Fußweg hinter sich brachte. Sie: winzig. Die Autos rundum: alle in SUV-Größe. Die Federn unter meinen Armen begannen sofort zu wachsen, aber ehe ich die Flügel schützend über sie ausbreiten konnte, war sie schon grußlos und mit todernstem Gesicht an mir vorbeigegangen, kurzer Stopp an der Bordsteinkante, Kopf nach links, nach rechts, nach links und dann ohne Zögern über die wahrscheinlich autobahnbreite Straße.
Da war zum ersten Mal diese glasklare Erkenntnis: Sie packt das. Geht ganz allein in die Welt hinaus und macht alle Anstalten, auch wieder heil zurück zu kommen. Sie hat etwas dazugelernt und kann es anwenden. Ist selbständiger geworden. Sie braucht mich nicht mehr. Wie wunderbar. Wie schrecklich.
Weil loslassen ja so schwer ist, bin ich dennoch bei ihrem ersten alleinigen Gang zur Schule hinterhergeschlichen, wie ein schlechter Detektiv von Baum zu Glascontainer zu Litfaßsäule, um das grandiose Spektakel auch in allen Einzelheiten mitzuerleben. Ein großer pädagogischer Reinfall, weil mich das aufmerksame Kind dann auch noch entdeckte und vorwurfsvoll fragte, was ich da bitte zu suchen hätte. Da bin ich zum ersten Mal vor meinem Kind rot geworden.
Und nun wollte das Kind noch viel weiter weg. Nur mit einer gleichaltrigen Freundin im Gefolge, allen Widrigkeiten der Welt ausgesetzt. Würde sie im Notfall fremde Leute ansprechen und um Hilfe fragen? Würde sie die richtigen ansprechen?
Als ich mich schließlich zu einem Ja durchgerungen hatte, einem Ja, das voller Vorschussvertrauen war, ging alles ganz leicht. Mein Kind hatte schon längst online herausgefunden, wo der Bus genau abfuhr, wie man in Köln in die Innenstadt kam und – festhalten – in welches Museum die Mädchen gehen wollten. Weil sie dort als Kinder gratis reinkamen und das Wetter schlecht werden sollte. Dass meine Tochter so gut planen konnte, hatte ich nicht gewusst. Vielleicht hatte ich sie das auch noch nie machen lassen.
Dass die Mädchen auch tatsächlich am Ziel ihrer Wünsche ankamen, konnte ich den Fotos entnehmen, die sie mir alle drei Stunden sichtlich stolz schickten. Selfies vor dem Dom, am Busbahnhof, im Museum, auch Langeweile im Café. Abends kamen sie müde und glücklich wieder zurück und waren irgendwie auf der Reise auch drei Zentimeter größer geworden. Und viel selbständiger.
Wie schrecklich. Wie wunderbar.
Ich werde mich dran gewöhnen müssen. Denn das ist erst der ganz kleine Anfang vom großen Abschied.