Die Oma, die beleidigt ist, wenn man beim Essen keinen (dritten) Nachschlag will. Der Onkel, der regelmäßig einen über den Durst trinkt und sich dann zuverlässig mit seinem Schwager in die Haare kriegt. Die Großtante, die schamlos indiskrete Fragen zu Familienstand und/oder Babyplanung stellt.
Hat nicht (fast) jeder von uns eine Person in seiner Verwandtschaft, die ihn regelmäßig auf die Palme bringt? Zugegeben, die obigen Beispiele sind teilweise der Kategorie „Schrulligkeiten“ zuzuordnen und noch kein Grund, sich von der Verwandtschaft loszusagen. Die Oma liebe ich in Wirklichkeit sehr (und ihre Schnitzel auch, ich kann nur nicht zwölf davon essen), den Onkel weniger, und ein Wiedersehen mit der Großtante hat sich kürzlich leider nicht ergeben, so ein Pech, naja, nächstes Mal!
Aber es gibt auch Differenzen, die nur schwer auszuhalten sind: fundamental unterschiedliche Lebensweisen und Weltanschauungen. Ich habe das Glück, dass ich das maximal zwei Mal im Jahr aushalten muss, denn der Großteil meiner Verwandtschaft wohnt in meinem Geburtsland Polen. Gleichzeitig ist die Distanz vermutlich auch mit ein Grund dafür, warum Begegnungen mit dem polnischen Teil der Familie immer so ungeheuer an meinen Kräften zehren: Wenn man sich – nicht nur geografisch – so weit voneinander entfernt hat, dass man sich – nicht nur sprachlich – kaum noch versteht, sollte man sich fragen: Warum tun wir uns das eigentlich an? Warum verbringen wir unsere freie Zeit mit Leuten, mit denen wir Gene teilen, sonst aber nicht viel?
Die Generation meiner Eltern kennt das mit der Verwandtschaft von früher noch so: Man wohnte maximal ein, zwei Dörfer voneinander entfernt. Man traf sich regelmäßig in der Kirche oder auf Familienfeiern, zu denen natürlich auch der letzte Cousin dritten Grades noch eingeladen wurde. Das gehörte sich so. Man half einander – allein schon aus der Denke heraus „Er/sie gehört ja zur Familie.“ Wenn ein Kind geboren wurde, wurden irgendwelche Verwandte zu Paten ernannt, und zumindest seinen zweiten Vornamen erhielt das Kind nach der Tante/dem Onkel, dem Opa oder der Großtante. Nicht nur die direkte Verwandtschaft, sondern auch der erweiterte Kreis mitsamt Schwagern und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen usw. war eine naturgegebene soziale Einheit, die es zu pflegen und zu bewahren galt – unabhängig von Sympathie oder Antipathie.
Heute sieht das etwas anders aus, zumindest bei uns. Gerade im jüngsten Sommerurlaub in Polen ist mir wieder klar geworden: Verwandtschaft ist nicht gleich Familie. Verwandtschaft ist Zufall, kein Schicksal. Und es interessiert mich auch nicht, ob Blut dicker ist als Wasser oder andersherum. Meine polnische Herkunft spielt für diesen Befund auch keine so große Rolle, es soll hier nicht um polnisch-deutsche Unterschiede gehen, sondern um die eigentlich banale Erkenntnis, dass man eben nicht jeden mag. Und das okay sein sollte.
Das Schöne ist ja: Seine Verwandtschaft kann man sich zwar heute immer noch nicht aussuchen, sehr wohl aber seine Nächsten. „Familie“ im eigentlichen, sozial-emotionalen Sinne. Menschen sind viel mobiler als früher, bereits in der Ausbildung lernen die meisten neue Leute kennen, neue Perspektiven. In der Regel gewinnen sie dabei – mindestens Lebenserfahrung und einen weiteren Horizont, nicht selten Freunde fürs Leben. Zumindest uns ist es über die Jahre so ergangen. Dank Messenger und Video-Telefonie können wir selbst Menschen, die sehr weit weg sind, sehr nah sein – ob blutsverwandt oder nicht. Umgekehrt helfen das beste Handynetz und die Worldwide-Flatrate nicht weiter, wenn man dem Menschen am anderen Ende der Leitung nichts zu sagen hat.
Die modernen Wege, Menschen zu begegnen und mit ihnen zu kommunizieren, müssen das Konzept Verwandtschaft/Familie natürlich nicht verdrängen, idealerweise unterstützen sie es. Meine Eltern sind früher mit Zehn-Pfennig-Stücken zur Telefonzelle im Dorf gestapft, um regelmäßig bei der Familie anzurufen. Heute könnten mein Mann und ich unsere unzähligen täglichen Schnappschüsse mit einem Klick an die Verwandtschaft in Oberschlesien weiterleiten, die meisten schicken wir aber nur an Eltern und Geschwister – sowie zwei, drei Chatgruppen mit lieben Freunden. Die Paten unserer Kinder sind meine Schwestern sowie zwei Freunde. Auf der Taufe unseres zweiten Sohnes war niemand aus der weiteren Verwandtschaft, aus organisatorischen Gründen, nachdem die erste Taufe so unglaublich anstrengend gewesen war. Und weil wir den Tag mit den Menschen verbringen wollten, die uns und unserem Täufling am nächsten stehen.
Diese Entscheidung hat erwartungsgemäß die eine oder andere Irritation hervorgerufen. Während die polnische Verwandtschaft sie betont verständnisvoll (in Wirklichkeit aber beleidigt) zur Kenntnis nahm und nie wieder ein Wort darüber verlor, nicht eingeladen worden zu sein, waren vor allem meine Eltern enttäuscht. Selbst wenn der Tauftag auch für sie damit letztlich viel entspannter war als in der Großfamilien-Besetzung: Das gehört sich doch nicht! Insbesondere meine Mutter findet es traurig, dass die nächste Generation ihrer Familie so auseinanderdriftet. Sie ist der Meinung, wir Kinder sollten die Verbindung zum Rest der Familie nicht einfach „wegwerfen“. Dabei würde ich selbst das eher als Loslassen bezeichnen und als eine Art Befreiung. Auch, wenn es gemein klingt: Ich bedauere nichts und vermisse niemanden – außer die Oma und die Schnitzel. Und (nur) deshalb fahren wir sicher wieder hin.