Wir wohnen in der Einflugschneise eines Rettungshubschraubers, und wenn er sich knapp über unserem Dach knatternd in den Himmel schraubt, weiß ich, da ist gerade Hilfe für jemanden unterwegs, der sie dringend braucht. Ist das nicht eine tolle Erfindung? Davon abgesehen behält man in so einem Helikopter stets den Überblick über mitunter chaotisches Geschehen. Und nicht zuletzt habe ich eine Schwäche für Piloten. Also mag ich Helikopter.
Unglücklicherweise hat jemand mit dem Begriff „Helikopter-Eltern“ eine ziemlich gemeine neue Verknüpfung geschaffen. Eine offizielle Definition gibt es nicht, aber dem gängigen Verständnis nach handelt es sich dabei um überfürsorgliche Eltern, die ihr Kind ständig bewachen und es in ihrem SUV am liebsten bis ins Klassenzimmer chauffieren würden (warum sich angesichts dessen nicht der Begriff „SUV-Eltern“ etabliert hat, ist mir ein Rätsel – da käme doch gleich noch viel mehr Hass auf). So ein Erziehungsstil kann nicht gut sein für die Kinder, möchte man meinen, und tatsächlich haben die Autoren einer Studie vergangenes Jahr ein bedrückendes Bild gezeichnet: Indem Kinder von Helikopter-Eltern ständig und vor allem beschützt würden, anstatt eigene Erfahrungen machen zu dürfen, fehle dem Nachwuchs die Grundlage für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung.
Wissenschaftler unter anderem der Uni Yale kommen allerdings in ihrem Buch „Love, Money and Parenting: How Economics Explains The Way We Raise Our Kids“ zu einer viel positiveren Wertung. Demnach bringt die sogenannte Helikopter-Erziehung – verstanden als besonders „bestimmende“ oder „energische“ Auffassung von Kindheit und Erziehung – den Kindern ein Leben lang Vorteile, insbesondere im Hinblick auf Bildungschancen und Beruf. Die Forscher hatten für ihre Untersuchung betrachtet, wie 15-Jährige im PISA-Test abschnitten, und dies mit den jeweiligen Erziehungsstilen und dem Umgang in den Familien in Beziehung gesetzt. Es kam heraus: Je „intensiver“ die Erziehung, je mehr „Helikopter“ also, desto besser die Leistungen der Kinder.
Ich gebe zu, dass mir letztere Untersuchung (vom diskussionswürdigen Studiendesign mal abgesehen) argumentativ zunächst einmal recht gelegen kam. Denn wir haben zwar keinen SUV – darauf lege ich großen Wert – aber je nachdem, wie weit man die Definition des Helikopter-Eltern-Daseins fasst, bin ich wohl auch so eine Helikopter-Mutter. Ein riesengroßer Teil meines Denkens kreist um unsere zwei Söhne (fast fünf Jahre und fast ein Jahr alt) und ihr Wohlergehen, erst recht, wenn sie einmal nicht in meiner Nähe sind. Mein Mann und ich sind schon relativ überzeugt, dass wir am besten wissen, was gut für unsere Jungs ist. Wir versuchen, Ben und Lukas negative Erfahrungen zu ersparen, wo es geht. Wir stehen auf dem Spielplatz nicht direkt unter dem Klettergerüst, aber nie weit weg, auch beim großen Sohn nicht. Wir würden am liebsten immer sofort den Kinderarzt konsultieren, wenn einer von ihnen mal eine etwas härtere Landung hinlegt oder einen komischen Hubbel unter der Haut hat (meistens verkneifen wir es uns allerdings). Als Ben vor ein paar Monaten auf großer Kita-Reise war, konnten wir uns nicht wirklich entspannen.
Andererseits, ganz ehrlich: Bei welchen Eltern ist das nicht so? Ab wann beginnt eigentlich dieses Helikoptern? Es mag unter Eltern heute en vogue sein, sich gegenseitig seine Lässigkeit in Erziehungsfragen zu demonstrieren, nach dem Motto: „Och, der ist robust, der steht gleich wieder auf.“ Aber bei einer schonungslosen Selbstbetrachtung müssten sich wahrscheinlich sehr viele als Helikopter-Eltern bezeichnen – oder eben keiner. Denn wir hängen doch alle ziemlich an unseren Kindern und versuchen, Unheil von ihnen abzuwenden. Das ist auch nicht neu. Oder hat wirklich jemals einer sein Kind auf die Herdplatte fassen oder es auf der viel befahrenen Straße nach dem Ball jagen lassen, „denn sonst lernt es ja nicht daraus“? Klar: Früher gab es kein Handy, kein Whatsapp fürs Abstimmen von Abholzeiten und Treffpunkten und damit auch nicht die Versuchung, mal eben nachzufragen, wo der Junior ist und ob alles in Ordnung ist (keine Sorge, der Vierjährige hat noch kein Handy). Kinder waren den ganzen Tag irgendwo draußen unterwegs und sowohl der Nachwuchs als auch die Eltern haben es in der Regel überlebt. Aber soll man heute auf solche Hilfsmittel verzichten, nur um sich oder irgendjemandem zu beweisen, wie entspannt man ist? Traut ein Kind, das sich beschützt fühlt, sich automatisch selbst nichts zu? Ist die Welt so ein vertrauenswürdiger Ort, dass man sich als Erziehender nur selber lockermachen muss, dann wird alles gut?
Ich bin also geneigt, einen gewissen Grad an „Helikopterei“ zu verteidigen. Dennoch ist mir bei der oben genannten Untersuchung bei näherer Beschäftigung mit dem Thema etwas übel aufgestoßen, und zwar die explizit „ökonomische“ Betrachtung: Es geht um die Folgen des Erziehungsstils speziell für die Leistungsfähigkeit der Kinder – wobei im Buch keine Kausalität bewiesen wird, nur eine Korrelation. Sicher, es wird sich wohl kaum ein Elternteil beschweren, wenn sein Kind im Leben erfolgreich ist. Aber ist das wirklich das Ziel einer (über-)fürsorglichen Erziehung? Es mag naiv von mir sein, aber ich behaupte: Mein Antrieb in der Erziehung, ob überängstlich oder nicht, ist nicht, dass meine Kinder einen Doktortitel und ein dickes Bankkonto haben. Mein Antrieb ist diese unsagbar große Liebe zu diesen kleinen Menschen, die die Natur in mich eingepflanzt hat und der ich ausgeliefert bin. Ich will nicht nur, dass sie am Leben bleiben, sondern auch, dass ihnen niemand etwas Böses zufügt und dass sie glücklich werden, egal in welchem Beruf und in welcher Einkommensklasse. Ich habe das Bedürfnis, dafür alles in meiner Macht Stehende zu tun. Und solange ich dabei niemand Drittem schade, verbitte ich mir Spott und gehässige Kommentare dazu.
Ich weiß aber auch: Die Gefahr ist groß, dass sich meine Motivation um das Thema Leistung/Erfolg erweitert, sobald die Kinder in die Schule kommen, sobald der Leistungsdruck von außen kommt. (Deshalb überlegen wir auch gerade, unseren Großen noch ein Jahr von der Schule zurückzustellen, aber das ist ein anderes Thema.) Natürlich wollen wir dann, dass sie bestehen in einer Welt, in der es immer mehr Ungleichheit zu geben scheint, in der es vermeintlich fast nur noch „die da unten“ oder „die da oben“ gibt und immer weniger Mitte. Die Wissenschaftler selbst legen dar, dass der Hang zum Helikoptern mit dem Grad der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft zunehme. Die Eltern erhöhten den erzieherischen Druck, um zu verhindern, dass ihre Kinder abgehängt werden. Letztlich also auch schlicht aus Liebe zu ihnen. Damit schließt sich der Kreis. Gleichwohl sind Kinder der Untersuchung zufolge gerade dann am erfolgreichsten, wenn ihre Helikopter-Eltern sie nicht autoritär bevormunden, sondern den Nachwuchs autoritativ davon überzeugten, das Richtige zu tun. „Helikoptern light“, sozusagen.
Das zeigt: Eltern haben stets Spielraum in der Frage, wie sie das Helikoptern in der Praxis auslegen und ausleben – ob sie „nur“ beschützen oder kontrollieren, ob sie „nur“ liebevoll mahnen oder bestrafen, ob sie mit Motivation oder mit Zwang arbeiten. Und auch in der Frage, welche Werte und Regeln sie ihnen für den Umgang mit ihren Mitmenschen in der Leistungsgesellschaft vermitteln. Ich traue mir derzeit zu, dass ich meinen Söhnen später, bei aller Fürsorge, keine Whatsapp-Nachrichten in den Unterricht sende, unliebsame Lehrer verklage oder Lückentexte selber ausfülle. Mit dem Stempel „Helikopter-Mutter“ kann ich leben. Aber ich hoffe, mir sagt jemand Bescheid, wenn ich versuche, zugunsten der „Performance“ meiner Kinder rücksichtslos alles aus dem Weg zu räumen, das sich mir oder ihnen in den Weg stellt. Für jene Elternspezies gibt es übrigens auch schon eine Wortschöpfung, die ein eigentlich sehr nützliches Utensil verunglimpft: „Rasenmäher-Eltern“. Gemein, oder? So eine tolle Erfindung.