Vor den Sommerferien (und vor Weihnachten) häufen sich in unserem Familienkalender immer die Aufführungs-, Auftritt- und Konzert-Eintragungen. Es ist fast so, als ob sich alle Chorleiter, Sportvereinsfunktionäre, Cello- und Klassenlehrer verschworen hätten, die Termine für die Auftritte unserer Kinder in einen möglichst engen und immer ähnlichen Zeitkorridor zu legen. Aber ich will mich nicht beschweren, denn ich sitze bei solchen Events ja nur stolz und aufgedreht auf irgendeinem Hallensitzmöbel, fuchtel mit der Handykamera herum und lächle anderen Eltern zu, deren Namen mir partout nicht einfallen wollen. Die eigentliche Arbeit mit diesen Veranstaltungen haben andere. Warum sollte ich mich also beklagen, wenn sich ein-, zweimal im Jahr die Kindertermine ballen?
Die viel wichtigere Frage ist doch: Warum findet das alles statt? Wem nützt das? Vor allem: Wer hat Spaß daran? Meine Beobachtungen nach inzwischen fast zwei Dutzend Kinderaufführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. Die von den aufführenden Kindern empfundene Freude scheint in der Regel negativ mit ihrem Alter korreliert zu sein. (Unsere Jüngste, 5, ist immer begeistert, wenn sie etwas aufführen darf. Unsere Älteste, 12, schaut kurz vom Handy auf und verdreht die Augen, wenn sie eine entsprechende Anfrage erreicht.)
2. Eltern ist es egal, was die Kinder auf- oder vorführen, Hauptsache, das eigene Kind ist später auf dem Handyfilmchen/-foto gut zu erkennen, und die Veranstaltungs-Logistik gestaltet sich nicht zu kompliziert.
3. Wenn sich Lehrer und andere beteiligte Erwachsene bei den aufführenden Kindern für das tolle Engagement, für Geduld und Ausdauer bedanken, danken sie vor allem sich selbst für das eigene Engagement, für die eigene Geduld und Ausdauer. (Und sie tun recht daran!)
Das klingt jetzt danach, als ob ich Kinderaufführungen in Schule oder Verein, Chor oder Kita geringschätze – das Gegenteil ist der Fall. Ich würde auf keine verzichten wollen. Es ist ein großes Vorrecht, mitzuerleben, wie die eigenen Kinder sich auf ihre großen und kleinen Auftritte vorbereiten, etwas vom Lampenfieber mitzukriegen, die Anspannung, die sich danach in Freude verwandelt. Auch mitzuleiden, wenn mal etwas daneben geht. Überhaupt Anteil zu nehmen an den Musikstücken, die sie wochenlang geübt haben, den Theaterszenen oder Turn-Küren oder Tanz-Choreographien. Im besten Fall sind solche Aufführungen beglückende Erfahrungen für Kinder und Eltern (und auch für die verantwortlichen Lehrer und Trainer).
Es gibt da nur einen Haken: Am beglückendsten sind solche Events dann, wenn Kinder spielen und nicht vorspielen, singen und nicht vorsingen, tanzen und nicht vortanzen, machen und nicht vormachen. Wenn sie selbstvergessen sind und authentisch in ihrem Spiel. Je jünger die Kinder, desto eher gelingt das. Irgendwann lernen Kinder dann aber, Erwartungen zu erfüllen. Zum Beispiel „fehlerfrei“ zu spielen. Ein Instrument zum Beispiel. Oder eine Rolle oder eine Szene. Dabei ist das so ein Quatsch: „Fehlerfrei spielen!“ Wie soll das denn gehen? (Und so geht sie dann plötzlich verloren, die Spielfreude, wenn man nicht aufpasst. Und das Spielen, Singen, Tanzen bekommt eine Vorsilbe.)
Besonders unglücklich ist es, wenn Kinder von Erwachsenen zu Handpuppen gemacht werden, mit denen die Erwachsenen dann in Wirklichkeit ihren eigenen Auftritt haben, ihre eigenen Ziele verfolgen. Mein Onkel musste als Kind die schwülstigen Gedichte seines Vaters im Bekanntenkreis vortragen. Das ist schon ein paar Jahrzehnte her, doch an die Texte und die Beschämung erinnert er sich noch heute. Aber natürlich ist auch unsere Zeit nicht ganz frei von solcherart Machtmissbrauch. Da möchte die Vereinsleitung eine verpflichtende Kinderturn-Aufführung auf der Dorffest-Bühne zwecks Nachwuchswerbung. Da wünscht sich die Musikschule einen kurzen Gastauftritt ihrer Schülerinnen beim Tag der Offenen Tür. Da möchten wir, die Eltern, doch gern, dass die lieben Kinder bei größeren Familienfesten den einen oder anderen musikalischen Beitrag liefern. Natürlich alles freiwillig, irgendwie.
Wenn man die Kinder fragen würde, kämen sie wohl nicht auf die Idee für all diese Auftritte und Vorführungen. Aber was sollen sie tun? Sie spüren ihn schon, den performativen Imperativ, und: Totalverweigerung ist auch keine Lösung. Später – in der Erwachsenenwelt – müssen sie ja noch viel häufiger vortanzen und präsentieren in Kontexten, die sehr viel unangenehmer sind. Da ist es gut, wenn sie schon mal die Erfahrung gemacht haben, dass sie es überleben können. Mit etwas Glück macht es ihnen sogar Spaß. Außerdem bleibt die Zahl der Auftritte eines Kindes über die gesamte Kindheit gerechnet dann doch sehr überschaubar.
Ganz falsch ist es auch, wenn wir Eltern die Verantwortung für Auftritt oder Auftrittsverweigerung bei den Kindern abladen. So in der Art: „Da ist dieses Konzert in der Musikschule. Du kannst da mitmachen oder nicht. Ganz wie du willst.“ Das klingt wie eine sehr aufgeklärte, liberale Haltung, ist in Wirklichkeit aber nur Feigheit oder Faulheit, im schlimmsten Fall Lieblosigkeit. Zugegeben: Wenn ich keine Lust habe auf Überzeugungsarbeit, dann sag ich das auch.
Es ist doch klar, dass Eltern im Zweifel mit einer gehörigen Portion Vorfreude und Begeisterung in Vorleistung gehen müssen, wenn es um Aufführungen des eigenen Nachwuchses geht. Selbst wenn die Vorstellung, wieder einen Samstagnachmittag in einer muffigen Turnhalle zu verbringen statt im Garten, vielleicht keine Endorphin-Ausschüttung auslöst.
Und es gibt noch einen Grund, warum man nicht so schnell den Stab über den Kinderaufführungen brechen sollte: Im Grunde wollen Kinder sich zeigen, sich beweisen, gesehen werden. Mit dem, was sie gelernt oder erreicht haben. Sie wollen damit vor allem von ihren Eltern gesehen werden. Zumindest solange bis ihnen die Likes ihrer Peergroup für irgendwelche Social-Media-Posts wichtiger werden. Und das ist ein wirklich sehr sehr kurzes Zeitfenster.